7 - Lisa
Von allen Geschenken, die uns das Schicksal gewährt, gibt es kein größeres Gut als die Freundschaft - keinen größeren Reichtum, keine größere Freude.
Epikur von Samos
„Mädelsabend!" flötete Sarah, während sie ihre Freunde grinsend umarmte. Jakob guckte leicht pikiert. „Das ihr das immer 'Mädelsabend' nennt, ist schon ein bisschen irreführend, findet ihr nicht?"
Lisa runzelte die Stirn und folgte Jakob zu dem letzten freien Tisch im vollen Lokal. „Warum?"
„Weil ich ein Mann bin?"
„Sieh dich doch als Ehrenfrau", teilte ihm Sarah mit und legte das Reserviert-Kärtchen zur Seite.
„Was soll das denn sein?", hakte Lisa nach, setzte sich auf die Bank und stopfte ihren Mantel neben sich. Jakob schob sich an ihre freie Seite und Sarah nahm gegenüber Platz.
Ihre Freundin zuckte mit den Schultern. „Jugendsprache. Du glaubst ja nicht, mit was die Küken zurzeit so aufwarten. Ich bin mir bei der Hälfte nicht sicher, was das genau bedeutet. Wann sind wir denn so alt geworden? Wir sind doch nicht mal 30?" Sie gestikulierte einer Kellnerin etwas zu, die daraufhin bestätigend nickte.
Jakob warf einen Blick in die Karte, während er fröhlich anmerkte. „Sprich für dich... Immerhin warst du bei meinem Dreißiger dabei. Um noch einmal zum 'Mädel' in 'Mädelsabend' zurückzukommen..."
Lisa prustete los, während Sarah sich vorbeugte und ihm freundschaftlich durch die dunklen Haare wuschelte. „Ach, stell dich nicht so mädchenhaft an. Sei lieber froh, dass wir dich unabhängig von deinem Geschlecht auf dein Hirn reduzieren."
„Das ist irgendwie eine chauvinistische Haltung."
Lisa winkte ab. „Wir können nicht chauvinistisch sein, denn du bist Eine von uns." Die Kellnerin brachte ein Tablett mit drei bunten Cocktails, die sie willkürlich verteilte. Jakob drückte seinen Kopf auf die Tischplatte und seufzte laut, während Lisa sich einen aussuchte.
„Ihr wisst schon, dass das meiste, von dem was ihr sagt keinen Sinn ergibt?" begehrte er noch einmal auf.
Sarah schob ihm einen Mai Tai zu. „Trink einfach etwas, dann wird es leichter."
Er folgte ihrem Rat und grummelte: „Das ist genau der Grund, warum ich auf Männer stehe. Alles andere ergäbe auch gar keinen Sinn." Dann schüttelte er sich und blickte angewidert auf seinen Cocktail. „Was ist das?"
Lisa probierte. „Ein Mango Mai Tai."
„Ok, warum ist da Mango in meinem Alkohol?" Sein Mund hatte eindeutig einen angewiderten Zug.
Sarah vertauschte ihre Getränke. „Ach, ein paar Vitamine könnten dir guttun. Wer mag schon keine Mango?"
„Jeder mit Geschmacksnerven. Könnten wir zur Abwechslung nicht mal in eine Sportsbar gehen? Bier trinken oder so? Ich mag Bier." Jakob nahm einen Schluck von Sarahs Getränk und akzeptierte den Tausch. Dann blieb sein Blick auf der Eingangstür hängen und er pfiff leise durch die Zähne. „Aber hallo, wer kommt denn da?"
Lisa folgte seinem Blick, während sie ihren Erdbeerdaiquiri trank und verschluckte sich gleich heftig. Darrer hatte das Sausalitos betreten und ließ seinen Blick über die vollen Tische gleiten. Wie ein Löwe, der die Savanne nach Beute absuchte. Sie duckte sich schnell hinter Jakob.
Darrer fand schließlich, was er gesucht hatte und näherte sich einer dunkelhaarigen Frau, die gerade an der Theke stand, um zu bestellen. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr und sie drehte sich lächelnd zu ihm um. Lisa verzog angewidert das Gesicht. Natürlich sah er gut aus. Durchtrainiert, dunkles Haar, blaue Augen. Aber diese Art, mit der er auf Frauen zuging, war viel zu selbstbewusst. Überheblich. Die Dunkelhaarige schüttelte seine Hand und blickte zu ihm auf. Als ob er ein Held oder etwas Ähnliches sei. Bäh.
