Türchen Nr. 21

Ursprung der Erinnerung an Eis und Schnee

Geschrieben von MilchMaedchenJane

Ich liebe Schnee. Obwohl ich vorher noch nie welchen sah, berührte, schmeckte. Noch nie
vorher dem wie ein niedersausender Schmiedehammer lauten und dennoch irgendwie
wohlklingende Knarzen und Knacken lauschte, das entsteht, sobald die schweren
Winterstiefel fast gänzlich in der tiefen, weißen Decke versinken.
Schneeflocken rieseln dagegen still auf mich hinab. Kälter als die eisige Luft treffen sie auf
die wenige nicht von dicken Stoffen und dichten Pelzen bedeckte Haut. Schmelzen nass auf
den Wangen und verfangen sich in dem schütteren Bart eines jungen Zwerglings, der gerade
gestern alt genug wurde, um hinauszugehen, in die große, weite Welt. Der warme, wohlige
Schutz der Familie, umgeben von den blau-glitzernden Wänden der heimatlichen Hallen,
behütete mich die ersten zehn Jahre meines Lebens.
Tief im winterlichen Monat âfnarag, der in der Sprache der Menschen dunkler Mond
bedeutet, denn er symbolisiert die Zeit, in der die Urväter der Zwerge unter den Hängen der
Berge Mittelerdes in tiefen Schlaf verweilten, befinden wir uns. Sein zwanzigster Tag ist
morgen und damit der Beginn einer Festzeit, die mir seitdem ich sie das erste Mal bewusst
erleben konnte, die Liebste ist. Dankbarkeit zeigen wir Zwerge durch mitunter
ausschweifende und langandauernde Festlichkeiten für unsere Schöpfung und das
(Über-)Leben, gewonnene Ernten, die Wärme der Sonne, das erste Grün, Reichtümern, den
Glanz der Sterne, dem Geschenk von Speis und Trank. Aber zu Yule zelebrieren wir die
Wiederkehr des Sonnenlichts nach der längsten Nacht des Jahres, das wir genauso sehr
benötigen und schätzen, wie einjedes gute Wesen. Es ist das wichtigste und meist erwartete
Fest des Jahreskreises. Eine Zeit des Feierns, der Gemeinschaft und des Austauschs, um
den Höhepunkt des Winters zu markieren und die Rückkehr des Lichts zu ehren. Wünsche
werden gesprochen. Versprechungen gegeben. Geschenke ausgetauscht.
Meine beiden Vetter stürmen plötzlich auf mich zu. Sehr viel älter als ich sind sie, dennoch
manches Mal - was sage ich, eigentlich sogar sehr oft – kindsköpfiger in ihren Gedanken und
Benehmen. Verständlicherweise jedoch, denn die Last des Thronerbes liegt schwer auf ihren
jungen Schultern, auch wenn sie nur die Schwesternsöhne König Thorins sind. Daher jede
Gelegenheit nehmen sie wahr, um sich ihrer mit Spielen, Streichen und Schabernack
wenigsten für den Moment zu entledigen. „Komm schon, Gimli, trau dich endlich!“, ruft Kili, der Jüngere der Brüder und greift mit der
dick behandschuhten Hand nach der meinen, um mich mit sich hinaus in die
Schneelandschaft zu ziehen. Ein wenig empört bin ich darüber, dass er damit unterstellt, ich
hätte Bammel weiter als die bisher gegangenen Schritte über die Schwelle der Tür zur
Ebene hinauszutreten. Jedoch ehrlich zugegen muss ich, ein klein wenig bang ist mir
tatsächlich zumute. Alles erstreckt sich so unendlich weit. Keine schützenden Wände um
mich herum. Die Luft brennt kalt in den Lungen und keinerlei Geruch außer dem von Schnee
und Frost liegt in ihr.
