6 - Paul

Man muss mit seinen Feinden leben, da man nicht jedermann zum Freund haben kann.

Alexis de Tocqueville

Paul stand neben seinem Fechtrivalen Jan am Tresen des angesagten In-Clubs Beluga und beobachtete die Menge. Die Musik wummerte in seinen Ohren, es war zu laut und ziemlich stickig. Vom VIP-Bereich hätte er eigentlich mehr erwartet. Wenigstens waren die Getränke kalt. Eigentlich trainierte Jan im deutschen Fecht-Mekka Tauberbischofsheim, doch machte er oft Besuche in Hannover, angeblich um alte Freunde zu treffen. Paul vermutete jedoch, dass es ihm eher darum ging, die Konkurrenz, also ihn, abzuchecken. Es war mehr als zweifelhaft, dass Jan überhaupt Freunde hatte. Die Tatsache, dass Paul überhaupt mit Jan in diesem Club abhing, ließ sich jedenfalls genau darauf zurückführen. Alles war ein Spiel, sie waren wie zwei Schachveteranen und jeder Zug offenbarte etwas, das dem anderen nützen konnte.

"Was hältst du von der Blonden da hinten. Die in diesem silbernen Fummel neben der Walfreundin?"

Paul verdrehte die Augen. Pflichtschuldig wanderte sein Blick zu der bezeichneten Blondine. Selbst auf die Entfernung wirkte sie künstlich, viel zu stark geschminkt und verdammt jung. Die Freundin war etwas molliger, wirkte dadurch aber echter. Keine Streicholzbeine. Außerdem machten sie ihre langen braunen Haare in Kombination mit einem Lächeln um einiges sympathischer, als man es von ihrer blonden Freundin behaupten konnte. Nur einer von beiden strahlte Lebensfreude aus und es war definitiv nicht Jans Barbie. Im Gegensatz zu seinem Fechtkollegen bevorzugte Paul tatsächlich Frauen, die nicht so aussahen, als hätten sie sich ihre Kleidung mit Bodypainting aufgemalt. Wenn man alles vorher sah, wo blieb die Spannung?

Offenbar verwechselte Jan seine Schweigsamkeit mit Interesse. „Ja, Bruder. Die ist heiß, sag ich doch!"

Paul räusperte sich und griff nach dem alkoholfreien Bier, das vor ihm auf dem Tresen stand. „Ich weiß nicht. Ist die überhaupt volljährig?"

„Wenn sie hier rein gekommen ist, wird sie schon einen Ausweis haben."

Auf den ersten Blick wirkte Jan wie ein typischer Idiot, aber die Tatsache, dass er ihm in der Weltranglistenplatzierung im Nacken saß, sprach eine ganz andere Sprache.

Beim Fechten kam es einerseits auf körperliche Attribute wie Ausdauer, Kraft und Schnelligkeit an. Wirklich erfolgreich konnte man aber nur werden, wenn man seinen Kopf benutzte. Strategie und Taktik waren zentrale Elemente, die Jan zwar nutzte, aber oft verschleierte.

Erwartungsvoll sah sein Konkurrent ihn an, offenbar wartete er auf eine Reaktion. Jan selbst erinnerte Paul an eine Schlange, entspannt und träge, bis sie plötzlich zum Angriff überging. Glatte Haare, das Aussehen und das Auftreten eines Bankers. Er roch nach Geld. Sein Kollege hat von jeher mehr Wert auf Sicherheit gelegt als er selbst und war Berufssoldat. Der kantige Schnitt verlieh ihm einen gewissen rauen Charme, auch wenn Paul nicht klar war, warum die Frauen ihn anziehend fanden. Wahrscheinlich wegen der Muskeln.

Die Blondine gestikulierte wild und redete auf ihre kleinere Freundin ein, die sich daraufhin mit einem mürrischen Gesichtsausdruck auf den Weg zum Tresen machte. Wahrscheinlich um Getränke zu holen. „Nicht mein Fall", beschied er. „Ich bevorzuge meine Frauen ein bisschen mehr durchgebraten, wenn du verstehst, was ich meine."

