15 - Paul
Veränderungen begünstigen nur den, der darauf vorbereitet ist.
Louis Pasteur
Paul schaute auf seine Uhr und fluchte leise. Dank der Handwerker hatte er eine Verspätung von sieben Minuten und sein Vater hasste es, wenn er warten musste. Dafür würde er ihn leiden lassen. Wenigstens spielte das Wetter mit. Der Regen hatte aufgehört und abgesehen von den Pfützen wirkte es trocken.
Schnell joggte Paul vom Parkplatz zu ihrem Treffpunkt an der kleinen Brücke. Seine Füße machten keinen Laut, die abgeworfen Blätter dämpften alles und er genoss die feuchte Luft in seinen Lungen. Schon von weitem erkannte er die Statur seines Vaters, der bereits damit beschäftigt war, Dehnübungen zu machen.
Beim Näherkommen musterte er die drahtige Gestalt des Marathonläufers. Mit dreiundfünfzig Jahren machte sein Vater wirklich noch eine gute Figur. Lediglich sein Haar war etwas schütterer geworden, doch dank der liebevollen Pflege seiner Mutter war Jürgen Darrer mehr als gut in Schuss.
Sein Vater schien ihn zu spüren, vielleicht durch irgendeinen mysteriösen Vatersensor und drehte sich zu ihm um.
„Tut mir leid, Papa", entschuldigte sich Paul zur Begrüßung und beide tauschten eine kurze Umarmung, „Ich habe Handwerker im Haus und musste ihnen erklären, was sie zu tun haben. Mehrfach."
Sein Vater wirkte abgelenkt, als ob ihn etwas beschäftigen würde. „Ist nicht schlimm. Es sind ja nur neun Minuten.
Nicht schlimm? Wer war dieser Mann und wieso sah er so aus wie sein Vater?
Sein Vater zögerte kurz, dann trabte er langsam los und Paul nahm seinen Platz auf der rechten Seite ein.
„Denkst du, es ist eine gute Idee, Handwerker unbeaufsichtigt zu lassen?", fragte sein Vater nachdenklich.
Paul zuckte mit den Schultern. „Bei dem Lärm, den sie machen werden, möchte ich ehrlich gesagt gar nicht daheim sein."
„Wir hätten auch verschieben können."
Mit einem kleinen Sprung setzte er über einen Ast, der seine Seite des Weges blockierte. „Nein, das passt schon. Immerhin sollen sie heute nur die Wand zwischen den Gästezimmern einreißen. Was soll da schon schiefgehen? Es ist ja nur eine Wand."
„Dann geht es jetzt endlich mit dem nächsten Teil des Umbaus los?" Fast unmerklich zog sein Vater das Tempo an und Paul passte sich an.
Neben ihnen sah er ein Entenpaar über den See schwimmen, der Erpel immer zwei Längen hinter seiner Auserwählten. Es erinnerte ihn daran, wie er Schneewittchen verfolgt hatte. Ob der Vogel wohl auch die Aussicht genoss?
Kopfschüttelnd konzentrierte er sich wieder auf das Hier und Jetzt. „Ja, der Umbau. Im Ergebnis lasse ich nur die Wände versetzen, damit ein Badezimmer hineinpasst. Eine Dusche ist einfach zu wenig, wenn man einen Fitnessraum und drei Brüder hat."
Sein Vater warf ihm einen Seitenblick zu und Paul sah die Traurigkeit in seinen Augen. Trauer, aber auch Stolz. „Mein Bruder wäre so glücklich darüber, dass ihr vier Jona so gut angenommen habt." Pauls Onkel Heinrich war in einer schicksalshaften Nacht nach Ostern von seinem Kurztrip nach Paris nicht mehr zurückgekehrt, weil er und Tante Andrea von einem Idioten gerammt worden waren. Sowohl die jungen Eltern als auch der Unfallverursacher waren noch an der Unfallstelle verstorben und Jona, der die Tage bei ihnen verbracht hatte, war einfach da geblieben. Mit seinem Onkel, der Tante und Torben hatte er einfach schon zu viele Menschen verloren, an denen er hing und so zuckte Paul nur mit den Achseln. Cousin, Bruder – die Bezeichnung war doch egal. Blut war Blut.
Sein Vater klopfte ihm gegen den Arm und schweigend liefen sie weiter um den See.
Durch den morgendlichen Regen hatten sich Nebelschwaden gebildet, die dem ganzen See eine unwirkliche Note verliehen. Erst als sie die Promenade am Nordufer erreichten, ergriff sein Vater wieder das Wort. „Hast du dir schon überlegt, was du nach dem Fechten machen möchtest?"
Ein gutes Thema nach dem anderen. Paul versuchte, den Zynismus abzuschütteln und eine gute Antwort zu finden. „Ich bin noch in der Findungsphase", erklärte er schließlich und war selbst unzufrieden mit seiner Antwort.
