16 | Gartenpartys
Arvid musste zugeben, dass er einmal mehr überrascht war von Lucinda. Dass sie ihm eine Chance gab, obwohl sie ihm so offensichtlich misstraute, war ein Wunder. Jetzt, wo er sich wieder beruhigt hatte, ging ihm zudem auf, dass sein Hang dazu, sie zu packen und in eine Ecke zu drängen, nicht hilfreich war. Im Gegenteil, es schürte vermutlich nur ihre Vorurteile gegen ihn.
Während er ihr dabei zuschaute, wie sie in einem Topf Wasser erhitzte, um ihnen Tee zu kochen, konnte er immer nur wieder mit dem Kopf schütteln. Er war in einer Familie aufgewachsen, in der Gewalt zum Alltag gehörte. Das war der Grund, warum er sich mit zwanzig davon gemacht hatte. Aber kaum war er wütend oder sah sich selbst in Gefahr, griff er nach genau diesen Mitteln, die er als Jugendlicher so verabscheut hatte. Es war ein dämlicher Teufelskreis, der ihn nur noch wütender auf sich selbst machte.
Mit einem Handtuch bewaffnet griff Lucinda nach dem Topf und kippt vorsichtig das fast kochende Wasser in die zwei großen Becher, die in der Spüle bereit standen. In einem war ein Beutel Schwarztee für sie und in dem anderen ein Beutel Früchtetee für ihn. Dass sie ihm drei Packungen Tee in seinen Rucksack gestopft hatte, musste er am Morgen übersehen haben.
»Also los«, forderte Lucinda ihn auf, nachdem sie seinen Becher auf den Tisch gestellt hatte. Sie selbst setzte sich im Schneidersitz auf das Bett und balancierte ihren Becher vorsichtig mit zwei Händen.
Nickend zog er sich vor und drehte ihn so, dass er zu ihr schaute, ehe er sich darauf niederließ. Er überlegte kurz, unsicher, wo er anfangen sollte. Unsicher, wie weit er ihr wirklich vertrauen konnte. Unsicher, ob sie ihn nicht am Ende doch an seine Familie verraten würde.
»Ich bin kein Kopfgeldjäger«, begann er schließlich nach langem Schweigen. »Ist eh ein veralteter Begriff, aber aus irgendeinem Grund liebt es meine Familie, sich selbst so zu bezeichnen.«
Sofort unterbrach Lucinda ihn. »Die von Thulens sind keine Kopfgeldjäger. Sie arbeiten auf Vertragsbasis mit derselben Regierungsorganisation wie meine Eltern. Aber sie haben den Vertrag nur, weil sie sich an dieselben Spielregeln halten.«
Arvid schnaubte nur. »Willst du meine Seite hören oder nicht?«
Ertappt senkte Lucy den Blick wieder und nickte stumm. Bevor er fortfuhr, nahm er einen kleinen Schluck von dem heißen Tee. »Meine Familie ist seit Generationen in dem Geschäft. Früher waren wir wohl einfach nur normale Auftragsmörder, die für jeden, der genug gezahlt hat, Morde erledigt hat. Organisierte Kriminalität würde man das heute nennen. Mein Großvater hat in den Fünfzigern, als Deutschland nach dem Krieg gerade wieder aufgebaut wurde, einen Kurswechsel verkündet. Seitdem haben wir auch mit der Polizei, dem BND und allen möglichen anderen staatlichen Organisationen zusammengearbeitet.«
Wieder fiel ihm Lucy ins Wort. »Du willst mir weißmachen, dass die deutsche Regierung einfach so mit der Mafia kooperiert hat?«
»Ist das wirklich so unglaubwürdig? Die Fünfziger waren der Wilde Westen hier. Die Amerikaner und die Russen haben versucht, ihr System durchzudrücken, das ganze Land ist zusammengebrochen, weil alle, die was wussten oder konnten, Nazis waren. Die CIA hat den BND unterstützt, der von der Regierung genutzt wurde, um die SPD und andere linke Parteien auszuspionieren. Ganz oben hat man still und leise alte Nazis weiterbeschäftigt, weil man sonst kein Personal hatte. Niemand hat da so genau hingeschaut, Hauptsache war, der Betrieb lief und möglichst viele Rädchen waren geschmiert.« Arvid zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, ob die damals wussten, dass mein Großvater ein Krimineller war. Ich war ja nicht dabei. Fakt ist, seine Arbeit wurde mit Kusshand angenommen und plötzlich waren wir Kopfgeldjäger für wirklich jeden.«
»Okay, okay! Ich brauch keine Geschichtsstunde. Komm zum Punkt.«
Genervt warf Arvid die Hände in die Luft. »Ich versuche nur, Kontext zu geben. Du denkst, meine Familie besteht aus ehrenhaften Menschen, die nur auf Befehl der Regierung gezielte Tötungen vornehmen. Ich versuche dir zu erklären, dass das Bullshit ist und wir schon immer ein Haufen Krimineller waren, die gut darin sind, mit Mord Geld zu machen.«
»Ist ja gut!«, schoss Lucinda defensiv zurück.
