10 - Paul
Stets findet Überraschung statt,
da, wo man's nicht erwartet hat.
Wilhelm Busch
Paul warf einen Blick zum Fenster hinaus. Die Sonne lugte zwischen ein paar Wolken hervor und tauchte seine Sicht in ein goldenes Licht.
Seine Beine kribbelten und er fühlte sich unruhig. Obwohl er eigentlich vorgehabt hatte, ein paar Folgen seiner Lieblingsserie auf DVD zu genießen, änderte er spontan seine Meinung und griff nach seinen Laufsachen. Eine anspruchsvolle Trainingseinheit würde ihn hoffentlich genug auspowern, um dieses nagende Gefühl der Langeweile zu vertreiben.
Er dehnte sich noch im Flur, dann öffnete er die Haustür und trabte los. Sogleich fühlte er sich freier. Die kühle Herbstluft war trocken und schien alles von ihm abzustreifen. Dabei behauptete Daria immer, er sei nicht spontan. Er dürfte nicht vergessen, ihr seinen Ausflug in die kurzfristige Lebensplanung später noch unter die Nase zu halten.
Kurz bevor er Richtung Mittellandkanal abbiegen konnte, sah er eine vertraut wirkende Silhouette, die in einem flotten Tempo stadtauswärts lief.
Paul beschleunigte und erkannte in der schlanken, großen Gestalt ohne jeden Zweifel seine gut gebaute Nachbarin. Ein langer, schokoladenbrauner Flechtzopf schaukelte zwischen ihren Schulterblättern und deutete wie ein lockiger Pfeil auf ihren wackelnden Hintern. Seine Laune hob sich augenblicklich.
Sie folgte einem kurzen Weg an einer Kleingartenkolonie entlang und führte ihn hinaus aus der Stadt. Mittlerweile hatte er sie eingeholt und lief dicht hinter ihr, doch sie schien ihn nicht zu bemerken. Aus ihren Kopfhörern wummerte laute Musik. Es klang sehr textlastig, wie Rap oder Hiphop. Hätte er ihr gar nicht zugetraut. Irgendwie wusste er nicht so genau, was er von ihr halten sollte. Natürlich war sie hübsch, aber das waren viele. Es gefiel ihm, dass sie sportlich war, aber auch das war jetzt nichts Außergewöhnliches. Sie war definitiv spontan. Er schmunzelte. Gegensätze sollten sich ja bekanntlich anziehen. Außerdem fand er ihre große Klappe irgendwie niedlich. Genauso wie dieses aufmüpfige Funkeln in den Augen, wenn er sie bei etwas Merkwürdigem ertappte. Sie war anders als die Frauen in seinem Umfeld, mit denen er sich auf einen engen Kontakt einließ. Emotionaler als seine Schwester Marlene, wobei da zugegebenermaßen nicht viel dazu gehörte. Rationaler als Daria. Eine gute Mischung, wie er fand. Es war entspannend, sich mit Lisa zu unterhalten. Außerdem machte sie ihn neugierig. Ihre Leben schien wirklich spannend zu sein. Was sie wohl als nächstes anstellen würde?
Sie passierten einen kleinen See und Paul fing an darüber nachzudenken, wie es ihm gelingen könnte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen ohne wie ein durchgeknallter Stalker zu wirken. Schließlich erreichten sie ein dunkel wirkendes Waldstück.
Unbehaglich verließ sein Blick ihre Kehrseite und er sah sich aufmerksam um. Wenn das nicht eine gute Ecke für kranke Gestalten war – schon auf den ersten Blick erkannte er mehrere gute Plätze für einen Hinterhalt. Eine Frau sollte hier definitiv nicht allein entlanglaufen. Zwar wirkte die Gegend nicht direkt bedrohlich, allerdings gefiel ihm der Gedanke überhaupt nicht, dass sie hier allein joggte. Natürlich war sie Polizistin, aber über Superkräfte verfügte sie deswegen noch lange nicht. Er sollte sich wirklich einmal mit ihr darüber unterhalten.
Durch seine Überlegungen abgelenkt, bemerkte er erst zu spät, dass Lisa abgebremst hatte.
Er rammte sie von schräg hinten und sie gingen zu Boden.
Instinktiv drehte sich Paul auf dem Rücken und versuchte, Lisas Fall abzufangen. Doch irgendwie entglitt sie ihm. Er prallte auf dem federnden Waldboden auf, während sie herumwirbelte. Eine Wurzel bohrte sich in seinen Rücken.
Lisa war viel schneller, als er erwartet hatte. Er konnte ihren Bewegungen gar nicht wirklich folgen. Als es ihm wieder gelang, fand er seinen rechten Arm in einer unangenehmen Halteposition wieder und sie kniend auf seinem Brustkorb. Ihre Oberschenkel drückten dabei kräftig gegen seinen Hals und er bekam schlecht Luft.
