3 - Lisa
Du kannst nicht verhindern, dass ein Vogelschwarm über deinen Kopf hinwegfliegt. Aber du kannst verhindern, dass er in deinen Haaren nistet.
Martin Luther
Jakob lachte so laut, dass Lisa ihr Handy kurz vom Ohr weghalten musste.
„So lustig war es dann auch wieder nicht", mokierte sie sich, doch eher zum Schein.
„Doch, war es." Jakob war neben ihrer Freundin Sarah einer der wenigen Menschen, die Lisa nah an sich herangelassen hatte. Sie liebte ihn für seine Fürsorglichkeit, seine Loyalität und seinen Glauben an das Gute im Menschen, der manchmal nur haarscharf an Naivität vorbeischrammte. Allerdings hatte jeder Mensch seine Schwachstelle und Jakobs war definitiv sein Humor. Würde man sie je fragen, ob es denn tatsächlich möglich wäre, zu viel davon zu haben, könnte sie problemlos auf Jakob verweisen. Soweit es zumindest um andere ging, bei sich selbst war er etwas empfindlicher. Sie kannte ihn seit ihrer Schulzeit und ihre Fotowand war voll mit Bildern von ihnen. Auf keinem gelang ihm ein ernster Gesichtsausdruck. Dank ihm war sie sogar schon aus einem Museum für moderne Kunst geflogen, aber das war eine ganz andere Geschichte.
„Hey, müsstest du als mein geheimer Seelenpartner nicht irgendwie mehr hinter mir stehen?" Lisa ging von der Küche in ihr Wohnzimmer und warf sich auf ihr geliebtes senffarbenes Sofa. Zwar hatte ihr Jakob schon oft zu verstehen gegeben, dass die Farbe einen tätlichen Angriff auf seinen Geschmackssinn darstellte, doch liebte sie den Charme der Siebziger, der von dem Ungetüm ausging. Außerdem war es bequem.
„Ich wäre ja auch wirklich gern hinter dir gewesen. Mit Popcorn und 'nem Liegestuhl." Dann kicherte er wieder. „Und Pizza."
„Ja, dreh das Messer nur noch mal um. Warum waren wir nochmal befreundet?"
„Wegen meines sonnigen Gemütes?"
Lisa beschränkte sich auf ein Schnaufen und ließ ihre Beine über die Armlehne hängen. Aus dieser Perspektive hatte sie einen guten Blick auf die pastellgrüne Decke. Ein wunderschöner Ton, frühlingshaft und frisch.
Jakob flüsterte ein paar Worte zu einer Person im Hintergrund, dann wurde er wieder ernster. „So unterhaltsam deine kleinen Episoden auch sind, warum redest du mit den Kerlen nicht einfach?"
„Du meinst, wie mit dem ersten Typen, der mich wochenlang verfolgt hat. Oder der Zweite, der mir nach meiner wirklich freundlichen Absage mit Zahnpasta vierunddreißig Mal 'Bitch' auf mein Auto geschrieben hat?"
„Sie waren nicht alle furchtbar. Toni, der Österreicher, war doch ganz nett."
Dem musste Lisa leider zustimmen. Einige der Männer, die sie in unregelmäßigen Abständen kontaktiert hatten, waren tatsächlich nett gewesen. Aber der Funke war nie übergesprungen. Was bei besagtem Toni tatsächlich schade gewesen war, da er mit seinem Akzent mehr als süß gewesen war. Aber man wusste halt nie, wer gerade im Vorgarten stand und ihre Erfahrungen hatten sie unterm Strich misstrauisch gemacht. „Erinnerst du dich denn nicht an meinen letzten Versuch, der Kerl mit dem Teddy?"
„Der war richtig witzig." Jakob fing wieder an zu lachen.
„Der hatte ein zwei Meter großes Kuscheltier vor das Zugangstor meiner Dienststelle gestellt, der einen 'Willst-du-mit-mir-gehen?' Zettel trug und nach Hundepippi roch!"
Von Jakob kam nur noch ein hysterisches Glucksen. Lisa blickte entnervt aus dem Küchenfenster und sah eine einsame Gestalt am Ende der Straße auftauchen.
„Ich werde jetzt auflegen. Mit dir kann man sich eh nicht mehr unterhalten." Damit beendete sie das Gespräch und schnitt sich die Akustik zu seinem Lachanfall ab. Sie sah wieder nach draußen und musterte den Mann, der aufrecht wie ein Zinnsoldat in ihre Sackgasse einbog.