Arvid konnte sehen, dass sie ihm immer noch nicht wirklich glaubte, aber sie bedeutete ihm mit einer Hand, dass sie ihm jetzt wirklich zuhören wollte. Seufzend nahm er einen weiteren Schluck vom Tee, ehe er fortfuhr. »Die Zusammenarbeit hat offensichtlich gut geklappt. Meine Familie war reicher denn je und plötzlich konnten wir auch offiziell unseren Reichtum zeigen, weil wir nicht mehr nur im Untergrund gearbeitet haben. Mein Vater zum Beispiel hat als erster in unserer Familie studiert. Und anstatt dann selbst Aufträge anzunehmen, ist er seit den Neunzigern derjenige, der all unsere Finanzen verwaltet. Alles Geld fließt durch seine Hände. Er hat Freunde in der Finanzbranche, die keine Ahnung haben, was für Geschäfte er betreut. Wir sind früher ständig zu irgendwelchen Gartenpartys von anderen Reichen gegangen. Die Vorzeigefamilie mit der Villa und den drei Söhnen, die alle bestimmt eines Tages große Karriere machen werden.«
Er unterbrach sich selbst diesmal und lachte ironisch. »Diese verdammten Gartenpartys. Es waren ausgerechnet diese Partys, die dazu geführt haben, dass ich keinen Bock aufs Familiengeschäft hatte. Kannst du dir das vorstellen? Umgeben von so reichen Schnöseln, die keinen Tag in ihrem Leben hart arbeiten müssen, hab ich mich für meine Familie geschämt. Ich wollte so sein wie die. Reich, weil ich ehrlichen Geschäften nachging. Zumindest hab ich das mit vierzehn geglaubt.«
Lucinda warf ihm ein schräges Lächeln zu. »Jetzt weiß ich, dass du mir ein Märchen erzählst. Welcher normale Mensch findet denn ausgerechnet in dem Tun und Treiben der Schönen und Reichen den Anlass, die eigene Moral zu überdenken und besser werden zu wollen? Das ist definitiv eine dicke Lüge.«
Er hörte das Lachen in ihren Worten und sah, dass ihr Blick wärmer wurde. Gut. Vielleicht hatte er doch eine Chance, sie von seiner Geschichte zu überzeugen. »Naja, was soll ich sagen? Mein vierzehnjähriges Ich hat angefangen, Fragen zu stellen. Das hat meinem Vater nicht gepasst, also hat er mich zu meinem Großvater geschickt, damit ich direkt mit der Ausbildung anfange. Er dachte wohl, wenn ein Junge mal ne Pistole in die Hand nehmen darf, findet der das so cool, dass er alles andere vergisst. Das hat n halbes Jahr funktioniert und dann war ich direkt wieder, wo ich angefangen hab. Ich wollte nicht mitmachen.«
»Du hast mit vierzehn schießen gelernt?« Lucindas Stimme klang ebenso ungläubig wie er sich oft fühlte, wenn er daran zurückdachte. Es war unwirklich.
Anstatt ihr eine Antwort zu geben, nahm er einen Schluck von seinem Tee. Er hatte erst überlegt, ihr Teile der Geschichte zu verschweigen, um besser dazustehen. Doch er spürte, dass er das nicht konnte. Nicht wollte. Er hatte nie jemanden in seinem Leben gehabt, der irgendetwas falsch daran fand, schon Vierzehnjährigen das Schießen beizubringen. Ihre Reaktion hatte etwas in ihm losgerüttelt, das sich jetzt weigerte, sich wieder zu verschließen.
»Ich hab mit fünfzehn das erste Mal auf jemanden geschossen.«
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