1 - Paul
Ich frage mich manchmal, ob Männer und Frauen wirklich zueinander passen. Vielleicht sollten sie einfach nebeneinander wohnen und sich nur ab und zu besuchen.
Katharine Hepburn
Paul Darrer lümmelte in seinem Großvatersessel und brütete vor sich hin. Ihm war bewusst, dass er mit vierunddreißig Jahren ein Alter erreicht hatte, in dem man weder brüten noch lümmeln sollte, aber er konnte wie immer schlecht aus seiner Haut. Sein Blick wanderte ziellos durch den Raum, seine Bibliothek, wie er ihn liebevoll nannte. In rustikalen Holzregalen, natürlich maßgefertigt, sammelten sich Bücher bis zur Decke. Romane, Biografien, Comics - er war nicht wählerisch, solange es sich um gute Werke handelte. Also solche, die er als gut bewertete. Neben seinem Sessel sorgte eine antike Stehlampe für angenehmes Leselicht. An der Wand hingen einige seiner liebsten Fotografien.
Eine Landschaftsaufnahme, die er vor ein paar Jahren in den Dolomiten geschossen hatte. Daneben erstrahlte in verschieden blauen und grünen Tönen eine Nordlichtfotografie aus dem Thingvellir Nationalpark in Island. Sein Favorit war aber die Schattenaufnahme, wie er sie insgeheim nannte. Darauf zu sehen war der Umriss seiner schaukelnden Cousine Nele, die er an einem Hochsommertag auf dem Spielplatz im Hannoveraner Maschpark abgelichtet hatte.
Sein Magen knurrte und erinnerte ihn daran, dass es fast Zeit zum Abendessen wurde. Er fand den Gedanken allerdings reizlos, sich allein in seine Küche zu setzen und griff zu seinem Handy. Vielleicht konnte er seine beste Freundin Daria überreden, auf einen Besuch vorbeizukommen. Am besten noch dazu, etwas zum Essen mitzubringen. Er griff nach seinem Handy, um sie per Whatsapp zu belästigen.
Hey Dar, heute Abend schon etwas vor?
Darias Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Du kannst dir auch einfach selbst was bestellen, wenn du Hunger hast. Ich empfehle chinesisch.
Paul musste grinsen. Sie kannte ihn einfach zu gut. Hatte ich gestern. Außerdem esse ich nicht gern allein.
Prompt tauchte ihre Erwiderung auf. Hat nicht eine deiner letzten Eroberungen Zeit für dich? Ein mitleidiger Smiley tauchte auf. Heute geht nicht, sry. Ich hab ein echtes Date. Du erinnerst dich? Das ist etwas, bei dem sich zwei Menschen treffen, um zu schauen, ob sie vielleicht zusammenpassen.
Jetzt wo sie es sagte, fiel es ihm auch wieder ein. Ah ja. Stimmt. Wie läuft es? Zukunftspläne!?
Darauf schickte sie ihm das Bild eines lächelnden Kackhaufens, der viel Platz für Interpretationen ließ. Er bewunderte Darias Hartnäckigkeit, mit der sie auf der Suche nach der Liebe ihres Lebens war. Jedoch würde er es begrüßen, wenn dieser Part nicht so viel Zeit einnehmen würde. Ein fester Freund bedeutete automatisch weniger Zeit für das gemeinsame Fechten und nun ja, auch für ihn. Schon während er darüber nachdachte, fühlte er sich schlecht. Auch wenn er Daria nur ungern teilte, wünschte er ihr Glück.
Paul spielte mit dem Gedanken einen seiner Geschwister anzurufen, als ein Poltern im Flur die Ankunft Moses' ankündigte. Kurz darauf wurde die Tür aufgedrückt und ein imposanter schwarz-weißer Kater betrat den Raum. Er ging ein paar Schritte auf ihn zu und streckte sich dabei ausgiebig. Dann hüpfte er fröhlich auf Pauls Schoß und machte es sich bequem. Paul verschob seine weiteren Essenspläne und kraulte den samtigen Rücken seines Freundes.