Gregor war wirklich pünktlich, wie jeden zweiten Montag im Monat. Verlässlich wie ein Uhrwerk. Der Polizist ging an den Vorgärten vorbei und musterte alles mit aufmerksamen Blicken. Auf ihrer Höhe blieb er stehen. Sie winkte ihm zu und er erwiderte den Gruß.
Dann stapfte er auf ihre Haustür zu und rieb sich die Hände. „Guten Morgen, Gregor!" Nachdem sie ihm die Tür geöffnet hatte, nahm sie ihn kurz in den Arm. Seine Augen leuchteten und er klopfte ihr ungeschickt auf die Schulter.
Gregor und sie waren fünf Jahre lang feste Streifenpartner gewesen. Lisa hatte früh gemerkt, dass ihr Herz nicht am täglich wechselnden Dienst in der Stadt hing, dafür umso mehr an dem stillen Kollegen, der immer ihren Rücken schützte. Der Glanz der Straße war schnell verblasst. Immer häufiger hatten sie es mit Diebesbanden, Drogendealern und Fällen häuslicher Gewalt zu tun gehabt. Die Tätigkeit war wichtig, keine Frage, aber sie verschaffte ihr keinen Kick. Meistens hatte sich Lisa wie Don Quichotte gefühlt, der gegen Windmühlen ankämpfte. Die Diebe und Dealer kehrten nach kurzer Zeit wieder auf ihre Straßen zurück, und die misshandelten Partner ließen ihre Peiniger wieder in die gemeinsame Wohnung. Es war frustrierend gewesen.
Eines Tages hatte Gregor sie gefragt, was sie beruflich planen würde, wenn er schließlich in Pension gehen würde. In einem ruhigen Moment zwischen Fischbrötchen und Limonade hatte Lisa ihm erzählt, dass sie davon träumen würde, sich bei der Polizeihubschrauberstaffel zu bewerben. Er hatte sich alles angehört und wie immer nicht viel gesagt. Lisa erinnerte sich noch gut an diesen Tag. Es war Frühling gewesen und sie hatten eine kurze Pause genutzt, um sich das erste Eis des Jahres zu gönnen. Für Gregor gab es Zitrone und Haselnuss, immer und ohne Ausnahme. Es war eine von seinen ganz kleinen Schwächen, dass er sehr vorhersehbar war. Immer die gleiche Eissorte, immer den gleichen gepflegten Kurzhaarschnitt und von seinem Bekleidungsstil wollte sie gar nicht anfangen. Tage, an denen er sich nicht für den Dienst einkleiden konnte, stellten wahrscheinlich immer eine Herausforderung dar. Einmal hatte Lisa ihn durch Zufall in der Stadt gesehen, die dunklen Haare vom Wind zerzaust und aufgrund seiner legeren Jeans und T-Shirt Kombination zunächst überhaupt nicht erkannt. Gregor tat grundsätzlich nie etwas Überraschendes.
Bis er paar Wochen später eine aktuelle Ausschreibung für eine Pilotenposition auf ihren Arbeitsplatz gelegt hatte. Gregor hatte ihr gestanden, dass ihm der Nachtdienst immer mehr zu schaffen machte und er sich wünschen würde, seine letzten Jahre im Tagesdienst zu verbringen. Zwar hatte sie diesen Wunsch nicht kommen sehen, doch konnte sie sich seinen Wechsel gut vorstellen. Im Umgang mit Menschen war er eine Geheimwaffe. Jeder schien sich ihm anvertrauen zu wollen, und er war ein wahnsinnig guter Zuhörer.
Also bewarb sich Lisa bei der Staffel, bestand tatsächlich den Aufnahmetest beim Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin in Hamburg und absolvierte anschließend erfolgreich die fast zweijährige Ausbildung zur Hubschrauberpilotin. Der Tag, an dem sie ihr Zertifikat in den Händen hielt, war der glücklichste Tag ihres Lebens. Dicht gefolgt von der schlimmsten Woche, in der ihr Ex, von Sarah liebevoll Mr. Arsch genannt, ihr mitgeteilt hatte, dass die Beziehung mit ihr ein Fehler wäre. Ein Fehler. Weil er sich nicht selbst entfalten konnte. Oder wohl eher, weil ihr Erfolg seinen bei weitem überstrahlte. Lisa schüttelte den Kopf und verdrängte alle Erinnerungen an Mr. Arsch aus ihrem Kopf.