„Du bist natürlich auch älter." Jans falsches Lachen hallte über die Geräuschkulisse. Ja, dreizehn Monate. „Ich finde sie perfekt", erklärte sein Kollege, als Pauls Gesprächspause unangenehm zu werden begann. Ein schmieriges Grinsen später pflügte Jan schon durch die Menge, das Objekt seiner Begierde fest anvisiert. Paul schüttelte den Kopf. Je mehr Zeit er mit Jan verbrachte, desto deutlicher merkte er, dass er ihn nicht leiden konnte. Der Kerl war ein Arsch, nicht mehr und nicht weniger. Aber dennoch war er gut in dem, was er tat. Wie machte er das nur?

Paul warf einen Blick auf die Uhr und überlegte, wann er diese Farce hier mit gutem Gewissen als beendet erachten konnte. 01:21 Uhr. Ein wenig musste er noch durchhalten, vielleicht eine Stunde. Ansonsten bräuchte er eine gute Erklärung, um nicht als Langweiler zu gelten.

Er trank einen weiteren Schluck aus seiner Flasche. Wenigstens musste er sich nicht weiter unterhalten. Daria fragte ihn bei jedem von Jans Besuchen, warum er sich auf diesen Blödsinn einließ. Sie verstand einfach nicht, dass es hier um mehr ging, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Es war genauso wie Meister Mika immer zu sagen pflegte. Nur wer seine Gegner so gut kannte, wie sich selbst, konnte wirklich erfolgreich sein. Daher umkreisten sich Jan und Paul seit geraumer Zeit, immer auf der Suche nach einer Schwäche. Obwohl er sicher war, dass Jan ihn auch nicht wirklich mochte, rief er ihn fast quartalsmäßig an, um feiern zu gehen. Immer nur sie beide. Manchmal ließ sich Paul auch auf eine der Frauen ein, wenn er sich zu sehr langweilte oder einfach jemandem begegnete, der ihn fesselte. Manchmal ging er alleine nach Hause. Es war nicht so, dass er nur auf One-Night-Stands aus war, aber mehr hatte sich in den letzten zwei Jahren einfach nie ergeben. Entweder war er zu viel unterwegs gewesen oder die Frau hatte sich daran gestört, neben seiner Familie und dem Sport nur die dritte Geige zu spielen. Sein letzter Versuch hatte keine Katzen gemocht.

Paul ließ die Flasche Bier in seiner Hand kreisen. Der Inhalt schmeckte abgestanden, genau wie der ganze Abend. Zwischenzeitlich hatte Jan die Blondine in ein Gespräch verwickelt. Sie fasste ihn immer wieder an, mal am Arm, mal an der Hüfte, wenn sie sich vorlehnte, um ihm besser zuhören zu können. Jan taxierte sie, vermutlich um herauszufinden, wie er sie später aus dem silbernen Kleidchen holen konnte.

Der DJ wechselte gerade zur Technoparodie einer Liebesschnulze. Es war ein Lied, das er auch ohne die Zerstückelung grausam fand und diese neuerliche Interpretation wertete das Stück nicht wirklich auf. Dies würde vermutlich eine lange Stunde werden.

Die Freundin der Blondine kehrte zurück und bemerkte, dass ihre Anwesenheit nicht gewünscht wurde. Mit einem erleichterten Gesichtsausdruck setzte sie sich auf einen freien Barhocker. Schon während sie am ersten Getränk nippte, streifte sie sich verstohlen ihre High Heels von den Füßen. Schlaues Mädchen.

Paul musste grinsen. Hätte er sich gerade auf der Suche nach etwas Festem befunden, hätte die Freundin ihn tatsächlich interessieren können. So jedoch ließ er die Gelegenheit verstreichen. Wenn man sein eigenes Leben nicht auf die Reihe bekam, sollte man sich keinem anderen Menschen aufdrängen. Er zückte sein Handy und warf einen weiteren Blick auf die Zeitanzeige. 01:34 Uhr. Verflucht.

„Hallo", ertönte eine rauchige Stimme links von ihm. Dort hatte sich eine weitere Blondine dekorativ an den Tresen gelehnt. Sie trug ein goldenes Kleid, das nur aus Tüchern zu bestehen schien und musterte bewundernd seinen Oberarm. Die Frau sprach weiter, als sie sich seiner Aufmerksamkeit gewiss war. „Ist hier noch frei?"