Sarah stupste Lisa in die Seite. „Was ist los? Du siehst aus, als ob du einen Geist gesehen hättest."
„Einen stinkenden Geist", fügte Jakob hinzu und schmunzelte.
Mit einem Nicken deutete Lisa Richtung Theke. „Das ist mein Nachbar."
„Die Sahneschnitte?" Jakob lehnte sich etwas zurück und musterte Darrer.
Lisa verzog das Gesicht und nickte.
„Schick", kommentierte Sarah.
Darrer beugte sich über den Tresen und bestellte beim Barkeeper, während die Schwarzhaarige ihn weiter anhimmelte. „Warum schnappst du ihn dir nicht?", fragte Jakob.
Lisa warf ihm einen bösen Blick zu und deutete auf die Szene. „Weil ich mich nicht in eine lange Schlange von Verehrerinnen einreihen werde?"
„Weil Anstellen nicht wirklich deine Stärke ist, hm?" Jakob wusste, wo er drücken musste und Lisa war klar, dass ihr Kommentar weiterer Ausführungen bedürfte. „Schaut ihn euch doch einmal an. Er ist viel zu hübsch für einen Mann. Die Frauen stehen auf ihn, ich meine, er ist ja hübsch!" Sie hob ihre Hände und verzierte das Kompliment mit Anführungszeichen. „Solch einen Mann hat man nie allein und Teilen ist einfach nicht mein Ding." Sie bezweifelte, dass es das Ding ihrer Mutter gewesen war, ihren Mann mit Hannovers Frauenwelt zu teilen, aber zumindest hatte sie nicht vor, es ihr gleichzutun.
Jakob verdrehte die Augen und kicherte. „Du bist sowas von oberflächlich, Lieschen. Ich meine, du lehnst den armen Kerl ab, weil er gut aussieht. Ich finde das ein bisschen unfair. Er hat bestimmt auch Gefühle."
Am Eingang traf gerade eine sportliche Rothaarige ein. Sie fiel Lisa deshalb ins Auge, weil sie mit schnellen Schritten zu Darrer eilte und ihn von der Schwarzhaarigen loseiste. Wenn Blicke töten könnten, wäre der Neuankömmling von Darrers Verehrerin umgebracht worden.
Jakob zuckte mit den Schultern. „Siehst du, sowas ist heiß." Lisas Blick wanderte zu Darrers Hintern und sie stimmte still zu. Aber die Hübschen waren gefährlich, das würde Jakob auch noch lernen. Das hatte man bei ihrem Vater ja gesehen. Ihre Mutter hatte noch Jahre später dem hübschen Gesicht des Schwätzers hinterher getrauert, als er dann endlich das Weite gesucht hatte. Und selbst danach – bis zu ihrem Tod hatte sie an dem Mann gehangen.
Vorsichtig versuchte sie das Thema zu wechseln. „Wie läuft es denn mit dir und diesem Künstler, wie hieß er noch gleich?", hakte sie bei Jakob nach.
Der sprang an und verzog das Gesicht. „Ach, Künstler ... Es gibt nur diese Zustände zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Das ist so anstrengend." Mitfühlend tätschelte Sarah seine Schulter und Jakob fuhr ungewohnt ernst fort. „Sein Name ist Viktor, aber ich bin mir nicht sicher, ob es sich lohnt, ihn euch zu merken."
„Oh nein", schaltete sich Sarah ein, „Ich dachte, es wäre etwas Festes. Ich meine, ihr hattet doch diesen Kurzurlaub gemacht, in London."
Jakob nickte. „Stimmt. Aber wenn ich ehrlich bin, hat sich da schon gezeigt, dass wir unterschiedliche Auffassungen vom Leben haben. Er lebt eher im Jetzt und ich möchte etwas Langfristiges."
Der trübsinnige Moment wurde von einer Bedienung unterbrochen und alle bestellten sich einen weiteren Cocktail. Dazu orderte Jakob noch drei Tequila, um sie etwas aufzulockern.
Um kurz vor Mitternacht verließen die Drei leicht angeheitert und ziemlich locker die Cocktailbar.
„Ich glaub heut' gönn ich mir ein Taxi", beschloss Lisa.
Jakob schaute auf seine Uhr und stöhnte. „Das werde ich morgen früh bereuen", jammerte er und setzte sich seine Mütze auf. Sarah lachte und nahm Lisa zum Abschied in den Arm.