Als Paul voriges Jahr in sein kleines Domizil am Stadtrand von Hannover gezogen war, hatte er den Kater quasi übernommen. Oder das Tier ihn, das kam ganz auf die Perspektive an. Am ersten Abend, als er mit Daria und seinem Bruder Noah die ersten Möbel aufgestellt und Kisten ausgeräumt hatte, klopfte Moses mit einer Pfote an die Terrassentür und forderte Einlass. Kaum hatte Daria ihm die Tür geöffnet, hatte er auch schon die Wohnräume inspiziert und zum Schluss das neue Bett in Beschlag genommen. Der Kater fühlte sich auf Anhieb wohl und überzeugte Paul schnell, dass nun er für das Futter zuständig wäre. Ehrlicherweise genoss Paul es auch, einen vierbeinigen Mitbewohner zu haben. Nachdem er aus einer großen Familie stammte, liebte er die Ruhe, die sein Heim ihm bot. Trotzdem konnte er nicht gut mit Einsamkeit umgehen. Moses war ein perfekter Kompromiss.
Paul hatte bisher keinen Moment in seiner persönlichen Wohnidylle bereut und betrachtete den Kauf der zweistöckigen Doppelhaushälfte als eine der besten Entscheidungen seines Lebens. Der Mittellandkanal schlängelte sich in wenigen Laufminuten Entfernung durch sein Viertel. Die Infrastruktur war beeindruckend und dennoch bot die kleine Sackgasse, an deren Wendehammer Pauls Domizil stand, eine idyllische Komponente. Manchmal kam es ihm fast so vor, als ob er auf dem Land wohnen würde. Nur ohne Hähne und mit guter Anbindung zum Nachtleben.
Vorsichtig, um den dösenden Kater nicht zu stören, griff Paul nach einem Thriller, den er auf dem Beistelltisch liegen gelassen hatte. Obwohl Daria ihn gerne deswegen aufzog, bevorzugte er echtes Papier, wenn er las. Moses gönnte ihm einen kurzen Ausflug in das winterliche London, doch als es richtig spannend wurde, rollte sich sein Mitbewohner auf den Rücken und köderte Paul mit der Präsentation seines weichen Bauches. Als gut dressierter Mensch legte Paul das Buch zurück und widmete sich den Bedürfnissen seines Freundes. Inmitten des weißen Fells schimmerte ein schwarzer Punkt, etwa auf Höhe des Herzens, und auf eine Weise, die Paul weder erklären konnte noch wollte, fühlte er sich stets dazu verlockt, diesen Fleck zu streicheln. Was jedoch bestimmt ein Fehler wäre.
„Du kannst deinen Köder wieder einziehen, du Ganove", murrte Paul und kraulte Moses am Kinn. Heute stand ihm nicht der Sinn danach, Krallen aus seinem Handrücken zu ziehen.
Der Kater beendete seine Kuscheleinheit und kletterte auf das Fensterbrett, dann stupste er mit einer Pfote gegen die Scheibe. Lächelnd stand Paul auf und folgte ihm. Moses hüpfte aus dem Fenster im Obergeschoss und dann auf das Dach des angrenzenden Carports. Gerade als Paul das Fenster wieder schließen wollte, blieb sein Blick an etwas hängen.
***
Lisa Ritter hatte sich spontan überlegt, zu Fuß zu der nahegelegenen Pizzeria zu laufen, um sich eine Calzone zum Mitnehmen zu besorgen. Als sie nun mit der duftenden Beute zu ihrer Doppelhaushälfte abbiegen wollte, stellte sie überrascht fest, dass hinter ihrem silbernen Renault ein Volvo parkte, dessen grüner Lack reichlich rostig wirkte. Neugierig schaute sie um die Ecke und erblickte einen blonden Fremden, der an ihrer Haustür klingelte. Offenbar hatte er dies schon öfters vergeblich versucht, denn nun klopfte er fordernd an.
