Türchen Nr. 14


Geschrieben von Lithilia

Bungo Beutlin rieb sich die Hände. Er hatte schon viele Winter erlebt, aber dieser war mit Abstand der
kälteste. Die kalte Luft kroch unter seine dicken Kleider und hinein in die Knochen. Gedanklich sehnte
er sich schon wieder an sein warmes Kaminfeuer zurück. Seine Frau hatte heute Abend einen Braten
machen wollen, aber dieses Festmahl würde nun vermutlich ausfallen müssen. Denn sie hatten andere
Probleme. Bilbo war verschwunden. Der Junge trieb sich gerne in den Wäldern des Auenlandes
herum, aber all seine Freunde waren bereits heimgekehrt. Angeblich hatte er noch bleiben wollen.
Doch nun schneite es so heftig, dass Bungo fürchtete, sein Sohn könne sich verirrt haben.
Bilbo war schon immer sehr abenteuerlustig gewesen, vor allem, seitdem ihm Gandalf, der wandernde
Zauberer, von der Welt außerhalb der Grenzen des Auenlandes berichtet hatte. Vermutlich viel zu
romantisiert. Gandalf war ein angenehmer Geselle und war schon viel herumgekommen. Er kannte die
Hobbits gut, aber teilte ihre Lebensweise nicht. Sie hatten nichts mit der Welt zu tun. Nur sich, ihre
Familien, einen schönen Garten, ein paar Bücher zum Lesen und natürlich das gute Essen. Mehr
brauchte es nicht zum Leben. Von all den Reichtümern dort außen in der Welt wollte Bungo nichts
wissen. Reichtum durch Gold oder Edelsteine brachte nur Gier und Unglück mit sich.
Er nahm sich vor Bilbo wieder ein wenig mehr in die Gesellschaft der Hobbits miteinzubinden.
Natürlich hatte er hier seine Freunde, aber mit seiner Freude an neuen Abenteuern, würde er diese nur
noch weiter damit anstecken. Wenn Bilbo im Erwachsenenalter in die Welt hinausziehen würde wer
erbte dann Beutelsend? Bungo hatte diese große, geräumige und auch ein wenig luxuriöse
Hobbithöhle extra für seine kleine Familie gebaut. Und sie durfte auf keinen Fall an die
Sackheimbeutlins gehen. Um nichts auf der Welt. Dieser gierige Haufen hatte es schon lange auf das
Erbe abgesehen, das seine Frau Belladonna in die Ehe mitgebracht hatte.
Der Wind pfiff ihm um die Ohren und er zog leicht die Schultern noch. Zwar war sein Hals durch
einen dicken Schal geschützt, aber gegen die eisige Kälte kam das nur bedingt an. Laut heulte ihm der
Wind um die Ohren und er wandte dem alten Tuk seinen Blick zu. Sein Schwiegervater schien wie
erstarrt. Konzentriert starrte er durch das Schneegestöber. Dann erklang das Heulen wieder, gefolgt
von einem lauten Dröhnen. Jedes einzelne Haar seiner pelzigen Füße stellte sich in diesem Moment
auf. Das war das Horn von Bockland. Wann immer es ertönte hieß das nur eins: Gefahr. Und gerade
jetzt war sein einziger Sohn verschollen.
Konzentration. Darauf musste er sich nun besinnen. Denn schließlich hatten sie, wie es aussah, noch
ganz andere Probleme. Aber welche, das wusste er noch nicht. Zusätzlich zu dem Dröhnen des Horns,
begann nun auch wieder der Wind zu heulen und...
„Das ist nicht der Wind", sprach der alte Tuk neben ihm. Als er seinen Kopf drehte erkannte Bungo
die Angst im Blick.
„Wölfe. Frag mich nicht, woher sie kommen. Ich vermute mal, dass der Brandywein durch diese
erbitterte Kälte zugefroren ist. Wir müssen uns schützen. Mit Flammen und spitzen Stöcken. Die
Bauern sollten wir auch hinzuziehen. Mit der Abwehr von wilden Tieren oder auch Störenfrieden
kennen die sich noch am besten aus."