Sie wichen einem Radfahrer aus, der viel zu schnell über die Strecke sauste. „Vielleicht ist die Antwort gar nicht so schwierig." Bei den Worten zog sich Pauls Bauch fast schmerzhaft zusammen. Ungerührt fuhr sein Vater fort. „Schau, Jona hat den Anteil seines Vaters an der Firma schon vor Jahren übernommen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass ich etwas langsamer trete und die Agentur nach und nach an dich übergebe."
Paul schloss kurz die Augen. Es würde also eine solche Art von Gespräch werden. „So alt bist du doch noch gar nicht." Erneut bemühte er sich, um seinen Hals aus der väterlichen Zukunftsschlinge zu ziehen. Mit dem Schnauben machte sein Vater klar, dass es ein untauglicher Versuch gewesen war. Paul stellte sich dem Unvermeidlichen, während sie Seite an Seite zwischen den Bäumen entlangliefen. „Es ist wahrscheinlich nur natürlich, dass du mir das anbietest", begann er.
„Natürlich? Ich habe vier eigene Kinder, die alle kein Interesse an einer gut gehenden Werbeagentur haben. Das erscheint mir eher unnatürlich." Das Brummen seines Vaters klang frustriert, „Weißt du, deine Mutter und ich haben uns damals Sorgen gemacht, dass ihr euch darum streiten könntet."
„Es ist ja nicht so, dass ich nicht möchte. Ich will nur auf eigenen Beinen stehen." Um nichts in der Welt wollte er seinen Vater beleidigen, aber dieser Punkt war ihm einfach wichtig. „Schau, ich habe in meinem Leben nichts erreicht.."
„Abgesehen von den paar Pokalen, meinst du?"
Paul wischte diesen Einwand mit einer schnellen Handbewegung beiseite: „Nichts, was mich für eine Geschäftsführerposition qualifizieren würde. Ich habe nicht studiert und einfach keine Ahnung von dem Job."
„Aber du bist mein Sohn", stellte sein Vater klar.
Sie umrundeten den See das erste Mal und überquerten wieder die Brücke, an der sie sich zu Beginn getroffen hatten. „Genau!" Geduldig versuchte er eine Balance zwischen Ablehnung und Höflichkeit zu finden. „Aber ich möchte nicht von Beruf Sohn sein. Ich möchte, dass Mama und du wissen, dass ich mir mein Leben selbst erarbeitet habe. Ich bin über dreißig und habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was ich nach dem Fechten machen will. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass ich es herausfinden werde."
Sein Vater schwieg eine lange Zeit, wie er es immer tat, wenn er Informationen verarbeitete. Dann tätschelte er Paul den Arm: „Weißt du, Pauli. Manchmal denke ich, Mama und ich haben es bei deiner Erziehung zu gut gemacht. Mir gefällt dein Standpunkt nicht, aber ich verstehe ihn. Und was immer du tust, wir stehen hinter dir. Ob du das nun willst, oder nicht." Über den letzten Satz musste Paul lachen. Doch sein Vater war noch nicht fertig. „So, und nun lass uns mal ein anständiges Tempo vorlegen." Lächelnd beschleunigte sein alter Herr und Paul war klar, dass dies nun die Quittung für die Verspätung sein würde.
Als er nach eineinhalb Stunden nach Hause kam, begrüßte ihn Moses an der Tür mit einem aufgeregten Maunzen. Aus dem ersten Stock ertönten Stimmen. Er identifizierte die eher knurrigen Laute seiner beiden Handwerker, die gerade von einer aufgeregten Frau angeschrien wurden. Verblüfft blieb er stehen. Es klang fast so, als ob dort oben gleich ein Verbrechen stattfinden würde und wenn ihn nicht alles täuschte, brüllte Schneewittchen gerade die Arbeiterzwerge an.
Mit vier schnellen Schritten war er die Treppe hinauf. Was machte seine Nachbarin in seiner Haushälfte?
Lisas Blick traf ihn wie eine Keule, die sie durch den Raum warf. Ihre Augenbrauen waren vor offensichtlicher Wut zusammengepresst und ihr Gesicht wurde sehr feindselig, als er schließlich durch die Tür hechtete. Wie erwartet mussten hier eher die Handwerker gerettet werden. Abrupt blieb er stehen und nahm die Situation in sich auf. Lisa hatte einen Bademantel an, ein Ungetüm aus weißem Frottee, das nur ihren Kopf und ihre Füße frei ließ. Ihre langen Haare waren nass und sie schien sich weder für ihren Aufzug noch für die Tatsache, dass sie in seinem Gästezimmer stand, sonderlich zu interessieren. Die Handwerker strahlten eine uninteressierte Gelassenheit aus, wie sie nur jemand nach jahrelanger Arbeitserfahrung erhalten konnte. Dennoch nickte der ältere der beiden Männer ihm erleichtert zu, da die nasse Frau nun zu Pauls Problem geworden war.