Daher recht kleinmütig bleibe ich schließlich stehen und beobachte Fili und Kili nur dabei,
wie sie durch den Schnee toben, den ich vor wenigen Augenblicken noch so faszinierend
liebte. Hoch in die Luft werfen sie ihn, so dass das Sonnenlicht die Eiskristalle zum glitzern
und flimmernd bringt und es beinahe so scheint, als würden Diamanten, die Mahals selbst
mit seiner großen Hand zu kleinen Splittern zerrieb, auf sie hinabregnen. „Möchtet Ihr nicht mitspielen?“ Die Stimme der königlichen Gouvernante Astâ erschreckt
mich, denn obwohl sie sanft spricht, und ich wusste, dass sie uns folgt, da Tante Dís ihr die
verantwortungsvolle Aufgabe überließ auf uns Acht zu geben, rechnete ich nicht damit, dass
sie dermaßen nahe bei mir steht. „Es ist zu ... weit“, rechtfertige ich das Zögern flüsternd vor Scheu, dass sie die Bangnis
missverstehen könnte. Vater lehrte mich früh, dass ein Zwergenkrieger niemals Angst
verspüren darf. Zwar eine treue Freundin meiner Mutter ist Astâ, steht schon seit
Jahrzehnten im Dienst des Königshauses und meine Eltern wie andere wichtige Personen
schätzen Klugheit und Loyalität, wie ich sie einst heimlich von ihr sprechen hörte, allerdings
weitertragen könnte sie die Einschätzung, denn ihre Aufgabe ist es, uns zu furchtlosen und
fähigen Kriegern auszubilden. Sie lächelt jedoch verstehend und betrachtet verzaubert die Anhäufungen von Schnee auf
den Ästen eines nahen Baumes. „Mir ging es dereinst genauso, als ich das erste Mal die
Hallen verließ. Alles wirkte so groß, so mächtig, so unendlich, als würde die Welt keinerlei
Grenzen besitzen, an die ich jemals stoßen könnte, und keine Idee hatte ich davon, was
mich in ihr erwarten wird.“ Sie erzählte von ihren Reisen, die wunderlichen und schrecklichen
Wesen, die sie während dieser sah, die vielen Abenteuer, die sie zusammen mit König
Thorin und Meister Dwalin bestritt. Kaum vorzustellen, dass sie ebenfalls Furcht verspürte,
indes sie ihnen entgegenging. Unverhofften Mut spendet jedoch der Gedanke. Daher einen
forschen Schritt voran setze ich.
Kili und Fili freuen sich sehr, mir endlich zeigen zu können, wie sich ein stattlicher
Schneezwerg bauen lässt, wie Schneebälle geformt und gezielt geworfen werden, wie lecker
Eiszapfen schmecken und wie einmalig das Eis auf dem nahen See singt, sobald wir Steine
darüber rutschen lassen. Bald durchgefroren trotz der dicken Handschuhe sind unsere
Hände und bitterlich kalt die tauben Füße in den fellgefütterten Stiefeln. Gleichwohl nicht hineingehen wollen wir, obwohl die Gouvernante drängt, denn sie sieht wohl die
rotgefrorenen Nasen und wie der Atem in den Bärten zu glitzernden Kristallen erstarrte. „Oh bitte noch eine kleine Weile“, fleht Kili mit großen Augen. „Hoheit, Eure Mutter wird
sich schon Sorgen bereiten“, erwidert sie mahnend, indes mit einem sanften Lächeln. Blickt
dann zum östlichen Horizont, denn obwohl es erst früher Nachmittag sein mag, graut bereits
der Winterabend licht am schneewolkenschweren Himmel. Allerdings oft an diesem Tag
verweilte ihr sehnsüchtig-trauriger Blick in der Ferne, ganz so, als erwartete sie jemanden. „Du wolltest doch aber noch mit uns zusammen einen Yuleklotz aus dem Wald holen.“ Filis
Schmollmund ist herzerweichend, gleichwohl er hat Recht, das versprach sie uns und
fürchterlich aufgeregt waren wir darüber, denn eine ehrenvolle, wichtige Aufgabe ist dies. Extra eine Axt und einen Schlitten brachten wir dafür mit hinaus. Astâ schlägt sich mit der
flachen Hand an die Stirn. Gänzlich vergessen hatte sie dies wohl. Auf einer dem Berg nahen Anhöhe steht ein dichtes Wäldchen. Sie zeigt uns, an welchen
Merkmalen wir die unterschiedlichen Baumarten auch im blattlosen Winter erkennen, deutet,
was für Tiere Spuren im Schnee hinterließen und erzählt, warum es Brauch ist, einem
großen Eichenholzscheit während der Morgen beginnenden zwölf Raunächte zu verbrennen.
Glück soll er bringen, Wünsche erfüllen, die wir auf kleinen Zetteln geschrieben an ihn
befestigen, unsere Gesundheit erhalten oder Leiden lindern, wohlige, hoffnungsvolle Wärme
spenden in der Dunkelheit und das Licht zurückholen.
Tannengrün, Zapfen, rotblühender Salbei und weißbeerige Mistelzweige, mit den die
Stuben geschmückt werden, sammeln wir emsig und laden sie auf den Schlitten, dabei
immer wachsam nach einem geeigneten Stamm Ausschau haltend. Ganz besonders soll er
sein, erklärte sie uns. Wir ihn nicht unbedingt suchen müssen, sondern er uns sicherlich
finden wird.
