14 - Lisa

Wo viel Licht ist, ist starker Schatten

Johann Wolfgang von Goethe

Lisa mochte die Sonderdienstwoche bei der Hubschrauberstaffel. Alle Schichten durchliefen einen Fünf-Wochenrhythmus. Vier Wochen lang wechselte ihr Dienst täglich, von Frühdiensten zu Spätdiensten zu Nachtdiensten. Aufgrund der Flugregelung mussten zwölf Stunden Pause zwischen den Schichten liegen, was ihren Tagesablauf zugegebenermaßen etwas unbeständig machte. In der fünften Woche jedoch hatte sie Tagesdienst, wie jeder andere Arbeitnehmer auch von 08:00 Uhr bis zum Nachmittag. Hier wurden Aufträge erledigt, die Zeit hatten, seien es Fotoanfragen, Sachbearbeitung oder die Dienstschicht mit einer zweiten Maschine unterstützt. Jedenfalls war es ein guter Bruch im unbeständigen Alltag, um wieder etwas Ruhe und Regelmäßigkeit einkehren zu lassen.

Ihr Vormittag stand ganz unter dem Zeichen der klassischen Büroarbeit. Seit Stunden saß sie mit Erwin, dem Leiter der Qualitätssicherung, zusammen und überarbeitete das Handbuch. Nachdem die englischen Buchstaben schon langsam vor ihren Augen herumtanzten, war sie nicht unglücklich, als Johann in der Tür stand.

„Na, wie läuft es bei euch? Kommt ihr voran?"

„Willst du mir meine Hilfe stehlen?", brummte Erwin, ohne den Blick zu heben.

Johann zwinkerte ihr zu: „Wir müssen noch den Ersatzhubschrauber nach Rastede bringen."

Lisa richtete sich auf und legte die Stifte beiseite. Den Flug zur Teilstaffel hatte sie fast vergessen. Rastede lag nördlich von Oldenburg, nur fünfundzwanzig Kilometer von der Nordsee entfernt. Nachdem Niedersachsen nach Bayern das Bundesland mit der größten Fläche war, gab es im Westen noch die Teilstaffel, um alles abzudecken. So konnte gewährleistet werden, dass jeder Teil des Landes innerhalb von dreißig Minuten mit einem Hubschrauber versorgt werden konnte. Mit einem gespielt traurigen Blick erhob sie sich und schaute zu Erwin. „Ja, wenn das so ist... dann muss ich wohl los."

Der Angesprochene warf ihr einen misstrauischen Blick über seine Brille zu. „Ist klar. Ich danke dir für deine Unterstützung, Lisa. Guten Flug."

Lisa unterdrückte ein Grinsen und folgte Johann hinaus. „Danke für die Rettung, Chef."

„Du hast lange genug ausgehalten. Es wird Zeit für ein wenig Spaß."

Sie schnappten sich ihre Ausrüstung und gingen in die Flughalle. Rastede war lediglich ein Stützpunkt und verfügte über keine eigene Werkstatt. Sie konnten zwar kleinere Dinge vor Ort regeln, aber die richtigen Reparaturen und Wartungen mussten von ihrer Werkstatt in Hannover geleistet werden.

Nun stand für die Oldenburger Maschine eine der größeren Wartungskontrollen bevor und es war Aufgabe des Sonderdienstes, die Maschinen auszutauschen. Lisa mochte die Besuche bei der Teilstaffel. Aufgrund der Gebietseinteilung kam sie nicht allzu oft dazu, in diese Gegend zu fliegen und sie liebte das Meer. Außerdem machten die Oldenburger Kollegen großartigen Tee mit Kandiszucker.

Schon nach kurzer Zeit erreichten sie ihren Zielort und sie drehte noch eine Extrarunde über den Jadebusen. Während es bei ihrem Abflug in Hannover noch geregnet hatte, begrüßte sie hier der schönste Sonnenschein und sorgte für eine erstklassige Sicht. Das Meer glitzerte in der Herbstsonne und lockte sie. Es wurde einmal wieder Zeit für einen Strandspaziergang.