„Hallo? Frau Ritter? Mein Name ist Viktor - Ihre Großmutter schickt mich!" Verdammt. Lisa machte ein paar vorsichtige Schritte zurück und prallte gegen die Mülltonne ihres Nachbarn, die dieser neben seinem Carport stehen gelassen hatte. Der blasse Mann drehte sich in ihre Richtung. Ob er sie gehört hatte? Verdammt, verdammt.
Seit ihre Großmutter Trude, die von Lisa wirklich heiß und innig geliebt wurde, vor ein paar Monaten beschlossen hatte, in eine Seniorenresidenz zu ziehen, versuchte die ältere Dame alles, um Lisa an den Mann zu bringen. Mehrmals im Monat schauten ein paar merkwürdige Gestalten vorbei, die sie einladen, besuchen oder ausführen wollten. Je deutlicher sie ihrer Großmutter gegenüber auch betonte, dass sie keine solche Unterstützung in ihrem Leben haben wollte, desto mehr schaltete diese auf stur. Lisa konnte ihr einfach nicht begreiflich machen, dass ihr Beziehungsstatus nicht an fehlenden Möglichkeiten, sondern ihrer inneren Haltung lag. Ein Mann passte im Moment einfach nicht in ihr Leben. Falls sich das jemals ändern sollte, würde ihre Großmutter es auch als erste erfahren.
„Hallo?" Ihr unerwünschter Besucher trabte den Kiesweg entlang in ihre Richtung. Lisa blieb nicht mehr viel Zeit, um einer neuerlichen, vermutlich unangenehmen Begegnung aus dem Weg zu gehen. Sie hatte bereits gelernt, dass jeder, der auf eine Beziehungsvermittlung aus dem Seniorenheim angewiesen war, einen ärgerlichen Hang zur Aufdringlichkeit mitbrachte. Schnell kletterte sie auf die Mülltonne und von dort aus weiter auf das flache Carportdach. Aus dem angrenzenden Zimmer ihres Nachbarn schien sanftes Licht und spendete mit der Straßenlaterne genug Beleuchtung, um alles gut einsehen zu können. Der Störenfried tauche unter ihr auf und blickte sich suchend um. Niemand schaut jemals nach oben, stellte sie befriedigt fest. Dann zuckte er mit den Schultern, wühlte in seinen Taschen und zündete sich kurz darauf eine Zigarette an. Angewidert rümpfte Lisa ihre Nase und strich sich eine dunkelbraune Strähne aus dem Gesicht. Echt jetzt?
Lisa hatte einen guten Blick auf seine beginnende Glatze und die wenigen Haare, mit denen er versuchte, seinen Makel zu kaschieren. Grundsätzlich war ihr die vorhandene oder fehlende Haarpracht eines Mannes egal, nur es war einfach albern, wenn man zu so etwas Natürlichem nicht stehen konnte. Vielleicht hätte ihm ein Kurzhaarschnitt besser gestanden? Lisa schüttelte den Kopf und rief ihre Gedanken wieder zur Ordnung. Dieses Detail war gar nicht wichtig, weil wirklich nichts Lisa dazu bewegen konnte, einen Mann zu treffen, der von ihrer Großmutter ausgewählt worden war. Vor allem, weil eigentlich schon das Wort ‚Verabredung' genügte, dass sich ihre Nackenhaare aufstellten. Es gab einfach Menschen, die waren nicht dazu gemacht, ihr Leben zu teilen. Warum auch, wenn es viel schöner war, niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen.
Der Mann unter ihr pustete eine Rauchwolke in die kühle Herbstluft. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, wie die alte Dame diese Verabredungen einfädelte. >Hallo, Sie da drüben an der Medikamentenausgabe. Sie scheinen im Alter meiner Enkelin zu sein. Möchten Sie die nicht einmal besuchen?< Gruselig.
