Türchen Nr. 13

Der Sindar und die Noldor

Geschrieben von Varda_92


Leises Klappern von Pferdehufen durchbrach die frühmorgendliche Stille des Waldes. Blassgoldene Strahlen der Sonne fielen wie fahle Finger zwischen den fast vollständig entlaubten Bäumen hindurch. Dicht war der Boden mit buntem Herbstlaub bedeckt, über das nun die Pferde ihre Reiter trugen. Eine dünne Schicht Frost hatte sich wie zart funkelndes Glas über die Blätter gelegt. Es knirschte bei jedem Schritt der Tiere. Kalt war die Luft und weiße Wolken bildeten sich vor den Mündern von Tieren und Reitern. Lange war der Sommer schon in Vergessenheit geraten und die Nacht hatte eine erste Ahnung von Winter mit sich gebracht.

Die Gruppe Elben war die Nacht hindurch geritten, schnell und verstohlen hatten sie die Lande vor dem Wald durchquert, hoffentlich nur beobachtet von den fernen, kalten Sternen. Es herrschte Krieg und selbst die mächtigen Königreiche der Noldor waren nicht mehr sicher. Denn die Schergen Morgoths wurden tagtäglich mehr.

Nun, da man den Wald erreicht hatte, fiel etwas von der Anspannung von den Elben ab. Sie hatten Doriath erreicht, das Königreich von Elwe Thingol und der Maia Melian, deren Gürtel um den Wald bisher Krieg und Feinde abgehalten hatte.

Aus der Gruppe der Reiter löste sich eine Elbe. Ihr weißes Pferd antreibend ritt sie ein wenig voraus. Neugierig richtete sie sich im Sattel auf, begierig endlich den Palast ihres Verwandten Thingol zu sehen. Die Kapuze ihres dunklen Mantels rutschte von ihrem Haupt und das Licht der Morgensonne fiel auf ihr goldenes Haar.

„Galadriel!“, rief einer der Elben, die ihr folgten, „Reite nicht so weit voraus!“

Ein nachsichtiges Lächeln für ihren besorgten Bruder auf den Lippen zügelte Galadriel ihr Pferd und wandte sich Aegnor und Angrod zu, welche ihr folgten. Streng schüttelte Angrod den Kopf, als die beiden mit ihren Wachen zu ihr aufschlossen. Über Aegnors Gesicht jedoch huschte ein breites Grinsen für die Schwester.

„Seht!“, rief er, „Da vorne ist es! Der Palast von Thingol und Melian!“

Tatsächlich öffneten sich da die Bäume vor ihnen und offenbarten den Blick auf die rauschenden Wasser des Esgalduin, über den sich eine steinerne Brücke spannte. Und dahinter erhob sich das mächtige Tor von Menegroth, den tausend Grotten. Die Wachen am Portal hatten die Besucher bereits erspäht und der Klang von Hörnern schallte ihnen entgegen.

In flottem Trab ritten die Elben über die Brücke, wo ihnen die Wachen Thingols entgegen traten.

Angrod warf seine Kapuze nach hinten und rief mit weit tragender Stimme: „Wir sind Angrod, Aegnor und Galadriel, die Kinder Earwens, Tochter von Olwe, dem Bruder eures Königs! Lasst uns vor zu König Elwe Thingol, unserem Verwandten! Lang und beschwerlich war unser Weg aus dem Segensreich im Westen und wünschen wir, unsere Familie zu sehen.“

Einen kurzen Blick tauschten die Wachen Menegroths, doch hatte man bereits von den Familien der Noldor gehört, welche nach Beleriand gekommen waren, und so nahm man ihnen die Pferde ab und führte sie durch die Tore.

An der Seite ihrer beiden Brüder betrat Galadriel die tausend Grotten von Doriath. Riesige Höhlen öffneten sich vor ihr, erfüllt vom funkelnden Licht hunderter Kristalllampen, deren Strahlen auf majestätische Säulen aus Tropfstein fielen. Hoch aufragenden Bäumen schienen sie zu ähneln, deren Krone mit der Decke der Grotten hoch über ihnen verschmolz.