Ihr Gesicht war hübsch, sanft geschwungene Augenbrauen und blassgrüne Augen. Mit den hellen Locken eine interessante Kombination. Ihm gefiel es auch, dass sie nur dezent geschminkt war. Ihre Augen krochen über ihn hinweg und er fühlte sich wie Jagdbeute. Ihr Verhalten passte zwar zum Kleid, aber nicht zum Rest von ihr. Selbst ihre Schuhe schienen bequem zu sein und sie trug ihr Haar offen. Paul mochte Widersprüche, vor allem wenn sie schöne Beine hatten.

„Es ist frei", stellte er das Offensichtliche fest.

Ihr Lächeln stoppte, bevor es ihre Augen erreichte. „Das habe ich gesehen." Mit einem Nicken deutete sie in Richtung Jan, der seine Blondine gerade küsste.

Paul selbst empfand es als schlechten Stil, eine Frau in einem Club an die Wand zu drücken, um sie abzutasten, aber Geschmäcker waren ja bekanntlich verschieden. Als er sich schließlich wieder zurückdrehte, hatte sich seine Blondine etwas näher zu ihm hinbewegt.

„Ich heiße Melanie."

„Paul", antwortete er. „Ich muss dir aber sagen, dass ich eine Freundin habe." Die Freundinnen-Masche war seine Lieblingsmethode, um die braven von den weniger braven Mädchen zu trennen. Wer sich auf einen Vergebenen einließ, war meistens selbst nur auf der Suche nach einem One-Night-Stand und für mehr reizte ihn dieser hübsche Schmetterling nicht.

„Das stört mich nicht." Melanie rückte noch ein Stück näher, wobei sie sich so stellte, dass niemand sehen konnte, was sie tat. Mit einer Hand strich sie über die Innenseite seines Oberschenkels. Definitiv kein braves Mädchen.

Sein Interesse vertiefte sich. Unter den goldenen Tüchern versteckte sich eine Frau, die ganz genau wusste, was sie wollte. „Hast du vielleicht Lust, ein wenig frische Luft zu schnappen?", fragte er.

Als sie nickte, führte Paul sie zwischen den Tanzenden entlang zum Ausgang. Sie passierten Jan und Paul klopfte ihm kurz auf die Schulter, deutete auf seinen Schmetterling und genoss den steinernen Gesichtsausdruck des Rivalen. Also war ihm auch aufgefallen, dass Pauls Eroberung hübscher war.

Dass seine Begleiterin ein goldenes Kleid trug, während Jan mit Silber vorliebnehmen musste, versüßte ihm diesen Moment nur noch mehr. Mit einem selbstzufriedenen Grinsen legte er dem Schmetterling den Arm um die Hüfte und führte sie zur Jackenausgabe.

Kaum hatten sie das Beluga verlassen, zog der Schmetterling ihn an sich und begann, an seiner Unterlippe zu knabbern. Ihre Hände wanderten gierig unter sein Hemd. Die Kälte der Nacht spürte er nicht, dazu rauschte das Blut viel zu stark durch seinen Körper. Mit einer Hand umfasste er ihren Nacken, drehte ihren Kopf und drang mit seiner Zunge in sie ein. Sie schmeckte nach einem süßen Cocktail, irgendetwas auf Kokosnussbasis. Etwas klebrig, aber nicht unangenehm. Kurz löste sie sich von ihm und er knurrte frustriert.

„Ich habe dich schon die ganze Zeit beobachtet. Dein Körper ist der Hammer", schnurrte sie in sein Ohr. Erwartungsvoll lächelte sie ihn an und strich sich eine Locke hinters Ohr.

„Du bist auch nicht zu verachten." Vielleicht etwas mager für seinen Geschmack, aber er wollte nicht kleinlich sein.

„Ich wohne hier in der Nähe. Was hältst du davon, du kommst mit rauf und ich mache dir einen Kaffee?"

Ein nicht unwesentlicher Teil von Paul hielt das für eine richtig gute Idee.

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