Es war zu einer fixen Idee von Oma Trude geworden, dass sie noch Urenkel kennenlernen wollte. Nicht, dass irgendetwas auf ein baldiges Ableben hindeuten würde, aber wenn sich ihre Großmutter etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie nur schwer davon abzubringen. Den fehlenden Belästigungs-Berichten ihres Bruders Niklas zufolge konzentrierte sich Oma Trude dabei auch noch ganz auf ihre einzige Enkeltochter. Was für ein Glück.
Der Herbstwind blies ein paar Blätter über das Dach und Lisa fing an zu frieren. Ihre schmale Jeans und der rosafarbene Kapuzenpullover waren zwar eine gute Wahl gewesen, um einen kurzen Ausflug zur Pizzeria zu machen, aber gänzlich ungeeignet, um an einem feuchtkalten Abend auf dem Dach eines Carports herumzuliegen.
Missmutig schielte sie erst zu ihrer Pizza, die neben ihr langsam auskühlte und dann wieder zu dem Raucher hinunter. Der ließ seine Zigarette fallen und trat sie aus. Als er sich anschickte, endlich zu seinem Auto zu gehen, hörte sie, wie sich hinter ihr das Fenster öffnete. Lisa erstarrte.
Der schwarz-weiße Nachbarskater schob sich in ihr Blickfeld und schnupperte an dem Pizzakarton. Von unten drang das Geräusch eines startenden Motors an ihr Ohr. Ansonsten blieb alles still. Der Volvo parkte aus und fuhr die Straße hinunter. Lisa zählte langsam bis fünf. Das Fenster hatte sich bislang nicht wieder geschlossen. Verdammt. Vorsichtig drehte sie sich um.
Im offenen Fenster erkannte sie die Silhouette ihres Nachbarn. Frau Kramer von gegenüber hatte ihr erzählt, er wäre ein berühmter Kampfsportler namens Darrer. Paul Darrer. Als sie sich nach ihrem Einzug nebenan vorstellen wollte, war er gerade auf irgendeinem Turnier gewesen und seitdem hatte sich nie der richtige Moment für ein Kennenlernen ergeben. Ein paar Mal hatten sie sich über den Gartenzaun höflich zugenickt, aber kein Wort gewechselt, was irgendwie seltsam war, da sie ja nebeneinander wohnten.
„Hallo", murmelte sie beschämt. Die Gestalt stützte sich mit beiden Armen auf das Fensterbrett, sodass sie sein kantiges Gesicht im Schein der Laterne erkennen konnte.
Darrer war ein großer Mann, der aus jeder Pore Selbstbewusstsein verströmte. Obwohl es eher unüblich sein sollte, fremde Frauen auf Dächern vorzufinden, verzog er keine Miene. Lediglich seine blauen Augen funkelten belustigt.
„Sollten Sie eine Karriere als Einbrecherin anstreben, würde ich Ihnen raten, kein Rosa zu tragen. Vielleicht eher konventionelles Schwarz."
Vorsichtig versuchte sie, sich aufzusetzen, doch ihre Hand rutschte im feuchten Laub aus. Tatsächlich hörte sie ihn leise kichern, als er es sich dort gemütlich machte. Durch die neue Position wurde er von der Straßenlaterne besser ausgeleuchtet und der schlichte Holzrahmen umgab sein Gesicht wie ein Gemälde
Seine kräftige Nase wirkte, als ob er sie sich in der Vergangenheit mindestens einmal gebrochen hatte, aber sein Mund ... sie schluckte. Ein Mann sollte einfach nicht so einen Mund haben. Im linken Mundwinkel offenbarte sich ein Grübchen. Seine Lippen waren perfekt, die untere etwas voller, als das obere Gegenstück. Während sie versuchte weniger wie eine Schildkröte zu wirken, die hilflos auf dem Rücken zappelte, musterte sie ihn ausgiebig. Aus der Nähe sah er definitiv eindrucksvoller aus als sie vermutet hätte.