Bungo Beutlin nickte abwesend. Sein Schwiegervater verstand deutlich mehr davon. Schließlich war
er mit Gandalf dem Grauen befreundet und der hatte sich schon in jedem Eck der Welt
herumgetrieben, viel gesehen und erlebt. Und nicht allzu selten erzählte er davon. Besonders Bilbo
lauschte diesen Geschichten gern und eben auch der alte Tuk. Dass sie jemals von diesem Wissen
Gebrauch machen konnten, hätte er sich nicht erträumen lassen. Schließlich war das Auenland so
abgeschieden. Die Hobbits hielten sich aus den Problemen der restlichen Welt heraus und waren auch
in Frieden gelassen worden. Ein Friede, den ein jeder hier auch weiterhin wahren wollte.
„Meister Tuk! Kommen Sie! Schnell!", ertönte da die Stimme von Atto Diggel, einem der Landbüttel
des Auenlandes. Sein Pony schnaubte leise, als er es zum Stehen brachte. Er war für die Bewachung
der Grenze zuständig. Bungo verfolgte, wie sich die Augen des alten Tuks zusammenzogen. Es schien
ihn zu verärgern, dass dieser seinen Posten verlassen hatte. Doch dann erkannte er, dass sich sein Schwiegervater nicht deshalb so angespannt hatte, vielmehr aufgrund der kleinen Person, die vor
Herrn Diggel im Sattel saß.
Bilbo zitterte am ganzen Leib, als der Landbüttel ihn auf seinen Großvater zuschob. Schweigend, aber
mit leichterem Herzen bezog er daneben Stellung. Einerseits wollte er den Jungen packen und
schütteln, aber gleichzeitig auch ganz fest umarmen, da er heil zurückgekehrt war.
„Er hat sich bei Froschmoorstetten im Wald herumgetrieben, als ich ihn fand. Außer einem Schock ist
nichts Schlimmes passiert...zumindest mit ihm."
Dankend wandte Bungo sich von Atto Diggel ab und zu seinem Sohn. Der schlotterte am ganzen Leib,
jedoch nicht vor Kälte. Seine Augen waren so weit aufgerissen, dass er in ihnen das Weiße erkennen
konnte. Sein neugieriger, abenteuerlustiger, aber auch mutiger Junge war nicht mehr
wiederzuerkennen.
„Der Brandywein ist zugefroren. So dick, dass er selbst einen ausgewachsenen Menschen tragen
könnte und auch andere Wesen", die Stimme des Hobbits war leiser geworden. "Weiße Wölfe aus dem
Norden. Sie müssen aus Forochel hergekommen sein, in dieser Einöde dort oben gibt es nahezu nichts
für sie. Lang-Cleeve wurde schon überfallen. Sie haben vier Hühner gerissen und einen Weidezaun
durchbrochen. Auch im Bindwehwald will man sie schon gesehen haben. Es muss ein ganzes Rudel
sein. Die Zahl der Tiere konnte man bisher nicht schätzen."
Der alte Tuk schien einen Moment lang stillzustehen. Dann warf er Bungo einen Blick zu. Dieser hatte
noch immer Bilbo in einer Umarmung und strich ihm über den Rücken, um den Jungen zu beruhigen.
„Nimm deinen Sohn, bring ihn nach Hause und komm dann wieder."
Als Bungo mit Bilbo durch die runde Tür von Beutelsend trat, flog Belladonna ihnen förmlich
entgegen. Fest umarmte sie ihren gemeinsamen Sohn und geleitete ihn in die Küche, um ihm warmen
Tee aufzubrühen. Der Junge schwieg und starrte aus dem Fenster. Das war ein Schreck fürs Leben.
Ein klein wenig hoffte Bungo sogar, dass dieses Erlebnis die Abenteuerlust seines Sohnes vertrieben
hatte.
Nicht viel später hastete er den Weg zurück, hinunter ins Dorf. Viele der Hobbits hatten sich in ihre
Häuser zurückgezogen. Nun war er doch darüber froh, dass Belladonna ihm noch ein wenig von der
gestern übriggebliebenen Gemüsebrühe aufgedrückt hatte. So schnell würde er vermutlich nicht
zurückkehren.
Schon von weitem konnte er die tanzenden Flammen vieler Fackeln erkennen. Der alte Tuk hatte etwa
zwanzig Hobbits um sich versammelt. Alle hatten sie ihre Blicke auf ihn gerichtet. Niemand sprach.