Es schien der jungen Elbe als würde sie durch einen steinernen Wald von selbst für sie unvorstellbarem Alter wandeln. Kleine Bachläufe flossen plätschernd durch die Höhlen, umsäumt von Blumen aus Quarzen und hellen Kristallen, welche gleißend das Licht der Fackeln und Lampen zurückwarfen.

Der Klang von Harfen und Flöten wehte durch die Gänge, durch die man sie führte, bis schließlich die größte aller Höhlen vor ihnen lag, der Thronsaal Thingols und Melians. Ein Sonnenstrahl fiel durch eine Öffnung in der Decke auf die Throne der beiden Herrscher, vor denen sie nun standen, und welche sich erhoben, um die Gäste willkommen zu heißen.

Galadriel neigte ehrerbietig den Kopf vor Thingol und Melian, berührt und überwältigt von der Schönheit dieses Ortes. Ihr Blick glitt umher, durch die Grotte und die versammelten Elben.

Einer der Elben erwiderte ihren Blick. Ein kleines Stück hinter Thingol stand er, vielleicht ein Anverwandter. Er war ein Sindar, ihre Heimat Valinor würde er nur aus Geschichten kennen. Von silbernem Blond war sein Haar, ein junger, hoch aufgerichteter Elb, dessen tiefer Blick aus dunklen Augen auf Galadriel lag.

Ein seltsames Schaudern überkam die Elbe, nicht vermögend, ihren Blick von seinem zu lösen. Sie hörte weder die Worte, die ihre Brüder mit Thingol wechselten, noch spürte sie die Augen Melians auf sich. Vielen Elben vermochte Galadriel bis auf den Grund ihrer Seele zu sehen. Doch dieser Sindar, auf dessen Gesicht nun ein leichtes Lächeln voller Wärme erschien, war ihr ein Rätsel.

Schrill hallten die Geräusche der Schlacht in seinen Ohren nach. Das Klirren der Schwerter, sirrendes Zischen von ganzen Wolken todbringender Pfeile, die auf sie niederprasselten, die Schreie, die verzweifelten Rufe der eingekesselten Freunde, das Brüllen der Ungeheuer, die der Feind auf sie los ließ.

Metallisch schmeckte die Luft, bitter vom vergossenen Blut.

Zittrig starrte er auf seine Hände, die krampfhaft den Griff seines Schwertes umklammert hielten. Sie waren getränkt von Blut, dem der Feinde, die er getötet hatte, und dem der Freunde, die neben ihm gefallen waren.

Ihm war schlecht.

Weinen und Schreie hallten über das Schlachtfeld. Trauernde beugten sich über ihre gefallenen Freunde, Sterbende riefen voller Angst nach ihren Müttern.

Er stolperte vorwärts.

Sein Blick irrte umher. Überall das gleiche Bild, überall der gleiche Schrecken.

Tote, Orks und Elben, Warge und Menschen, Trolle und anderes Untier, in Bergen lagen sie übereinander, das Blut floss Bächen gleich über den Boden. Verwundete krochen vorwärts, gepeinigt vor Schmerzen um Hilfe rufend.

Er musste hier fort!

Gehetzt begann er zu rennen, stolperte, fiel in den Matsch aus Erde und Blut, rappelte sich wieder auf. Tränen des Grauens flossen über sein Gesicht. Weg, nur weg hier. Doch es nahm kein Ende. Weiter und weiter rannte er, versuchte, die Ohren vor all den Schreien zu verschließen, doch es gelang nicht. Egal wo er hin sah, Tote, Sterbende…

Da hielt plötzlich etwas sein Bein zurück. Er wirbelte herum. Die Hand eines Orks hatte sich um sein Sprunggelenk geklammert. Die Augen des toten Orks starrten ins Leere. Er ruckte mit dem Fuß, um ihn frei zu bekommen, doch der Griff löste sich nicht. Da fuhr der Blick des Orks plötzlich herum und starrte ihn an, wilde Mordlust in den Augen.