Aber am beeindruckendsten war das große Loch in der Wand hinter Lisa, das einen guten Blick in ihr Schlafzimmer gewährte. Irritiert schaute er zu den Handwerkern. Der Ältere goss sich ein dampfendes Getränk aus einer Thermoskanne in einen Becher, während der Jüngere in ein mitgebrachtes Brötchen biss. „Was ist denn hier los?", fragte Paul schließlich.
Lisa deutete wütend auf das Loch hinter ihr. „Diddeldum und Diddeldei sagen, dass du ihnen den Auftrag gegeben hättest, die Wand zu durchbrechen." Fast schien Dampf aus ihren Ohren aufzusteigen und Paul wunderte sich, dass ihre Haare noch nicht von allein getrocknet waren. Die dunkelbraune Masse hatte sich aus dem Dutt im Nacken gelöst und floss nun ungebärdig über den Kragen ihres Bademantels.
Paul schüttelte nur den Kopf und zeigte auf die Wand, welche die beiden Gästezimmer voneinander trennte. „Diese Wand sollte weg!"
„Oh", machte der Ältere und kratzte sich am Kopf. „Das ist jetzt blöd", fügte sein Kollege hinzu. Beide wechselten einen Blick und fingen an, ihre Werkzeuge zusammenzupacken.
Lisa reagierte schneller als er. „Moment einmal", brüllte sie, „Sie wollen doch nicht einfach so verschwinden?"
Der Ältere – Paul beschloss, dass Diddeldum ein guter Name für den Mann war – zuckte nur mit den Schultern. „Bei Problemen muss immer der Vorarbeiter her. Da können wir nichts machen."
„Dann rufen Sie ihn an", zischte Lisa.
„Geht nicht." Diddeldei verspeiste den letzten Bissen und ging mit dem Hammer unter dem Arm an Paul vorbei. „Der ist im Urlaub."
„Halt, das geht nicht." Paul stellte sich zwischen den Mann und die Tür. „Das Loch muss weg."
Diddeldum schaute ihn an, als ob er ernstlich an Pauls Intelligenz zweifeln würde. „Löcher kann man nicht wegmachen."
„Keine Sorge", tätschelte ihm Diddeldei den Arm, „Der ist nächste Woche wieder da. Er ist nur auf Malle. Dann wird er ihr Häuschen hier gleich als erstes angehen." Diddeldum nickte bestätigend und packte seine Thermoskanne ein.
Fassungslos sah er zu, wie sich die beiden auf den Weg machten, selbst Schneewittchen hatte es die Sprache verschlagen. Als unten die Haustür ins Schloss fiel, fand sie aber schnell ihre Sprache zurück.
„Das ist jetzt nicht wahr, oder?", flüsterte sie. Ihr Blick wanderte immer wieder zur Tür zurück, als ob sie erwarten würde, dass Diddeldum und Diddeldei zurückkehren würden, um laut ‚Überraschung' zu brüllen.
Paul räusperte sich. Irgendwie war es natürlich unangenehm, auf der anderen Seite aber auch lustig. Lisa stand direkt in seinem Gästezimmer, ein Meer aus Schutt lag zu ihren Füßen und das Loch in der Wand gewährte einen großzügigen Blick auf ihr Bett. Alles war in Weiß- und Lilatönen gehalten – verspielt und gleichzeitig erwachsen. Es passte zu Schneewittchen.
Seine Mundwinkel zuckten.
„Finden Sie das etwa witzig?", brauste Lisa sich auf und Paul konnte nicht mehr und lachte, bis er Tränen in den Augen hatte. Das war ihm schon lange nicht mehr passiert.
Lisa wartete mit ab, bis er sich soweit wieder beruhigt hatte, dass er ein paar Worte hervorbringen konnte. Ihre ganzer Körper strahlte Ungeduld aus, von der klopfenden Fußspitze bis zu der pochenden Ader auf ihrer Stirn.
„Wissen Sie", keuchte Paul schließlich, „mein Vater hat mir gerade noch gesagt, dass man Handwerker nicht unbeaufsichtigt lassen sollte. Ich hab ihm gesagt: Es ist ja nur eine Wand, was soll da denn passieren."
Lisa schien es nicht so lustig zu finden und starrte ihn böse an.
Paul kicherte weiter. „Es tut mir leid, wirklich." Tief atmete er ein und aus. „Ich werde mich darum kümmern, versprochen."
„Natürlich werden Sie das." Lisas kalter Tonfall machte ihn wieder etwas ernster. Mit gestrafften Schultern drehte Lisa sich um und kletterte über den Schutthügel zurück in ihre Seite des Hauses.
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