Türchen Nr. 20
Frieden
Geschrieben von Varda_92
Neugierig spähte der junge Heilergehilfe durch das Sichtfenster der hölzernen Tür in das Zimmer des Patienten, dem er und sein Mentor heute das Essen bringen sollten.
Seinem Blick offenbarte sich ein kleiner Raum mit kahlen Steinwänden und Fenstern, die auf die verschneite Stadt hinaus und dann weiter in den freundlichen Süden blickten. Sie waren vergittert. Ursprünglich hatten bestickte Wandteppiche dem Raum etwas Gemütlichkeit verschafft. Doch der hier Gepflegte hatte sie in einem Wutanfall herunter gerissen. Der Boden war mit einem zerschlissenen Teppich bedeckt und das einzige Möbelstück war ein einfaches Holzbett, mehr eine Art Pritsche.
Auf dem Bett kauerte eine Gestalt. Es war kein Mensch, wenn auch menschenähnlich. Fast völlig nackt, bis auf einen einfachen Lendenschurz, mit ein paar wenigen grauen Strähnen auf dem Kopf und dürren Gliedern. Ein paar uralte, traurige Augen stierten ins Leere, Gedanken nachhängend, die keiner der beiden Heiler vor der Tür erraten konnten.
Man erzählte sich in den Häusern der Heilung, dass dieses Wesen, das auf den Namen Gollum hörte, zu lange unter dem Einfluss des Feindes gestanden hatte. Und dennoch sollte es einen wichtigen Beitrag zu dessen Fall geleistet haben. König Elessar hatte gesagt, dass man in seiner Schuld stünde und man versuchen sollte, Gollum zu helfen.
Klirrend drehte sich der Schlüssel und Gollum schreckte in die Höhe, als die beiden Menschen eintraten, in den Händen ein Tablet mit Essen. Roher Fisch, denn etwas anderes aß Gollum trotz aller Bemühungen nicht. Auf eine Idee hin hatte man jedoch heute eine Schüssel mit Fischsuppe dazugegeben. Vielleicht würde es so gelingen, diese ausgehungerte und geschwächte Kreatur etwas aufzupäppeln?
Gollum fauchte und spuckte, als die zwei Menschen sich ihm näherten. Mit gekrümmtem Buckel hockte er auf dem Bett, die Augen leuchtend vor Hass.
Der Gestank, der ihnen entgegen schlug, war barbarisch. Vollkommen verwahrlost war ihr Patient. Allen Versuchen, ihm ein Bad angedeihen zu lassen, hatte er sich kreischend widersetzt. In fettigen Strähnen hing das wenige Haar vom Haupt, die Haut war schmutzig und faltig und der Lendenschurz starrte vor Dreck.
„Wassss wollen sie, mein Schatz?“, zischte er, mehr mit sich selbst redend als mit ihnen. „Bringen Essen, ja ja…. Vergiften wollen sie uns sicher, ja vergiften! Böse Menschen! Mein Schatz…. Ja, böse Menschen… Was wollen sie mit uns….“
Argwöhnisch beäugte er die beiden Menschen, die vorsichtig das Essen vor ihm auf dem Boden abstellten und sich dann entfernten.
Die Tür fiel wieder ins Schloss und einen Moment beobachteten die zwei ihren Patienten, der nun misstrauisch schnüffelte, zur Tür schielte und noch immer leise vor sich hin murmelnd, vom Bett stieg und sich auf allen vieren dem Essen näherte. Vorsichtig roch er erst an dem Fisch, dann an der Suppe. Dann, mit einem plötzlichen Aufschrei, packte er die Schüssel und warf sie gegen die Wand.
Neben dem jungen Gehilfen seufzte der Heiler schicksalsergeben. „Es bleibt bei rohem Fisch…“, murmelte er und die beiden setzten ihren Weg fort.
Gollum hockte eine Zeit lang vor dem Fisch, den man ihm gebracht hatte und wiegte sich hin und zurück.
„Fisch…“, murmelte er, „Fisch… Mein Schatz… Netter Fisch… Können wir ihn essen? Können wir?“
Eine Weile kämpften Misstrauen und Hunger miteinander und er kaute unsicher auf seinen schmutzigen Fingernägeln.
Irgendwann dann grollte der Magen doch zu sehr und mit raschem Griff schnappte er sich alle drei Fische und huschte zurück auf das Bett. Gierig schlang er den Fisch hinunter und kroch dann unter eine der Flickendecken, die auf dem Bett lagen, seinen eigenen Gedanken nachhängend.
Unstet wanderte der Blick seiner wässrigen Augen zum Fenster hinüber, an dem Schneeflocken vorbei trudelten und kalter Winterwind an den Läden rüttelte.
