13 - Paul
Das Schlimmste in allen Dingen ist die Unentschlossenheit.
Napoleon
Paul machte es sich versonnen in seinem Großvatersessel gemütlich. Draußen regnete es und die Sonne versteckte sich hinter dicken grauen Wolken. Es war einer dieser Tage, an denen man nicht vor die Tür gehen wollte. Missmutig streckte er seine langen Beine aus und drehte das Leselicht auf. Schon allein die Tatsache, dass er ein solches schon am Vormittag benötigte, trübte seine Laune. Moses leistete ihm Gesellschaft und hatte sich auf der Fensterbank zusammengerollt. Offenbar war das ein kätzischer Kompromiss zwischen draußen und drinnen, immer am Puls der Zeit doch trotzdem im Warmen. Sanft trat eine Pfote gegen die Scheibe und folgte einem Regentropfen. Mit einem Fuß zog Paul an seinem Fußhocker und griff nach seinem Buch.
Er war noch nicht weit gekommen, als sein Handy einen Ton von sich gab, der irgendwo zwischen Großkatze und Bär rangierte und damit perfekt zu seiner Schwester passte. Daher war es auch ihr personalisierter WhatsApp-Ton. Sorgfältig legte er sein Lesezeichen in den Krimi, den er gerade las und griff nach dem Telefon.
Hast du dir schon über das Angebot Gedanken gemacht? Wie gewohnt hielt sich Marlene nicht lange mit Höflichkeitsfloskeln auf. Obwohl sie dieselbe liebevolle Erziehung genossen hatten, war sie wesentlich burschikoser als er. Wo er auf Charme und Taktik setzte, nutzte sie lieber eine Brechstange, um ihren Willen durchzusetzen. Die Wand, die Marlene aufhalten konnte, war noch nicht gebaut worden.
Seufzend tippte er. Ich denke noch darüber nach. Es war noch nie eine gute Idee gewesen, Lene warten zu lassen.
Denk schneller.
Paul grinste. Seit man ihn im letzten Jahr zum Sportler des Jahres gewählt hatte, waren ihm immer mehr Anfragen zu verschiedenen Projekten übermittelt worden. Mal sollte er ein Produkt vermarkten, mal auf irgendeiner Veranstaltung erscheinen. Er hatte sich nie gerne mit diesen Dingen beschäftigt, im Gegensatz zu Marlene. Sie hatte nur einen Blick auf seinen überquellenden Briefstapel geworfen, sich dann Zugang zu seinem Email-Account erzwungen und ihm dann einen langen vorwurfsvollen Blick zugeworfen. Man sollte nicht glauben, dass eine kleine Schwester in der Lage war, so abgeklärt zu wirken, aber Marlene war in vielen Dingen einzigartig. Sie hatte ihm angeboten, das Chaos zu übernehmen, wenn er sich darauf einließ, zu tun, was sie sagte. Die Entscheidung war ihm nicht schwer gefallen. Er hasste Korrespondenz und nachdem Marlene als Personaltrainer sogar einen Beruf gefunden hatte, indem sie anderen Menschen für Geld Befehle erteilen konnte, war sie tatsächlich sehr gut in dem, was sie tat. Was nichts daran änderte, dass er ihre Methoden meistens nicht mochte.
Ich weiß, dass Geduld deine große Stärke ist. Bedenke, dass es nicht allen von uns so geht. Das klang unerwartet zahm für seine Schwester. Eventuell hatte sie gerade irgendeinem armen Kerl die Eier zerquetscht und war in guter Stimmung.
Moses warf ihm einen mitleidigen Blick zu. Neben ihrem Vater war er das einzige männliche Wesen auf diesem Planeten, das nicht Angst verspürte, wenn Marlene auf dem Kriegspfad war.
Schnell tippte er eine Antwort ein. Nachdem du offensichtlich möchtest, dass ich es tue, nehme ich den Auftrag natürlich gerne an.
Du bist schlauer als du aussiehst. Ihre Antwort kam unverzüglich und er hatte keine Ahnung, welche Zauberkräfte sie beherrschte, um so schnell schreiben zu können. Ich schicke dir die Details per E-Mail. Schau rein.
Paul warf sein Handy zur Seite und nahm wieder seinen Krimi zur Hand. Es war nicht so, dass er faul war, nur diese ganzen Verhandlungen ödeten ihn an. Es interessierte ihn nicht, welche Projekte seine wie auch immer geartete Karriere fördern würden, welche interessant waren und welche irrelevant. Nichts davon war wesentlich. Nichts hatte mit Taktik zu tun. Obwohl Marlene rechthatte und Geduld wirklich zu seinen Stärken gehörte, machte ihn diese Ungewissheit über seine berufliche Zukunft verrückt. Vielleicht sollte er einen Kurs besuchen. Gab es für solche Situationen nicht auch Spezialisten? Lebenscoaches oder so?
Auf der anderen Seite fühlte es sich falsch an, diese Entscheidung aus der Hand zu geben. Ein paar Seiten später wurde das arme männliche Opfer gerade von einer Bande mordlüsterner Frauen aufgeschlitzt und er zuckte zusammen. Er hatte sich die ganze Zeit schon gefragt, wofür die Initialen des Autors standen, aber spätestens jetzt vermutete er, dass es sich um eine Frau handelte. Nur das eigentlich zarte Geschlecht konnte auf eine so bestialische Art und Weise das Opfer zurichten. Männer hatten da Hemmungen. Nichtsdestotrotz war die Gesichte gut und die Wendungen überraschend.