„Hab dich lieb. Schlaf gut", murmelte sie, dann hakte sie sich bei Jakob unter. „Komm, ich erlaube dir heute, mich nach Hause zu begleiten."
Jakob rollte mit den Augen und gab Lisa einen Abschiedskuss auf die rechte Wange. „Bis nächstes Mal, Lieschen", flüsterte er.
Lisa winkte ihnen hinterher, dann schaute sie sich nach einem Taxi um. Zusammen mit Oma Trude und ihrem Bruder waren diese beiden ihre Familie. Sie hätte sich keine bessere wünschen können.
Die Stimme, die hinter ihr ertönte, sorgte dafür, dass sie fast auf die Straße stolperte. „Verfolgen Sie mich?"
Aus den Schatten neben dem Sausalitos trat Darrer auf sie zu und lächelte sein Siegerlächeln. Im Lokal hatte Lisa ihn zunächst ignoriert und nach dem zweiten Cocktail tatsächlich vergessen, aber jetzt stand er vor ihr. Irgendetwas an ihm schubste sie bei jedem Aufeinandertreffen aus ihrer Komfortzone. Noch ein Punkt, der gegen ihn sprach. Es gab kaum etwas, das Lisa weniger mochte, als nicht Herrin der Lage zu sein.
Sie schluckte ihre Überraschung hinunter und musterte ihn, versuchte irgendetwas Greifbares hinter seiner hübschen Fassade zu finden. Alles war perfekt. Nicht mal ein Pickel wagte es, ihn zu verunzieren. Er trug einen schmal geschnittenen grauen Mantel und zog gerade ein paar Handschuhe aus seiner Tasche. Organisiert war er also auch noch. Wie unsympathisch. Ihre Handschuhe hatte Lisa vergessen und daher blieb ihr nun nichts anderes über, als die kalten Finger in die Jacke zu stecken. „Natürlich nicht, abgesehen davon waren wir zuerst im Sausa gewesen", erklärte sie mit wohl dosierter Überheblichkeit.
Pauls Gesichtsausdruck wirkte zufrieden, als ob sie ihm gerade auf den Leim gegangen wäre. Automatisch runzelte Lisa die Stirn.
„Also haben Sie mich gesehen, als ich angekommen bin?"
Mist. „Vielleicht", antwortete sie vage.
„Und nicht begrüßt. Ich bin verletzt." Er legte eine Hand auf die Stelle, an der unter Lagen aus festem Wollstoff sein Herz schlagen müsste.
Dank seiner Theatralik konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Ich wollte Ihr Date nicht stören. Oder Ihre Dates? Da kommt man ja durcheinander."
„Sind Sie etwa eifersüchtig?"
„Warum sollte ich das sein?"
Paul trat einen Schritt näher auf sie zu und drang nun erheblich in ihren Wohlfühlbereich ein. „Ja, warum?", fragte er mit rauer Stimme.
Lisa schluckte. Trotz der Cocktails hatte sie einen wahnsinnig trockenen Hals. Sie fühlte sich wie ein Häschen, das geradewegs dem Jäger in die Arme lief. Ein durstiges Häschen mit einem dringenden Bedürfnis nach Wasser.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich ein Taxi näherte. Mit einer Bewegung, die viel zu schnell war, um unauffällig zu bleiben, wich sie Paul aus, trat auf die Straße und hob eine Hand. Das Taxi verlangsamte sich und hielt neben ihr an.
Erleichtert öffnete Lisa die Tür und wollte sich auf die Ledersitze sinken lassen. Dann wurde ihr bewusst, dass dies wie eine Flucht wirken könnte. Einen Moment blieb sie stehen. Ihre Gedanken wirbelten wie Gewitterfliegen durch ihren Kopf. Schließlich drehte sie sich wieder zu Paul um. „Wollen Sie vielleicht mitfahren?"
Noch im selben Moment hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Eine gemeinsame Taxifahrt? Er brachte sie jetzt schon zum Schwitzen, ohne dass sie im Fond eines Fahrzeugs aufeinander hockten. Nebeneinander korrigierte sie sich panisch. Nebeneinander! An seinem Hals entdeckte sie ein kleines Muttermal, dass ihren Blick auf sich zog wie ein kleiner Magnet. Ob er noch mehr davon hatte?
Paul stand dicht hinter ihr und von ihm ging ein faszinierender Geruch aus.
Zum Glück schien er ihre Gedanken dieses Mal nicht lesen zu können und schüttelte nur bedauernd seinen Kopf. Irgendein Aftershave. Herb, männlich, aber nicht aufdringlich.