Gregor hatte direkt nach ihrem Wechsel zur Staffel eine offene Stelle als Kontaktbeamter erhalten. Seit Lisa im Sommer in die Doppelhaushälfte ihrer Großmutter gezogen war, trafen sie sich alle zwei Wochen auf einen Kaffee bei ihr und plauderten. Nachdem sie jetzt offiziell in Gregors Zuständigkeitsbereich wohnte, war es für ihn das Natürlichste der Welt, bei ihr vorbeizuschauen. Lisa war dankbar dafür. Der ältere Kollege war für sie das, was einer Vaterfigur am nächsten kam.
Bei einer Tasse schwarzem Kaffee gelang es Lisa immer, Gregor ein paar private Kommentare zu entlocken. So erfuhr sie, dass er seine Kochleidenschaft weiter ausgebaut und sich einen Büchereiausweis zugelegt hatte. Er klang zufrieden. Fast glücklich. Und einsam. Manche Menschen, wie sie selber, kamen alleine gut zurecht. Andere brauchten jemanden, um den sie sich kümmern konnten.
„Was ist eigentlich aus deinen Überlegungen geworden, dir wieder einen Hund zuzulegen?"
Gregor zuckte mit den Schultern und schaute aus ihrem Küchenfenster hinaus. „Meine Wohnung ist zu klein."
„Aber du hattest doch diese Hündin erwähnt, die aus dem Tierheim. Wie hieß sie nochmal?"
„Trixie. Ein aufgewecktes Mischlingsmädchen. Ich glaube, da steckt Spitz und Labrador drin." Sein Lächeln wirkte echt, wenn auch ein bisschen traurig. „Ich gehe am Wochenende oft mit ihr Gassi. Aber sie zu mir zu holen, wäre einfach nicht fair. Immerhin wäre sie ja immer allein, wenn ich arbeiten bin."
Auch wenn es schade war, hatte er damit recht. Und Gregor war einfach zu verantwortungsbewusst, um nur an sich zu denken. Sie wechselte das Thema. Nachdem sie vom neuesten Besucher ihrer Großmutter berichtet hatte, drückte er verständnisvoll ihre Hand und sie verabschiedeten sich. Gregor versprach noch, ihr beim nächsten Besuch eine kulinarische Kostprobe mitzubringen, dann wanderte er wieder die Straße hinauf. Als er ihren Vorgarten passierte, schüttelte er vorwurfsvoll den Kopf. Auch ohne, dass er darüber Worte verlor, wusste sie, was er meinte. Ihr Großvater war ein passionierter Gärtner gewesen, der jede freie Minute damit verbracht hatte zu düngen, zu ernten oder sonstige anstehende Arbeiten im Grünen durchzuführen. Die letzten sechs Jahre nach seinem Tod hatte Oma Trude sich auf das Nötigste beschränkt und Lisa einen recht pflegeleichten Garten übergeben. Vier Monate später sah der Grünbereich vor ihrem Eingang nahezu verwahrlost aus. Sie hatte einfach keinen grünen Daumen.
Als sie die Tür gerade schließen wollte, sah sie Darrer, der offensichtlich gerade von einer Laufrunde zurückkehrte, als ob ihre Gedanken ihn heraufbeschworen hätten. Die enge Sportbekleidung betonte seine athletische Figur. Er schien ihre Gedanken lesen zu können und grinste spöttisch zu ihr hinüber. Schweißtropfen liefen seine Schläfen entlang. Sie ließ sich kurz davon ablenken, wartete aber zu lange. Sein leises Lachen verfolgte sie, als sie es schließlich doch schaffte die Tür zu schließen und ihn neben seinen Büschen stehen zu lassen. Selbst ihr Nachbar schien sich besser mit seinen Pflanzen zu verstehen als sie. Das einzige Wesen mit Blättern, das offenbar in tiefer Liebe zu Lisa entbrannt war, hieß Konrad, ein robuster Benjamini. Sie hatte Konrad vor sieben Jahren von den Vorgängern der Wohngemeinschaft übernommen, in die sie in ihrem letzten Studienjahr an der Polizeiakademie gezogen war. Konrad hatte nur noch drei Blätter besessen und wurde bis zum letzten Tag nur mit Bier versorgt. Seine traurige Gestalt hatte ihr Herz erweicht. Zwischen Lernen und Vorbereitung hatte sie ihn gegossen und geliebt. Er war auch die erste Grünpflanze, die sich tatsächlich von ihr aufpäppeln ließ. Ihr Opa hatte ihr erklärt, dass Konrad wahrscheinlich in der Pflanzenhölle seine Seele verkauft hatte. Für Lisa funktionierte diese Erklärung so gut wie jede andere. Sie liebte Konrad und er liebte sie. Mittlerweile hatte er die Decke erreicht und sie tätschelte zufrieden seine grünen Blätter, als sie an ihm vorbei Richtung Küche wanderte.
