12 - Lisa
"In die Lüfte!" sprach mein Engel. "Dann gib mir Flügel," sagte ich.
Wolfgang J. Reus
Der Stützpunkt der Hubschrauberstaffel befand sich auf dem Areal des Flughafens Hannover, direkt neben der Nordbahn 09L/27R. Ersteres war aufgrund des Sicherheitskonzeptes und der Anbindung äußerst praktisch, letzteres sorgte jedoch dafür, dass sie mit ihrem wendigen Hubschrauber aus der MD-Helicopters Familie ständig den unbeweglichen Flächenflüglern ausweichen musste. Es war merkwürdig, so sehr sie sich schon immer für Hubschrauber begeistert hatte - Flugzeuge interessierten sie einfach nicht.
Sie betrat das zweigeschossige Gebäude und ging zunächst in ihre Umkleide. Da Lisa von Beginn an die erste und immer noch einzige Frau bei der Staffel war, sah der winzige Raum ziemlich unbewohnt aus. Lisa bezeichnete ihn liebevoll als ihre kleine Abstellkammer, denn als das hatte er vor ihrem Eintritt zweifellos gedient. An den Wänden lehnten vier unterschiedliche Kleiderschränke wie müde Soldaten und vor dem winzigen Fenster stand ein metallener Schreibtisch. Aus Mangel an Konkurrenz hatte sie den größten Schrank in Beschlag genommen und verteilte ihre Zivilkleidung immer auf dem einzigen Stuhl.
Schnell zog sie sich aus und schauderte ein wenig aufgrund der kühlen Luft. Ihre Abstellkammer hatte keine eigene Heizung und erhielt Wärme mehr schlecht als recht durch die angrenzende Lagerhalle. Sie schlüpfte in Funktionsunterwäsche und ihre Fliegerkombination, einen blauen Einteiler mit dem Landeswappen auf der Schulter und dem Fliegerabzeichen über der rechten Brust.
Ihr erster Weg führte sie stets zu den großen Dauphins, den beiden schweren und altmodischen Eurocopter-Modellen EC 155, die in der Lagerhalle standen. Beides waren ehrwürdige Damen, die Ende der siebziger Jahre gebaut worden waren und nun nur noch selten und auch bloß als Ersatz für ihre moderneren Kollegen geflogen wurden. Lisa selbst hatte keine Lizenz für diesen Typ, was sie aber nicht daran hinderte, ihn zu mögen. Da sie allein in der Halle war, fuhr sie liebevoll über den Bauch der älteren Hubschrauber-Dame, Eco. „Na, meine Schöne?", gurrte Lisa leise und musste ein bisschen über sich selbst lachen. Sie drückte ihr Wange an das kühle Metall und verließ die Halle.
Dann begrüßte sie ihre Kollegen. Im Zimmer des rüstigen Einsatzleiters traf sie auf Johann, der ebenfalls schon sein Fliegeroutfit trug. Nur im Gegensatz zu ihr leuchteten auf seinen Schultern jeweils vier silberne Sterne. Erster Hauptkommissar.
Lisa war erst seit letztem Jahr Oberkommissarin und durfte zwei Sterne führen. Die beiden begrüßten sie mit einem knappen Händedruck, dann steckten die Männer wieder die Köpfe zusammen.
Im Gemeinschaftsraum traf Lisa auf Sascha, der sich gerade einen Kaffee einschenkte und eine unbekannte Melodie summte. Als er sie sah, zuckte er zusammen. „Ja, hallo. Du bist aber früh dran", murmelte er und wirkte so müde, wie sie sich fühlte.
Sie bewegte kurz die Schultern, nahm ihm die Kanne ab und befüllte ihre eigene Tasse. Der Kaffee war stark, und die Milch hellte ihn nur unwesentlich auf. Lisa schmunzelte und erinnerte sich an ihre gemeinsamen Lernabende. „Hast du gekocht, hm?"
„Du musst ihn ja nicht trinken."
„Ach, passt schon." Sie nahm einen Schluck und wunderte sich zum wiederholten Male, dass das Gesöff überhaupt flüssig war. Das heiße Koffein schoss mit Anlauf in ihren Blutkreislauf und sie fühlte sich automatisch wacher. Sie folgte Sascha zu dem großen Tisch, der für Mahlzeiten oder anlassbezogen für Besprechungen genutzt wurde und setzte sich zu ihm. Sascha gähnte und streckte sich. Dann trommelte er mit den Fingern am Tassenrand entlang.
„Stress gehabt oder normale Frühdienstmüdigkeit?", erkundigte sich Lisa. Sie zog sich selbst einen der alten Holzstühle hervor und setzte sich.
Bevor Sascha antworten konnte, hörten sie das Telefon in der Einsatzzentrale klingeln. Der Anruf wurde angenommen. Kurz darauf ertönte über den Lautsprecher eine blecherne Stimme. „Einsatz für Libelle 12".