Mit einem Schrei fuhr Celeborn in die Höhe. Schweißgebadet tastete er umher, er brauchte einen Moment, bis er sich gewahr wurde, wo er war. In Menegroth war er, in seinem Schlafgemach im Palast Thingols. Die Schlachten des Sommers lagen in weiter Ferne, hier war er in Sicherheit, der Feind war noch nie durch Melians Gürtel gedrungen. Und dennoch träumte er oft von dem Grauen dieser Tage.

Er wusste, er würde nun keinen Schlaf mehr finden. Also erhob er sich, um draußen die Stille der Nacht zu genießen und vielleicht ein wenig Ruhe zu finden.

Beinahe unablässig hatte es geschneit während der letzten Tage in Doriath. Sodass, als Celeborn aus den Palasttoren heraus trat und über den Esgalduin in den Wald ging, eine dicke Schicht unberührten Schnees sich vor ihm ausbreitete.

Ganz still war es im nächtlichen Wald. Die Wolken, die den Schnee gebracht hatten, waren weiter gezogen und das sternenfunkelnde Firmament spannte sich über die Bäume. Das Licht der unzähligen Sterne funkelte und glitzerte im reinweißen Schnee, als wären die Gestirne selbst vom Himmel herab gekommen.

Lautlos, wie es die Art der Sindarin war, schritt Celeborn zwischen den uralten Bäumen Doriaths entlang. Längst waren sie in tiefen Schlaf verfallen, zugedeckt nun von Schnee und Frost, wärmere Tage erwartend, von Frühjahr und frischem Grün träumend.

Klirrend kalt war die Luft, keinen Geschmack trug sie mehr in sich, außer den nach Schnee und Winter. Wohltuend war die Kälte und vertrieb die Bilder des schrecklichen Traumes.

Kein Laut drang an das Ohr Celeborns, selbst unter seinen Füßen knirschte der Schnee kaum, so sacht war sein Schritt. Ein Windstoß kam auf und wirbelte einige Schneekristalle in die Höhe. Wie eine Wolke aus Kristallen trieben sie eine Weile in der Luft, bis der Windhauch abflaute und sie wieder zu Boden sanken.

Tief in Gedanken versunken war der Elb, den sein Weg nun auf eine Lichtung geführt hatte, ein gutes Stück entfernt von Thingols Palast. Erst als er leise Stimmen hörte, hob er den Kopf und blieb unvermittelt stehen.

Auf der reinweißen Schneedecke, angestrahlt vom Licht der Sterne, standen die Herrin Melian und die junge Noldor, die gemeinsam mit ihren Brüdern vor wenigen Tagen nach Menegroth gekommen war, Galadriel. Schon bei ihrer Ankunft hatte sie ihn in ihren Bann gezogen und auch nun konnte Celeborn kaum die Augen von ihr nehmen.

Schön und erhaben war die Maia Melian, die neben Galadriel stand. In ihrem rabenschwarzen, weichen Haar spiegelte sich das Glitzern des Nachthimmels, umgeben vom göttlichen Licht Illuvatars. Doch das Leuchten, das Galadriel umgab, ließ Melian verblassen. Selbst der Schnee, auf dem die Elbe stand, schien grau und matt. Anmut lag auf ihrem Gesicht, Schönheit und Weisheit über ihre Jahre war in ihren Augen, von Stolz und edlem Blut sprach ihre Haltung und ihr Haar… ihr goldenes Haar leuchtete mit einem Licht, welches er noch nie gesehen hatte.

Mit einem Mal von Scheu erfüllt, näherte sich der Krieger langsam den beiden Elbinnen. Unverwandt lag sein Blick auf Galadriel, die ihm entgegen sah. Vor ihr blieb er stehen, um Worte verlegen. Wie ein Traum erschien ihm ihre Schönheit. Es war, als wäre das Licht der Morgensonne in diese kalte Winternacht gekommen, um ihn vor seinen Träumen zu retten.