Anspannung und Furcht lagen in der Luft. Und immer wieder hörte man das Heulen der Wölfe. Ihm
schauderte. Doch er musste sich zusammenreißen. Seiner kleinen Familie und all den anderen
schutzbedürftigen Hobbits zuliebe.
„Verteilt euch um das Dorf. Macht kleine Feuer und haltet sie damit fern. Wenn das nicht hilft, nehmt
den Lavendel und verbrennt ihn. Der Geruch ist unangenehm für die Nase eines Wolfes. Im Norden,
Süden, Westen und Osten, sitzt einer der Landbüttel mit Hund. Die wissen noch am ehesten, wann die
Wölfe eintreffen und können euch vorher warnen. Haltet euch immer hinter den Feuern auf und
wechselt euch mit der Wache ab. Tagsüber werden wir Hobbingen Stück für Stück weiter befestigen.
Unsere Höhlen werden wir auch verstärken. Für den Fall, dass sie es ins Dorf schaffen, sollen sie es
auf keinen Fall einfach haben. Sagt den Leuten, dass sie sich bewaffnen sollen. Ganz gleich ob mit
Harke, Speer oder Küchenmesser. Und dass, wer kann, Netze knüpfen soll. Wir werden auch Gruben
ausheben und abdecken. Sollen diese Wölfe nur kommen. Wir können uns wehren."
Entschlossenheit breitete sich auf den Gesichtern der Umstehenden aus. Der alte Tuk nickte ihnen zu
und sie begannen sich zu zerstreuen. Ein jeder von ihnen ging seiner Aufgabe nach. Schließlich winkte
der alte Tuk ihn zu sich.
„Sei so gut und statte meiner Tochter Mirabella einen Besuch ab. Sag ihr, sie soll sich mit den anderen
Dörfern des Auenlandes in Verbindung setzen und das weitergeben, was ich gesagt habe. Vielleicht
wird sie auch schon von den anderen Dörfern Nachrichten bekommen haben."
Bungo kannte Mirabella gut. Schließlich war sie die kleine Schwester von Belladonna. Mit einem
Nicken verabschiedete er sich von seinem Schwiegervater und schritt von dannen. Mirabella wohnte
in einer kleinen, aber feinen Höhle. Sie befand sich am südlichen Rand von Hobbingen. Licht brannte,
als er das kleine Gattertor öffnete und dann klingelte. Lautes Gepolter ertönte, ehe ihm Gorbadoc
Brandybock, der Ehemann von Mirabella öffnete. Er war ein etwas beleibter Hobbit, was ihm den
Beinamen Breitgürtel eingebracht hatte. Ein angenehmer Geselle, der nicht allzu selten Streitigkeiten
im Dorf schlichtete.
„Mirabella ist im Taubenschlag", sagte er, als hätte er Bungos Gedanken bereits gelesen. Erst dann sah
dieser, dass der Brandybock in voller Montur war. Von den Knöcheln bis zu den Haarspitzen steckte
er in warmer Kleidung. In der Hand hielt er eine lange Harke.
„Ich mache mich gleich auf die Socken. Wo meine Hilfe gebraucht wird, unterstütze ich gerne.
Schließlich wollen wir da alle wieder heil herauskommen", sprach er, schloss die Tür hinter sich und
ging seines Weges.
„Es war nur eine Frage der Zeit, dass mein Vater jemanden schickt", sagte Mirabella, als Bungo
eintraf. Sie hielt ein paar Streifen Pergament in der Hand. „Gib ihm das und komm dann mit seiner
Antwort zu mir. Bestimmt hat er dir aufgetragen, mir etwas auszurichten."
Nicht ganz wortgetreu, aber wahrheitsgemäß gab Bungo die Anordnungen des alten Tuks an dessen
Tochter weiter. Etwas, das er in den nächsten Tag auch immer wieder machen würde. Ganz gleich wie
heftig es stürmte oder bitterkalt es war. In einer Nacht fielen die Schneeflocken derart dicht vom
Himmel, dass Mirabella es nicht wagte ihre Tauben loszuschicken. Die Kommunikation mit den
anderen Dörfern des Auenlandes verlief gut. Bis Anfang Januar schaffte es kein Wolf ins Herz von
Hobbingen.