Sascha fluchte. Schnell legte sie ihre Hand auf seinen Unterarm und schüttelte den Kopf. „Lass mal. Wenn ich schon da bin, übernehme ich das. Macht ja keinen Sinn, dass du Überstunden machst, wenn ich eh fliegen könnte."
Sascha nickte ihr erleichtert zu. „Danke, Lisa. Ich revanchiere mich."
„Dazu müsstest du mal pünktlich sein, Mr. Letzte-Sekunde."
Er lachte. „Aber der Gedanke zählt."
Auf dem Weg zum Hubschrauber schaute sie noch kurz bei Johann vorbei. „Hey, Chef. Es gibt einen Einsatz. Kannst du ablösen oder bist du noch gebunden?"
Johann stand sofort auf und nickte ihr zu. „Passt, wir sind soweit fertig. Bis später, Werner."
Lisa entließ Saschas dankbaren Flugtechniker, der schon neben der MD gewartet hatte. Während sich Johann Einzelheiten zum Einsatz aus der Leitzentrale holte, begann Lisa mit dem Übernahme-Check. Nach jedem Schichtwechsel musste die Maschine auf Flugtauglichkeit und Beschädigungen geprüft werden. Schritt für Schritt arbeitete sie die Überprüfungsliste ab. Sie fand keine Auffälligkeiten, Ihr heutiger Hubschrauber, Charlie, war einsatzbereit.
Nach kurzer Zeit stießen Johann und Saschas junger Operator Oskar, der für die Wärmebildkamera zuständig war, zu ihr.
Johann ließ ihr den Vortritt und sie nahm auf der rechten Pilotenseite Platz. Oskar kletterte nach hinten.
„Was liegt an?", fragte Lisa. Sie startete die Energie und Johanns metallene Stimme erklang in ihren Kopfhörern.
„Eine abgängige Person bei Göttingen. Der Mann ist dreiundneunzig und leidet an Demenz. Offenbar gibt es Hinweise, dass er sich in einem Waldstück aufhalten soll." Lisa nickte. Eine klassische Personensuche.
Johann wechselte den Kanal und funkte den Tower von Hannover an. Nach Freigabe hob Lisa ab.
Sie verließ den Luftraum Hannover durch den ihr zugewiesenen Korridor und flog Richtung Süden. Sie würden eine knappe halbe Stunde brauchen, um ihr Ziel zu erreichen. Ihr Blick glitt über die unter ihr ausgebreitete Landschaft, die im warmen Herbstlicht leuchtete. Bunte Wälder, die bald ihr Laub verlieren würden, drängten sich neben Feldern und miniaturgroßen Ortschaften. Es war ein wunderschöner Tag zum Fliegen.
„Und, was gab es heute Morgen zu besprechen? Du musst aber nicht wieder für irgendwelche Schulungen in die USA, oder?"
Aus den Augenwinkeln sah sie ihn mit dem Kopf schütteln. „Nein, nichts dergleichen." Er zögerte und Lisa bekam ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. „Nun, du weißt ja, wenn Werner nächstes Jahr in Pension geht, soll ich den Posten übernehmen."
Lisa war zwiegespalten und dachte mit einem gewissen Unwillen an diesen Tag. Johann war ein wundervoller Chef und Mentor, den sie nicht verlieren wollte. Dennoch freute sie sich natürlich für ihn. Er war ehrgeizig, engagiert und hatte Visionen. Der Posten als Einsatzleiter würde ihm Spaß machen. Endlich erhielt er die Chance, die Staffel gründlich zu entstauben und die Spinnweben aus Traditionen und Faulheit auszukehren. Auf die Konfrontation mit den ewig-gestrigen Kollegen freute er sich schon seit Wochen auf eine fast sadistische Art und Weise.
Ein Grinsen schlich sich auf ihre Lippen. „Ein schwarzer Tag für Christian."
„Nicht nur deswegen."
„Was meinst du?"
Johanns Stimme triefte vor selbstgefälliger Erheiterung. „Nun, was meinen Nachfolger betrifft. Ich habe dich vorgeschlagen."
Es bedarf Lisas ganze Selbstbeherrschung, den Hubschrauber auf Kurs zu halten.
„Bist du irre?", brüllte sie erbost in ihr Mikrofon und wusste dabei nicht, ob sie die Idee als solche meinte oder den Umstand, ihr bei einer Reisegeschwindigkeit von fast 250 km/h davon zu erzählen.
Johann lachte. „Du musst natürlich durch das Auswahlverfahren, aber da habe ich keine Bedenken. Mach dir keine Sorgen, Lisa. Du bist gut."
„Glückwunsch, Lisa", ertönte Oskars Stimme im Funkverkehr. Sie hatte ihn völlig vergessen, „Wir sind übrigens da."
Später konnte sich Lisa nicht mehr an genaue Einzelheiten dieses Einsatzes erinnern. Sie wusste nur, dass sie den unterkühlten Mann tatsächlich im Waldgebiet fanden und Oskar die Einsatzkräfte zu ihm lotsen konnte.
Der Rückflug verging wie der restliche Nachmittag, sprichwörtlich wie im Fluge.
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