Jedoch nahe dem Weg halten wir uns, obwohl in diesen Gefilden kaum mit
heimtückischen Angriffen von Orks und Gesindel zu rechnen ist ... so jedenfalls erzählte
mein Vater mir, während er mich zur Tür begleitete. Etwas anderes wird Astâ also dazu
veranlassen, in ständiger Sichtweite der einzigen Straße zum Berg zu bleiben, denn immer
wieder verharrt sie, lauscht, lässt den Blick dorthin gleiten.
Ich schiebe die knochigen Äste eines trotz der Kälte üppig rosafarben blühenden
Winterschneeballs zur Seite, um an eine geeignete Stelle zu gelangen, an der ich einen von
ihnen abschneiden kann, da springt mir plötzlich blitzschnell ein schreckliches Ungeheuer
mit weißem Fell und langen Ohren entgegen. Ich schreie überrascht auf und stolpere ein
paar Schritte zurück, stoße ungesehen an etwas Hartes und falle rücklings darüber. Weich
lande ich zum Glück, denn der Schnee bremst das Aufkommen.
Durch den Schrei alarmiert stehen sofort Astâ, Fili und Kili neben mir. „Was ist
geschehen?“, fragt die Kriegerin, da ob des Schrecks augenblicklich jedwede Attitüde einer adligen Dame wich. Selten bislang erlebte ich dieses geharnischte Gebaren an ihr, nahm
mich Vater doch bisher nur gelegentlich mit auf den Übungsplatz, wo sie pflegt mit Meister
Dwalin oder König Thorin zu trainieren. Jeder Muskel an ihrem Körper scheint angespannt
und hätte sie ihr Schwert dabei, dem Angreifer würde es äußerst schlecht ergehen. „Ich ... ich habe mich nur vor irgendetwas erschrocken, dass mir entgegensprang“,
stammle ich schüchtern und versuche, die spöttischen Lacher von Fili und Kili zu ignorieren,
während sie mir wieder auf die Beine hilft. Ein gestrenger Blick von ihr bringt die Brüder
jedoch schnell zum Schweigen. „Nun, was auch immer es war, das Euch erschreckte, es half
wohl dabei, unseren Yuleklotz zu finden.“ Tatsächlich. Das Ding, über das ich stolperte, war ein dicker Eichenbaumstamm. Der
Schnee, der ihn bis dahin bedeckte, wurde von mir heruntergerissen, so dass nun seine
vollkommen intakte Rinde zu sehen ist. Perfekt ist er, jedoch ein wenig zu lang, denn ein
mächtiger in lichter Höhe wachsender Baum, der dennoch wohl einem der Herbstürme nicht
mehr trotzen konnte, war er einst.
Die genau dafür mitgeführte Axt liegt schwer in ihrer Hand. Dem Umgang mit dem Schwert
ist sie gewohnt und in ihm trainiert, daher nur selten mit dieser Art von Waffe kämpft sie, gilt
sie doch zudem als ungebührlich für eine Kriegerin. Dennoch mächtig ist der erste Schlag
und präzise weitere. Das harte Holz splittert und bricht unter der Wucht der scharfen
Schneide. Gleichwohl nur langsam dringt sie immer tiefer hinein. Bald schon ist sie außer
Atem und muss eine Pause einlegen, indes am Horizont rasch Dunkelheit heraufzieht. Nicht
klug ist es, während ihrer völlig ungeschützt draußen zu bleiben.
Jählings noch kälter wird es, als die ersten Schatten der Nacht mit langen Fingern
zwischen die Bäume kriecht. „Wir sollten nach Hause gehen“, drängt sie. „Lasst uns morgen
wiederkommen und ihn holen.“
„Aber Morgen ist schon Yule und heute Abend muss der Scheit geschmückt werden“,
mahnt Fili zur Einhaltung des Brauchs. Sie weiß darum, dennoch, unsere Sicherheit ist ihr
in jeder Hinsicht wichtiger. „Es wird schnell dunkel, daher müssen wir zurück. Es wird noch
einige Schläge benötigen, bis ich ihn gespalten habe, und diese Zeit fehlt uns.“ Streng klingt
ihre Stimme. Eindringlich und keinen Widerspruch zulassend. Als Rechte der Hand des
Königs besitzt sie eine gewisse Autorität und vermag auch in manchen Situationen über die
Prinzen zu befehlen. „Dann übernehmen wir das eben.“ Eine tiefe, sonore, kriegerische Stimme dringt durch
den Wald. Sie lässt uns zusammenzucken, jedoch nur flüchtig und keinesfalls ängstlich, denn als die Ihrer Majestät erkennen wir sie sofort. „Onkel Thorin!“, rufen Fili und Kili und
stürmen auf die zwei Schatten zu, die aus dem Dunkel zwischen den Bäumen heraustreten.