Mitte Februar erreichte sie die Nachricht, dass einer der weißen Wölfe in Froschmoorstetten durch die
Verteidigung gebrochen war, aber auf der Suche nach einer scheinbar leichten Beute in eine Falle
gelangt war. Zwar hatten die Hobbits dort einen gesunden, jungen Hahn dafür opfern müssen, aber
besser das Tier als das Leben eines Hobbits.
Des Morgens fand man immer wieder Spuren außerhalb von Hobbingen. Spuren der großen Wölfe,
wie sie versuchten eine Lücke in der Verteidung von Hobbingen zu finden. Doch die tapferen Bauern,
Landbüttel und Anwohner ließen sie des Nachts nicht durch. Mithilfe von Feuer, Hunden und langen
Speeren drängten sie die Raubtiere immer wieder zurück. Der alte Tuk hatte ihnen allen eingeschärft
hinter den kleinen Feuern zu bleiben. Und sie hielten sich dran. Niemals durften sie sich zu sicher
fühlen. Diese Wölfe waren gerissen.
Vor einem Monat noch, da hatten sie versucht einen unterirdischen Gang zu graben. Doch Atto
Diggel, der zu diesem Zeitpunkt Wache gehabt hatte, war dem seltsamen Geräuschen auf den Grund
gegangen und hatte am Eingang des unterirdischen Tunnels Feuer gelegt. Dabei wäre er beinahe vom
Wolf erwischt worden. Sein Hund war jedoch dazwischen gegangen und hatte sich ein paar
Verletzungen zugezogen, die inzwischen wieder verheilt waren.
Jedes der Dörfer es Auenlandes schützte sich selbst. Doch die Kommunikation untereinander blieb
durch das stetige Entsenden von Tauben erhalten. So machte man sich gegenseitig Mut, gab Rat und
beriet über neue Ideen oder sich auftuende Hindernisse. Die Hobbits rückten zusammen, trotz dessen, dass manche Dörfer etwas weiter voneinander entfernt waren. Der alte Tuk versprach ihnen, dass sie
an seinem diesjährigen Geburtstag alle zusammenkommen würden, um den überstandenen Winter mit
Wein, Kuchen und einem bunten Feuerwerk von Gandalf zu feiern.
Es war Ende März, als Bungo sich, wie schon seit fünf Monaten, zu Mirabella aufmachte. Zu seiner
Überraschung musste er feststellen, dass sie sich schon in Gesellschaft des alten Tuks befand. Der
Thain des Auenlandes wirkte müde. Gestern war er also doch nicht ins Bett gegangen. Doch seine
Augen strahlten zufrieden. Bungo blinzelte. So hatte er ihn schon lange nicht mehr gesehen.
„Heute früh kam eine Taube aus Forochel. Die Wölfe wurden nun schon seit drei Tagen nicht mehr
gesehen. Inzwischen haben sie auch einen Teil des Waldes durchkämmt. Nirgends sind Spuren zu
sehen. Von Hasen und Wildschweinen dagegen jede Menge. Wir werden auch unsere Grenzen
absuchen, bis wir uns sicher sein können. Und dann...", der alte Tuk brach ab und starrte auf etwas
hinter Bungo.
„Na sowas. Gerade wollte ich mich erkundigen, wie es euch mit den Wölfen ergangen ist. Aber mir
scheint, ihr habt das wunderbar gelöst", sagte Gandalf, der wandernde Zauberer, und ließ seinen Blick
über die drei Hobbits vor ihm wandern.
Alle drei trugen sie Speere, Langmesser und natürlich Lavendel. Der hatte Wunder bewirkt. Der alte
Tuk hatte bereits angeordnet noch mehr anpflanzen zu lassen. Für den Fall, dass sie im nächsten derart
kalten Winter genügend hatten. Alle Informationen darüber, wie sie sich verteidigt hatten, würden
Mirabella, Bungo und der alte Beutlin in einem Buch festhalten, das fortan in der Höhle des
amtierenden Thains stehen sollte. Auf dass sich die Nachfolger seines Schwiegervaters daran
orientieren und Neues hinzufügen konnten.
Gandalf hatte sich derweil umgedreht und war den nächsten Hügel hinaufgeschritten. Seitlich am
Wegesrand ragten schon die ersten Schneeglöckchen aus dem kalten Weiß heraus. Ein Schmunzeln
zeigte sich auf seinem Gesicht.
„Ein faszinierendes und so wackeres Völkchen, diese Hobbits. Wehe denen, die sie unterschätzen."

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