Doch so recht sah er es nicht, denn Erinnerungen zogen an seinem inneren Auge vorbei. Der Feuerberg… Rauch und Asche und Feuer… Der Meister am Abgrund… Er hatte den Ring in seinen Händen gehalten… und dann war er ihm entglitten!
Ihm entfuhr ein Wimmern. Er hatte den Schatz nicht beschützt! Er hatte sein Versprechen gebrochen!
„Fort…“, wimmerte er voller Qualen, „fort ist der Schatz. Unser Schatz, wir können ihn nicht haben!“ Zitternd wiegte er sich vor uns zurück.
„Eingesperrt haben sie uns, mein Schatz… Ja… Eingesperrt, nichts getan haben wir!“, murmelte er, sich zu einer kleinen Kugel einrollend und fuhr mit zitternden, runzeligen Fingern über seinen Kopf.
Doch er hatte etwas getan, er wusste es genau.
Entschlossen hatten seine Finger sich um den Hals geschlungen… Zugedrückt in kaltem Hass, während sein Opfer sich unter ihm gewunden hatte.
„Mein Geburtstagsgeschenk, mein Schatz. Er war unser, unser!“, versicherte er sich selbst und setzte sich wieder auf, „Ja, ja, wir konnten nichts dafür, er hätte ihn uns geben sollen“ Bestätigend nickte er, das grüne Licht in seinen Augen fast wieder vollkommen erstarkt.
„Und gestohlen haben sie ihn uns! Beutlin! Wir hassen Beutlin!“ Voller Hass ballte er die Fäuste und spuckte auf den Boden.
„Sie haben den Schatz zerstört! Sie haben uns gezwungen!“
Flackernd wurde das grüne Funkeln mit einem Mal schwächer. „Nein… Nicht der nette Herr. Nette Hobbits. Nette Menschen… Geben uns feinen Fisch, müssen wir nicht im kalten Schnee nach Fisch suchen.“
Er schüttelte den Kopf, doch im nächsten Moment bleckte er schon wieder die Zähne.
„Sie sperren uns ein! Sie mögen uns nicht! Sie hassen uns! Wir hassen sie! Und der Schatz ist fort… Der Schatz ist fort!“
Tränen flossen über das faltige, alte Gesicht. Das grüne Flackern erstarb völlig und Gollum sackte kraftlos auf dem Bett zusammen. So müde und elend war ihm.
„Wir sind allein, mein Schatz“
In dichten weißen Wirbeln fielen die Schneeflocken vom pechschwarzen Nachthimmel über Minas Tirith, als der Heilergehilfe am Abend heimwärts eilte. Dicht eingepackt in Filzmantel und Wollschal hatte er sich, Wangen und Nase gerötet von der für Gondor ungewöhnlich kalten Winterluft.
Es war der Vorabend des Lichterfestes, welches anlässlich der Wintersonnenwende gefeiert wurde. Freundlich und warm flackerte Kerzenschein aus dem Inneren der Wohnhäuser, an denen der Junge vorbei eilte, voller Vorfreude auf den heimischen Kamin und das gemütliche eigene Bett. Buntes Spielzeug aus Holz, Papier und Filz hatte man in die Fenster gehängt, wo sie von zarten Eisblumen in kunstvollem Muster umrahmt wurden, welche nun in der klirrenden Kälte gediehen, die von den Bergen herabkam.
Die Gedanken des Jungen weilten jedoch noch immer in den Häusern der Heilung, bei Gollum. Abstoßend und befremdlich war die Kreatur und niemand hatte einen Zugang zu ihm gefunden. Ekel überkam ihn bei dem Gedanken an den Gestank, der den Raum erfüllte, in dem Gollum lebte. Und dennoch… Mitleid regte sich in ihm. Was musste dieses Wesen alles erlebt und erduldet haben, um so entstellt worden zu sein? Hatten sie überhaupt ein Recht, über Gollum zu urteilen?
Knarzend öffnete sich die Tür zu seinem Zuhause, als er endlich ankam und verfroren ins Warme huschte. Blubbernd kochte ein Eintopf über dem Feuer, wo Mutter und Geschwister ihn freudig grüßten. Der Vater jedoch war im Krieg gegen den dunklen Herrscher gefallen. Schwere Zeiten hatte die Familie durchlebt, voll Trauer und Angst vor der Zukunft. Doch dann hatte er eine Stelle in den Häusern der Heilung gefunden und mit diesem Lichterfest kehrte nun auch die Hoffnung auf ein neues Leben in ihrem Heim ein.
Noch immer in Gedanken bei Gollum hängte er seinen Mantel an den Kamin, um diesen zu trocknen, als sein Blick auf den Küchentisch fiel, wo das traditionelle Gewürzbrot schon in Scheiben geschnitten bereit stand.