Ihr Blick fokussierte sich auf sein Gesicht und ihre Beinmuskeln lockerten sich. Er konnte wieder atmen und inhalierte kräftig. Lisa entließ seinen Arm aus dem Streckgriff und riss sich die Kopfhörer heraus. Sie wirkte wütend.
„Geht's noch, was sollte das denn?"
Adrenalin pulsierte durch seine Adern und er spürte, dass sie ihn erregte. „Sorry. Ich wollte Sie nicht rammen. Tatsächlich hatte ich eigentlich nur vor, 'Hallo' zu sagen." Eine leichte Bewegung seiner Hüfte erlöste ihn von der Wurzel.
Lisa wirkte völlig aus dem Häuschen und schien dabei vergessen zu haben, dass sie auf seiner Brust saß.
„'Hallo' sagen? Und dazu müssen Sie jemanden umwerfen?"
Ihm gefiel die Situation ausnehmend gut, bot sie ihm doch eine wundervolle Möglichkeit, ihre Figur genauer zu betrachten. Ihre Laufsachen lagen eng an und betonte ihren sportlichen Körper, der trotzdem an genau den richtigen Stellen gerundet war. Verstohlen checkte er ihre Brüste ab. Ja, genau an den richtigen Stellen.
„Hätte es nicht gereicht, neben mir zu laufen und grüßend die Hand zu heben?", beschwerte Lisa sich weiter.
Am liebsten würde er sich mit ihr umdrehen und etwas mehr auf Tuchfühlung gehen, aber zum einen war der Boden wirklich kalt und zum anderen wollte er sie nicht zu einem Kampfsporttrick motivieren, den sie später bereuen würde. Oder er, je nachdem, was sie traf.
„Oder mich vielleicht anzutippen. So wie normale Menschen das machen?"
Zwar wusste er nicht, mit was für einer Technik sie agiert hatte, doch war es ohne jeden Zweifel ein Selbstverteidigungsgriff gewesen. Und da er durchaus nicht hilflos war, würde er sogar sagen, ein recht erfolgreicher. Außerdem war es wohl nicht wirklich der richtige Zeitpunkt. Sie wirkte ein bisschen sauer.
„Hey, antworten Sie auch mal? Ich rede mit Ihnen!"
Paul bemühte sich um einen traurigen Blick und fuhr sich mit einer Hand an den Kopf.
„Tut mir leid, ich glaube meine Ohren klingeln ein bisschen."
Ihr Hintern spannte sich auf interessante Weise an, als sie sich vorbeugte und seine Augen untersuchte. Sie hob seine Lider an und bewegte ihren Kopf langsam von rechts nach links.
Paul zwang seine Augen dazu, in ihr Gesicht zu schauen. Ihre Hände strichen über seine Kopfhaut und tasteten nach Verletzungen.
„Also ich fühle nichts, vermutlich sind Sie nicht verletzt."
„Sie können sich da aber nicht sicher sein", merkte er an.
Ihre Wut schien merklich abzukühlen und ihre Gesichtszüge entspannten sich.
„Nein, kann ich nicht. Sie gehören wohl eher zu der wehleidigen Sorte, hm?"
Paul versuchte noch leidender zu wirken. „Sie könnten ruhig etwas mehr Mitleid haben. Immerhin habe ich ja versucht, Ihren Sturz abzufangen."
Lisa legte ihren Kopf schief. „Einen Sturz, den Sie wohlgemerkt selbst verursacht haben!", begehrte sie auf.
„Aber unabsichtlich und ich bereue es zutiefst." Paul versuchte einen Dackelblick aufzusetzen und entlockte ihr damit ein Lächeln.
„Und, wie denken Sie könnte ich Ihnen helfen? Ich warne Sie nur vor, ich werde Sie ganz bestimmt nicht heimtragen."
Paul genoss den Moment. „Wie wäre es mit einem Küsschen? Dann würde es mir bestimmt gleich wieder besser gehen."
Im ersten Moment dachte er, er wäre zu weit gegangen. Lisas Augen glitzerten und er versank förmlich in den schokobraunen Tiefen. „Soso, ein Küsschen?", raunte sie.
„Nur ein ganz kleines. Ich will ja keine Umstände machen."
„Natürlich nicht. Und wo täte es weh?"
Paul hob seine Hand und geriet kurz in Versuchung, auf seinen Mund zu zeigen. Da er sein Glück jedoch nicht überstrapazieren wollte, wanderten seine Finger höher und er deutete auf einen Punkt über seiner linken Augenbraue.
War es Enttäuschung oder Erleichterung, die er in ihren Augen aufblitzen sah?