***
Gleich nachdem sich Gregor von Lisa verabschiedet hatte, begann er seine Route für den laufenden Tag zu planen. Kritisch betrachtete er den düsteren Himmel. Keine Frage, es näherte sich wieder der Winter. Vielleicht sollte er sich mit den örtlichen Schule abstimmen und Schulwegsicherungen betreiben.
Andererseits sollte sich auch jemand einen Überblick über die aktuellen Obdachlosenzahlen verschaffen, jetzt wo es so kalt wurde.
Während er das Für und Wider seiner Ideen abwog, wurde er durch eine leise weibliche Stimme aus seinen Überlegungen gerissen. Sie klang wie warmer Honig, hatte eine versteckte rauchige Note und viel Tiefe. Er achtete auf solche Details, eine Stimme war ein viel direkterer Hinweis auf eine Persönlichkeit.
„Hallo, entschuldigen Sie!" Gregor drehte sich um und starrte die kleine Frau vor ihm überrascht an. Sie wirkte etwas jünger als er, vielleicht Mitte Fünfzig. Blonde mittellange Haare, zierlich, alles in allem etwas unscheinbar. Bis auf die Augen und diese wundervolle Stimme. Er versank förmlich in den mitternachtsblauen Iriden, die ihn neugierig musterten.
„Ich wollte nur 'Danke' sagen. Oder vielmehr 'Dankeschön'", fügte die Frau hinzu und lächelte. Nein, unscheinbar war sie nicht. Ihr Lächeln erhellte den trüben Tag.
Unbeholfen fuhr sich Gregor mit der Hand durch die grau melierten Haare. „Ich verstehe nicht ganz?"
„Entschuldigen Sie, ich bin so ungeschickt. Immer mit der Tür ins Haus, pflegt mein Sohn zu sagen." Wieder dieses perlende Lachen. „Ich wollte mich bedanken. Nun, da Sie regelmäßig hier in der Gegend patrouillieren, fühle ich mich viel sicherer."
Gregor räusperte sich, doch keine schlaue Erwiderung wartete in seiner Kehle. Sein Talent war eindeutig das Hören.
Nachdenklich musterte die Frau ihn. „Sie sind kein Mann vieler Worte, nicht wahr?"
Gregor dachte darüber nach, dann nickte er.
„Das macht nichts. Ich rede genug für zwei, heißt es." Dann schaute sie zurück zu ihrem kleinen Häuschen. „Ich sollte dann mal wieder reingehen. Es war schön, Sie kennengelernt zu haben."
Aufmerksam schaute sie auf sein Namensschild. „Herr Greifenberg." Als sie sich zum Gehen wandte, riss sich Gregor zusammen. „Gleichfalls, Frau...?" Seine eigene Stimme klang rau, als ob er sie lange nicht genutzt hätte.
Soviel zu Lisas Meinung, er könnte so gut mit Menschen umgehen. Menschen vielleicht, aber hübsche Frauen standen auf einem ganz anderen Blatt. Sie drehte sich wieder zu ihm um. „Kramer. Marianne Kramer." Ein strahlendes Lächeln, dann ging sie zurück.
Er beobachtete sie, wie sie den liebevoll angelegten Vorgarten passierte und sich auf dem Weg an beide Wangen fasste. An ihrem Vordach baumelte ein einsames Windspiel, das ihren Rückweg mit leisen Tönen untermalte. Vor ihrer Haustür drehte sie sich erneut um, und Gregor fasste sich mit zwei Fingern grüßend an die Mütze. Fröhlich winkte sie zurück und verschwand im Haus.
***
Nachdem sich die Kommentare zu Konrad häufen:
Das ist Konrad. In meinen Besitz ist er 2002 übergegangen. Es geht im immer noch gut. Leider habe ich kein "vorher" Foto. Stellt euch doch eine kleinere Variante mit drei Blättern vor, die stark nach Bier roch... 😅
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