Ein weiteres Mal war die blasse Wintersonne über Minas Tirith gezogen, welches einem äußerst schneereichen Lichterfest entgegen blickte.
Frierend kauerte Gollum unter mehreren Decken auf seinem Bett. Ganz müde und kalt war ihm, obwohl er hier die Nächte ungestört schlafen konnte. Doch schwach war er geworden.
Eingerollt wie ein verwundetes Tier lag er da, zitterte und murmelte sich leise tröstend selbst zu.
Da wurde mit einem Mal der Schlüssel im Schloss umgedreht und sofort war er hellwach. Zischend zog er sich tiefer unter seine Decke zurück, aufs Äußerste angespannt. Der Junge trat ein. Alleine war er und trug einen Teller mit Fisch, sowie ein kleines Päckchen bei sich.
„Geh weg! Lass uns in Ruhe, mein Schatz!“, fauchte Gollum. Nur seine Augen blinkten wie grüne Laternen unter der Decke hervor und fixierten den Jungen voller Hass, „Wir drehen ihm seinen kleinen Hals um, ja, ja mein Schatz.“
Ungeachtet der Drohung schloss der Junge die Tür hinter sich und trat an das Bett heran. Eine Spur von Wachsamkeit konnte Gollum in seinem Blick erkennen. Argwöhnisch lugte er unter der Decke hervor, fauchte und spuckte drohend.
„Ich habe dir Essen gebracht“, sagte der Junge und stellte den Teller hin, „Hier hast du deinen Fisch und… vielleicht“, er schlug das Päckchen auf und ein süßer Duft kroch in Gollums Nase, „vielleicht magst du etwas Gewürzbrot haben? Meine Mutter backt es immer im Winter.“
Er legte das Päckchen hin und zog sich dann ein kleines Stück zurück, wo er sich auf den Teppich setzte.
Einen Moment herrschte Stille, Junge und Kreatur fixierten einander, während draußen die Nacht herein brach.
„Was will es von uns, mein Schatz?“, flüsterte Gollum leise mit sich selbst. Er blickte auf das Essen, welches der Junge gebracht hatte. Verlockend roch es. Doch Hunger hatte er keinen. Zu schwach und müde fühlte er sich und wieder wurde ihm kalt.
Vorsichtig schob er den Kopf unter den Decken hervor und sah zu dem Besucher hinüber.
„Heute ist Lichterfest“, begann der Heilergehilfe plötzlich zu erzählen, „Kennst du das? Wir feiern die kürzeste Nacht des Jahres. Ab morgen werden die Tage wieder länger werden, dann ist der Winter bald vorbei. Kerzen werden aufgestellt und große Feuer entzündet. Lieder werden gesungen und alle Häuser geschmückt.“
Müdigkeit kroch durch Gollums Glieder. Seine Augen, nun nur noch alt und traurig, sahen zum Fenster hinüber, an dem erneut Schnee vorbei trudelte. Und da, hörte er da Musik? Erklang da draußen in der Stadt Gesang?
„Schon Tage vorher backen und kochen alle, damit zum Fest die ganzen wunderbaren Leckereien bereitet sind. Die Alten erzählen Geschichten am Kamin und der Duft nach Gewürzen zieht durch die Gassen.“
Nun wurde die Neugier doch größer als sämtliches Misstrauen und Erschöpfung. So tastete Gollum nach dem Früchtebrot und brach ein winziges Stück davon ab, welches er sich langsam in den Mund schob. Und da war ihm auf einmal, als würde er aus weiter, weit entfernter Vergangenheit die Stimme der Großmutter hören, die ihn rief. Smeagol…
Verwundert hielt er inne, einen Ausdruck des Staunens auf dem Gesicht. Mit einem Mal konnte er die Festlichter vor sich sehen, die geschmückten Bäume und Häuser, hörte die Lieder und Geschichten der Großmutter und roch das köstliche Gewürzbrot, welches sie aus dem Ofen zu holen pflegte.
So lange war es her und so fern. Vergessen hatte er dieses Leben lange Zeit, versunken war es in schwarzen Schleiern und nun tauchte es wieder vor ihm auf. Der Schatten wich. Und er war so müde, zu müde.
Sein Blick glitt zu dem Heilersjungen hinüber, welcher schweigend bei ihm saß. Matt ließ er sich zurücksinken und rollte sich ein. Schwer atmete er ein und aus. Draußen sangen die Menschen den Göttern Dank. Jede Nacht würde enden und das Licht am Ende doch siegen. Tiefe Mattigkeit erfüllte seine Glieder und ein Gefühl längst verloren geglaubten Friedens erfüllte Smeagol, als er seinen letzten Atemzug tat.
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