Langsam beugte sie sich vor und berührte mit ihren Lippen sanft seine Schläfe.
Dann lehnte sie sich zurück und sah ihn an.
Die Sekunden verstrichen, während sie an diesem unwirtlichen Ort lagen und sich nicht bewegten. Er roch das Laub, dass überall um sie herum verteilt lag. Muffig, waldig, aber auch eine Spur von ihr.
Paul konnte den Moment genau erkennen, in dem ihr auffiel, dass sie immer noch auf ihm saß.
Langsam zog sie sich zurück und stand auf. Ihr Lächeln wirkte auf ihn eher unsicher, als sie ihm die Hand hinhielt, um ihm aufzuhelfen. „Na kommen Sie, ich bringe Sie heim."
Er schlug ein und fühlte die Kraft, die in ihr steckte. Sie war definitiv kein Opfertyp. Langsam kam er auf die Füße.
Als Lisa zu ihm sah, schüttelte er auffällig seinen Kopf und verkündete. „Geht schon wieder. Alles noch dran."
Nebeneinander verließen Sie den Wald. Er passte seine Schritte ihren an und ging entspannt neben ihr. Erst als sie in das goldene Herbstlicht traten, bemerkte Paul, dass Lisa bläuliche Schatten unter ihren Augen hatte.
„Geht es Ihnen denn gut? Sie sahen auch schon frischer aus, wenn ich das so sagen darf."
Sie schnaubte. „Das sagt seit gestern irgendwie jeder zu mir."
Die Andeutung, dass auch andere Leute Lisa so genau ansahen, gefiel Paul gar nicht und er runzelte die Stirn. Sie schien davon nichts mitzubekommen und fügte hinzu. „Aber keine Sorge. Ich hatte gestern eine Feier mit meinen Kollegen und unsere Vorstellungen in Bezug auf Unterhaltung gingen weit auseinander." Lisa winkte ab, dann rieb sie ihre Arme, als ob sie frieren würde.
„Hey, ist Ihnen kalt?"
„Geht schon."
Paul hätte ihr gerne sein Shirt geliehen, doch das klebte verschwitzt an seinem Rücken. „Kommen Sie", forderte er sie heraus. „Lassen Sie uns mal sehen, was Sie so draufhaben."
„Sie wollen laufen?", fragte Lisa nach. Er nickte und rieb sich die Hände. „Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut genug dafür geht?"
„Beleidigen Sie mich mal nicht! Mit so einer halben Portion wie Sie es sind, komme ich schon klar!"
Lisa lachte und sprintete ohne Ankündigung los. „Wer ist hier eine halbe Portion?", rief sie ihm über die Schulter zu.
Grinsend nahm Paul die Verfolgung auf. Einen guten Wettkampf sollte man nie auslassen. Als sie ihre Straße schließlich erreicht hatten, lieferten sie sich ein spannendes Kopf an Kopf Rennen. Paul beschloss, ihr den Vortritt zu lassen und lief langsam aus. So konnte er auch viel besser ihren Körper bewundern. Als Lisa in Höhe seines Hauses war, stoppte sie plötzlich ab und sprang in seine Lorbeerhecke. Irritiert beschleunigte Paul, bis er ihre Höhe erreicht hatte.
„Gehen Sie weiter", zischte sein Vorgarten.
Paul kniete sich hin, um seinen Schuh zuzubinden und starrte ungläubig auf die Büsche. Dann hörte er Schritte, die von Lisas Grundstück kamen. Ein junger Mann mit unreiner Haut und stoppeligem roten Bart trat auf die Straße und blickte sich suchend um. Als er Paul erblickte, kam er näher.
„Oh, hallo", nuschelte der Neuankömmling. „Haben Sie hier eine Schnitte gesehen?"
„Milch?"
Der rothaarige Typ schaute ihn verwundert an. „Was? Nein, so 'ne Brünette. Ich dachte, die wär hier abgebogen."
„Nö, tut mir leid", antwortete Paul. Er kontrollierte auffällig sein Schnürband und stand wieder auf.
Der Typ schaute etwas enttäuscht aus, fuhr sich dann durch das strähnige Haar und lief zu einem alten Fiat, den Paul erst jetzt vor Lisas Einfahrt bemerkte.
Lisa kroch erst wieder aus ihrem Versteck, als das altersschwache Gefährt um die Ecke gebogen war.
Paul grinste. „Sie haben keine Ahnung wie unterhaltsam Sie sind, oder?"
Lisa hob ihr Näschen hoch und eilte ohne Erklärung oder Verabschiedung zu ihrer Haushälfte. Paul grinste immer noch, als er seine Haustür aufschloss. Irgendwas an dieser Frau zog ihn an, dass er nicht genau erfassen konnte. Auf den Punkt gebracht, erheiterte sie ihn.
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