Endlich fand er seine Stimme wieder und neigte den Kopf zum Gruß: „Celeborn nennt man mich, ein Verwandter Thingols bin ich.“

Ein schüchternes Lächeln huschte über die zauberhaften Züge Galadriels.

„Ich sah euch bei meiner Ankunft hier in Doriath“, erwiderte sie und Celeborns Herz machte einen freudigen Hüpfer. Sie erinnerte sich an ihn.

Keiner der beiden nahm mehr Notiz von Melian, die mit einem wissenden Lächeln neben ihnen stand. Eine Ahnung von Schicksal blitzte in den Augen der Maia auf, die sich dann ohne ein Wort zu sprechen entfernte und Galadriel und Celeborn allein zurückließ.

Schweigend blickten der Sindar und die Noldor einander an, unsicher, was sie sagen sollten. Ohne es zu merken, stahl sich ein bewunderndes Lächeln auf Celeborns Gesicht.

„Was ist?“, fragte Galadriel, seltsam nervös in der Gegenwart des Elben.

Celeborns Augen funkelten, als er sie ansah. „Verzeiht mir Herrin, ich hatte gehofft, hier im Wald etwas die Schönheit des Winters genießen zu können. Nicht hätte ich gedacht, Schönheit anzutreffen, die selbst Melian in den Schatten stellt.“

Beschämt senkte Galadriel den Blick und eine leichte Röte huschte über ihre Wangen. Sie antwortete nicht.

Unsicher, ob seine Worte vielleicht zu kühn gewesen waren, trat Celeborn etwas zurück. „Vergebt meine Worte. Ich wollte euch nicht stören, Herrin“, sagte er leise und wollte sich schon zur Flucht wenden.

„Bleibt…“, sagte Galadriel und hob wieder den Blick. Das Licht der Sterne leuchtete in ihren Augen, als sie sanft fragte: „Was brachte euch hier bei Nacht in den Wald?“

Er seufzte und mit einem Mal schloss sich die Dunkelheit der Träume wieder um sein Herz. „Böse Träume verfolgen mich… Die Schlachten gegen Morgoths Heer, ich kann sie nicht vergessen.“ Von trauriger Erinnerung erfüllt suchte er den Blick der Elbin. Und erblickte ähnlichen Schmerz in ihren Augen. Er ahnte, auch sie hatte schon viel Leid gesehen. Galadriel streckte eine Hand aus und berührte sanft wie ein Schmetterling die seine. Da wich langsam der Schatten von seinem Herz.

Eine Weile standen sie schweigend da, dann fragte Celeborn: „Werdet ihr uns wieder verlassen?“

Galadriel senkte den Blick. „Meine Brüder werden bald wieder aufbrechen. Die Herrin Melian bat mir an, zu bleiben. Sie sagte, viel hätte sie mich zu lehren. Doch unsicher bin ich mir. Eine Fremde bin ich hier, die Gebräuche der Sindarin sind mir fremd“, erwiderte sie.

Celeborn trat näher an sie heran. „Bitte, bleibt!“, brach es aus ihm heraus. Eben erst hatte er diese Elbin gefunden, die sein Herz leicht und heil machte, nicht jetzt schon wollte er sie wieder verlieren. Nie wieder wollte er sie verlieren…

Zögernd blickte Galadriel zu ihm auf und ihre Blicke trafen einander. Dann lächelte sie und sie wusste, sie wollte nicht mit ihren Brüdern fortgehen.

„Zeigt ihr mir Doriath, Celeborn?“, fragte sie und ihre Augen leuchteten. Mit einem warmen Lächeln bot Celeborn ihr seinen Arm an. „Das werde ich“, antwortete er und sie hakte sich bei ihm ein.

Leise miteinander sprechend verließen Galadriel und Celeborn die Lichtung und traten in den Schatten der Bäume. Keine Spur hinterließen sie im funkelnden Schnee in Doriath.

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