Als Moses sich von seinem Platz erhob und sich in Richtung Küche aufmachte, stellte Paul erschrocken fest, wie viel Zeit er verloren hatte. Dabei hatte er noch einiges zu tun. Diesen Herbst hatte er geplant, sein Haus ein wenig umbauen zu lassen. Die Zimmer im Obergeschoss waren recht klein und er wollte eines davon opfern, um das Bad und die beiden Gästezimmer zu vergrößern. Im Frühjahr hatte er das obere Wohnzimmer zu einem Trainingsraum umbauen lassen, sodass er für sein Grundprogramm nicht mehr das Haus verlassen musste. Er warf einen Blick auf die Uhr. Eigentlich hätten die Handwerker vor einer halben Stunde da sein sollen, damit er ihnen alles zeigen konnte. Der eigentliche Umbau war seit Wochen geplant, aber er wollte sichergehen, dass jeder wusste, was zu tun war.
Sein Handy piepste erneut und er fand eine Nachricht von Melanie. Hallo, du Schöner. Hast du heute Abend schon etwas vor? Nachdenklich kratzte er seinen Nacken. Was sie betraf, sollte er eine Entscheidung treffen. Auf der einen Seite hatte sie wirklich ganz außergewöhnliche Fähigkeiten im Schlafzimmer und auch ihr Einfallsreichtum war, zumindest was Sex betraf, bemerkenswert. Andererseits beschränkte sich viel von ihrer Persönlichkeit auf die Jägerinnenmasche. Er hatte sie in den letzten Tagen dreimal getroffen und fünf Mal gevögelt. Es war gut, aber oberflächlich. Ihre Fragen nach seiner Freundin wurden aufdringlich. Vielleicht malte sie sich doch mehr aus und im Vergleich zu seiner Nachbarin wirkte der Schmetterling langweilig. Wie sollte ein Insekt auch mit einer potenziellen Einbrecherin mithalten?
Lisa spukte immer wieder durch seinen Kopf. Es schien nicht die Beste aller Ideen zu sein, mit seiner Nachbarin anzubandeln. Tatsächlich sprach sogar sehr viel dagegen. Zunächst einmal war da der Umstand, dass es schwierig war, eine oberflächliche Beziehung mit jemandem zu führen, der direkt nebenan wohnte. Mit dem man sich sogar eine Doppelhaushälfte teilte. Wie sollte man sich aus dem Weg gehen, wenn die Chemie nicht mehr stimmte?
Außerdem schien sie eher ein braves Mädel zu sein und Beziehungen bedeuteten Stress. Zumindest wenn man nicht in der Haut seiner Eltern steckte, die seit mehr als dreißig Jahren eine glückliche Ehe führten und das obwohl sie fünf Kinder großgezogen hatten. Es waren damals einfachere Zeiten gewesen. Mann trifft Frau, Frau will Mann. Heirat, Kinder. Kein Rumdeuteln, keine offenen Beziehungen, ganz klassische Liebe. Natürlich hatten auch seine Eltern gestritten, aber nie um so profane Sachen wie die Zeiteinteilung oder Selbstverwirklichung. Heute gab es zu wenige Kompromisse, jeder wollte immer nur seinen Kopf durchsetzen.
Keiner seiner Geschwister hatte etwas Ähnliches wie seine Eltern gefunden und für weniger würden sie sich nicht binden, zumindest nicht langfristig. Das war allen klar. Was ihn wieder zu seiner Nachbarin zurückbrachte, denn einem kurzfristigen Abenteuer war er nicht abgeneigt, ganz und gar nicht. Und sie wahrscheinlich auch nicht, wenn er ihre Signale richtig deutete.
Die Frage aller Fragen war also: Sollte er sie in sein Bett holen oder lieber nicht?
Sein Handy piepste erneut und er verschob die Beantwortung dieser Frage auf später. Heute schien er gefragt zu sein. Die Nachricht stammte von seinem Vater, als ob Paul ihn durch seine vorherigen Gedanken heraufbeschworen hatte. Nachdem Paul die Zeilen gelesen hatte, musste er lachen. Sein Vater besaß das große Talent, mit wenigen wohl platzierten Worten eine Herausforderung auszusprechen, die man schlecht ablehnen konnte. Lust auf eine kleine Runde um den See oder ist es dir zu frisch?
Also stand wieder ein läuferisches Kräftemessen am Maschsee auf dem Plan. Paul machte sich nichts vor. Natürlich war er fast zwanzig Jahre jünger als sein Vater und in Bestform. Es würde kein Problem sein, seinen Vater die ersten zehn Kilometer auf Abstand zu halten. Schwierig waren eher die nächsten zehn Kilometer. Als passionierter Marathonläufer, der gerade erst auf Palma eine beeindruckende Zeit von unter drei Stunden gelaufen war, konnte sein Vater ihm jedes Mal die Flügel stutzen. Die Läufe zwischen ihnen waren ein schönes Ritual, aber was Ausdauer anging, konnte Paul ihm nicht das Wasser reichen, Sportler des Jahres hin oder her. Er warf einen kritischen Blick aus dem Fenster. Regen war für seinen Vater kein Grund, auf einen Ausflug in die Natur zu verzichten. Aber es schien, als ob der Regen etwas nachlassen würde. Moses gähnte und machte klar, wo er die nächsten Stunden verbringen würde. Wenigstens sah er in diesem Moment das Auto des Handwerkers eintreffen, sodass er genug Zeit hatte, ihn herumzuführen.
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