Nachdem Rastede in keiner regulären Flugzone lag, verlief ihre Landung wesentlich unkomplizierter. Hier mussten sie nicht auf die Freigabe und Koordinierung durch den Tower warten, sondern konnten direkt auf den kleinen Landeplatz des Geländes zufliegen.

Die Rasteder Maschine stand schon auf dem Vorplatz für ihren Rückflug bereit und Achim, der Leiter der Teilstaffel, kam zur Begrüßung heraus.

„Moin", rief er ihnen schon von Weitem zu. Achim war ein Kollege von beeindruckender Größe. Obwohl Lisa selbst den einen oder anderen Kollegen überragte, war der Leiter bestimmt über 190 cm groß. Es musste schwierig für ihn sein, im Cockpit genügend Platz für seine Beine zu finden.

„Hallo", lächelte Lisa und Johann schüttelte Achims ausgestreckte Hand.

„Guten Flug gehabt?", fragte der Kollege und winkte gleich zwei seiner Kollegen zu, die ihnen die Reservemaschine abnahmen.

„Bei euch ist das Wetter besser", antwortete Johann und sie folgten Achim hinein.

„Nicht nur das Wetter. Wir haben Tee für euch gemacht und Schmidti hat Kuchen besorgt."

Lisa nahm an dem massiven Holztisch Platz und freute sich über die ostfriesische Gastfreundschaft. Sie tauschten Neuigkeiten aus und Lisa musste die Glückwünsche der Kollegen über ihre Nominierung über sich ergehen lassen. Während Johann davon erzählte, dass die Polizeiführung plante, in den nächsten fünf Jahren mit ein paar Millionen Euro ihre Flotte zu erweitern, schaute sie sich entspannt um.

Die Teilstaffel war wesentlich kleiner und daher auch gemütlicher. Überall waren Spuren der ostfriesischen Lebensart zu finden, seien es die blauweißen Tischdecken oder die Holzmöbel. Hier war wesentlich mehr Wert auf Optik als auf praktische Erwägungen gelegt worden.

Viel zu schnell wurde es wieder Zeit für ihren Rückflug und Lisa überließ Johann das Steuer, damit auch er auf seine Flugstunden kam. Bei ihrer Landung in Hannover stellte Lisa fest, dass sich das Klima verändert hatte. Wo am Morgen noch Entspannung geherrscht hatte, lag nun alles unter einer unangenehmen, fast vorwurfsvollen Grundstimmung verborgen. Gemeinsam arbeiteten Johann und Lisa die Prüfliste für die Landung ab. Dann sah sie schon Christian, der mit einem verbissenen Gesichtsausdruck auf sie zueilte.

Johann nickte ihr auffordernd zu. Ungern entfernte sie sich, auch wenn das den Wünschen ihres Chefs zu entsprechen schien. Ohne Zeit zu verschwenden schimpfte Christian gleich los, auch wenn sie schon zu weit entfernt war, um genaue Worte zu verstehen. Johann straffte die Schultern und richtete sich auf. Lisa hatte ihn noch nie so wütend gesehen und sie überlegte, ob sie nicht doch zu ihm zurückkehren sollte. Dann öffnete sich hinter ihr die Tür.

„Ist es also wahr?" Die ölige Stimme von Phillip ertönte hinter ihr und rief sie auf ihr eigenes Schlachtfeld.

„Was ist wahr?"

„Dass Johann dich als Nachfolger vorgeschlagen hat."

Daher wehte also der Wind. „Gute Nachrichten verbreiten sich schnell." Sie zeigte beim Lächeln ihre Zähne. Dabei war sie sich noch gar nicht sicher, ob sie diesen Posten überhaupt haben wollte.

„Ich hätte schon gedacht, dass er da objektiver ran geht."

Lisa wurde sauer. „Sag doch, was du unbedingt loswerden willst."

Phillip baute sich vor ihr auf. Seine geschniegelte Erscheinung stand im krassen Widerspruch zu der Empörung in seinen Augen. „Ich hätte gedacht, dass es hier auf Leistung ankommt."

Lisa sah ihm direkt in die Augen. „Wenn es so wäre, hättest du aber leider überhaupt keine Chance."

Phillip sah kurz so aus, als ob er ihr gerne vor die Füße gespuckt hätte, doch dann besann er sich eines Besseren und ging zu seinem Chef.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top