Froh zurück zu sein von seinem kurzen wenn auch bedeutenden Staatsbesuch in einen der
benachbarten Zwergenreiche, bei dem ihm nur Meister Dwalin als Leibschützer begleitete,
schließt er beide Jungen fest in die Arme. Ihren Vater verloren sie vor vielen Jahren und wie selbstverständlich nahm König Thorin seinen Platz ein. Sie lieben und verehren ihn genauso
mit Herz und Seele, wie er sie liebt und verehrt.
Astâ neben mir senkt respektvoll ihr Haupt und trotzend der Dunkelheit kann ich erkennen,
wie ein herrlich anzusehendes Lächeln ihr Antlitz bezaubert. Nicht ausschließlich bloße
Freude über ihre gesunde Rückkehr bekundet es. Ich hörte einmal, wie mein Vater sich mit
seinem Bruder darüber unterhielt, dass sie, König Thorin und Meister Dwalin durch ein
besonderes Band miteinander verbunden sind. Niemand ohne den anderen auskommt. Ihre
Beziehung zueinander über bloße Freundschaft, und sei sie noch so vertrauensvoll,
hinausgeht und das Segen und Fluch zugleich darin liegen. Was auch immer dies heißen
mag, augenblicklich spüre ich, wie ebendieses durch die Reise strapazierte aber niemals
gänzlich getrennte Band wiedererstarkt und welche Macht in ihm steckt. „Willkommen zurück, Majestät“, begrüßt sie unseren König mit gebührendem Ehrfurcht, als
dieser auf uns zuschreitet. Auch in seinem Angesicht bewirkt ihr Anblick ein freudiges
Lächeln, das mehr auszudrücken vermag als selbstverständliche Zufriedenheit über die
unversehrte Heimkehr. Einen Moment scheint es mir, als wolle er sie in die Arme schließen,
ihr sagen, wie sehr er sie vermisste, besinnt sich jedoch darauf, dass seine Neffen und ich
anwesend sind und dies ungebührlich wirken könnte. Behutsam nimmt er ihr schließlich die
Axt aus den Händen, um schnell zu beenden, was sie gut begann. „Ihr hattet Glück, dass wir euch in der heraufziehenden Dunkelheit so tief im Wald
überhaupt entdeckt haben“, rügt er sie mit sanfter Stimme dafür, so spät und dann noch mit
uns Kindern in der Wildnis herumzuziehen. Nicht bestrafen wird er sie, da bin ich mir sicher,
gleichwohl senkt sie schuldbewusst den Blick, währenddessen er mit erhabenen Schritten an
ihr vorbei zum Baumstamm schreitet.
Anders als ihre Majestät begrüßt sie nachdem Meister Dwalin. Der Krieger, der, so
prophezeite mir mein Vater, auch mich zukünftig trainieren soll, schließt sie in seine starken
Arme. Fest und sicher und glücklich ob des wohlbehaltenen Wiedersehens. Keine Worte
tauschen sie jedoch. Nicht nötig scheint dies, um sich gegenseitig zu bekunden, wie sehr sie
sich vermissten und nun über die Rückkehr freuen.
Nur wenige wuchtige Schläge benötigen beide Männer, um den dicken Baumstamm zu
zerteilen, so dass ein beachtlich anzusehender Scheit aus seiner Mitte herausgelöst wird.
Zwölf Nächte muss er brennen, damit das Glück im neuen Jahr Einzug halten und das Licht
zurückkehren kann, so verlangt es der alte Brauch. Schwer schleppen sie an ihm und eines
ihrer Ponys spannen wir vor den Schlitten, um ihn durch den hohen Schnee zurückzuziehen.
Später am Abend sitzen wir Kinder vor dem Kamin, in dem er geschmückt mit Tannengrün,
Beeren, Zapfen und Kräuterbündeln für die morgige erste Rauhnacht bereitliegt. In den nach
einem Bad wieder warmen Händen halten wir eine dampfende, samten-schokoladig
riechende Tasse heißen Kakao und lauschen Onkel Balins Geschichte über den goldenen
Hirsch und wie er einer verzweifelten Mutter dabei half, ihre von einer bösen Hexe zu Rehlein verzauberten Kinder im tiefen, dunklen Wald wiederzufinden. Zu Sonne, Mond und
Wind ging sie auf sein Anraten, jedoch letztendlich ihr Herz wies ihr den richtigen Weg und
ihr unbedingter Mut und die Liebe, konnte den Zauber brechen.
Herrlich war dieser Tag im glitzernden Schnee. Mein eigenes kleines Abenteuer erlebte
ich, auch wenn es euch banal schien. Sah so viel Neues und Bezauberndes. Unsterblich
wird die Erinnerung an jeden Moment in meinem Herzen verbleiben, egal was einmal geschehen wird.

--Ende--

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