Seine Stimme holte sie zurück. „Tatsächlich würde ich gerne, aber ich muss hier noch auf meine Begleitung warten. Das wäre wohl nicht besonders anständig, einfach so zu verschwinden." Mit einem Lächeln schloss er die Tür. „Ein anderes Mal gerne."
***
Paul beobachtete das Taxi, das seine dunkelhaarige Nachbarin nach Hause fuhr. Lisa hieß sie. Frau Kramer, die ältere Dame von gegenüber, hatte ihm ein paar Dinge erzählen können. Offenbar war sie im letzten Sommer in die Haushälfte ihrer Großmutter gezogen. Paul hatte mit der älteren Dame tatsächlich kaum Kontakt gehabt, da er im Frühjahr wegen der Turniere nur ab und an zum Schlafen daheim gewesen war. Nachdem Lisa in ihrer Hälfte aufgewachsen war, hatte er der freundlichen Frau Kramer auch ein paar Kindergeschichten entlocken können. Lisa schien schon immer aus einer interessanten Mischung aus hart und zart zu bestehen, immer getrieben von dem Wunsch, sich zu beweisen.
Sie hatte wirklich zum Anbeißen ausgesehen, als sie gerade mit den roten Wangen vor ihm stand. Ein bisschen wie Schneewittchen. Ein leicht angeschwipstes Schneewittchen. Lächelnd sah er ihr nach, auch wenn das Taxi schon längst aus seinem Blick verschwunden war. Irgendetwas hatte sie an sich. Etwas, das über ihren Hang zu Fettnäpfchen hinausging.
Von hinten wurde er unsanft angerempelt. „Schläfst du, Kätzchen?" Daria hatte sich ihm angeschlossen und riss ihn aus seinen Gedanken. „Nein, ich denke an die unzähligen Qualen, die du verursacht hast seit du in mein Leben geschneit bist."
„Allgemein oder an eine spezielle Qual?"
„Ich habe gerade eine schöne Frau allein nach Hause fahren lassen", beschwerte er sich.
„Die Goldgräberin von drinnen? Selbst dir sollte klar sein, dass du mir dankbar sein wirst, wenn dein Hormonstau dich wieder klar denken lässt."
Lachend wuschelte ihr Paul durch die rotblonde Mähne. „Nein, die nicht. Kein Sportgroupie. Eine echte Frau, die ich kennengelernt habe. Sie heißt Lisa." Paul hielt sich absichtlich mit Informationen zurück. Sonst hätte Daria ihr kleines Näschen wieder viel zu tief in seine Angelegenheiten gesteckt. Alles nur zu seinem Besten. Er schnaubte lautlos.
„Wenn sie wirklich so toll ist, bist du ein Idiot. Warum hast du mir nicht eine SMS geschickt, dass du alleine fährst - wir waren doch eh schon am Aufbrechen?"
Betroffen blickte Paul sie an. „Ich lasse dich doch nicht mitten in der Nacht allein rumlaufen!"
Sie plusterte sich auf. „Ich kann selbst auf mich aufpassen."
Paul legte einen Arm um ihre Schultern und führte sie die Straße hinunter. „Ich weiß, Dar. Aber ich würde es nie darauf ankommen lassen."
Daria legte ihren Kopf an seine Schulter. „Weißt du, ich bin echt froh, dass ich in dein Leben geschneit bin", murmelte sie.
„Ich auch." Sie war ihm näher als seine eigene Schwester. Auch wenn er nicht gerne an den Tag zurückdachte, an dem sie unwiederbringlich ein Teil von ihm geworden war. Der Tag kurz nach ihrem zehnten Geburtstag, an dem sich ihr Bruder Torben aus Liebeskummer das Leben genommen hatte.
Es war traurig gewesen. Traurig und unnötig. Torben war selbst erst fünfzehn Jahre alt gewesen und Pauls bester Freund. Er hatte sich unsterblich in ein Mädchen aus dem Fechtclub verliebt. Michaela. Sie hatte sich über ihn lustig gemacht und er war von einer Brücke gesprungen. Einfach so. Paul vermisste ihn auch nach all dieser Zeit noch. Er wollte nicht, dass Daria merkte, wohin seine Gedanken abgedriftet waren und drückte sie. „Zumindest meistens. Wenn du nicht gerade ein Dorn in meinem Fuß bist. Wenn ich so darüber nachdenke, also eigentlich eher selten."
Sie knuffte ihn und lachte.
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