„Sie sollten meiner Meinung nach auch keine Anstellung bei einem Lieferdienst wählen." Lisa runzelte die Stirn und Darrer deutete auf den Pizzakarton neben ihr, den sein Kater endlich aufbekommen hatte und nun plünderte. Endlich fand sie Halt auf dem rutschigen Laub.
„Hey!" Sie schnappte sich den misshandelten Karton, klappte ihn zu und beförderte ihn aus der Reichweite des Räubers. Empört maunzte der Kater sie an und sprang dann hoheitsvoll von dem Carport herunter.
Darrer grinste und Lisa spürte, wie sich ihr Temperament regte. Eine Blase aus Scham und Aggression poppte an die Oberfläche. Sie hasste es einfach, wenn sich jemand über sie lustig machte. Gerade, wenn sie es verdiente. Vorsichtig stand sie auf und funkelte ihn aufmüpfig an. „Sie wissen sehr genau, wer ich bin." Aus dieser Position heraus konnte sie ihn besser sehen. Seine braunen Haare schienen etwas länger zu sein, als es ein Mann üblicherweise trug. Wobei ihre Polizeikollegen mit den militärisch-kurzen Frisuren da wahrscheinlich kein Maßstab waren.
„Stimmt, ich habe ihnen doch letztens ein Autogramm gegeben. Über der linken Brust, wenn ich mich nicht irre? Aber ich muss Ihnen sagen, stalken geht für mich einfach zu weit."
Langsam wurde Lisa echt wütend und sie spürte, wie sich ihre Muskeln versteiften.
„Herr Darrer, wir sind Nachbarn und das wissen Sie auch." Mit einer weit ausholenden Bewegung deutete Sie auf ihre Häuserseite. „Ich stalke Sie auch nicht. Und Sie haben definitiv noch nie Hand an meine Brüste gelegt."
„Ah, jetzt wo Sie es sagen ..." Sein Blick wanderte an ihr herunter und verharrte kurz auf ihrer zugegebenermaßen eher zierlichen Oberweite. „Was, liebe Nachbarin, könnte Sie dann auf mein Carport verschlagen haben?"
Ups. Sie wand sich ein bisschen. „Lustig, dass Sie fragen - es handelt sich um eine Verkettung unglücklicher Umstände." Etwas Nasses tropfte auf ihre Stirn und sie zuckte kurz zusammen. Na toll, jetzt regnete es auch noch. Ihr Nachbar verschränkte die Arme vor der Brust und schien alle Zeit der Welt zu haben. „Hören Sie, Herr Darrer, es tut mir wirklich leid, ich habe...", sie schluckte „...einfach das Carport verwechselt?"
Auf ihre lahme Erklärung hin hob er nur eine Augenbraue. Schweigend sahen sie sich an, während Lisa immer nasser wurde. „Ein Gentleman würde mir jetzt eine helfende Hand reichen!" Angriff war schon immer die beste Verteidigung gewesen.
„Nichts lieber als das!", erwiderte er fröhlich und schloss das Fenster. Verblüfft starrte Lisa einen Moment ins Leere.
„Hey!", rief sie zum zweiten Mal. Die Skurrilität der Situation traf sie wie ein Hammerschlag und sie rutschte erneut im feuchten Laub aus. Niemandem passierten solche Sachen. Leise seufzte sie. Niemandem außer ihr. Nun sollte sie Darrers Abwesenheit dankend ausnutzen und schnell verschwinden, bevor er zurückkam, um sie weiter zu triezen.
Unter ihr öffnete sich eine Tür und jemand schlenderte pfeifend auf das Carport zu. Ihre neue Nemesis.
„Hallo Nachbarin!" Lisa schaute nach unten und beobachtete Darrer, wie er gerade die Mülltonne aus ihrer Reichweite schob. Dann hob er beide Hände zu ihr hoch. „Na los, springen Sie!"
„Ich hatte eigentlich eher gedacht, Sie lassen mich durch das Fenster hinein!"
Er runzelte die Stirn. „Also, auch wenn Sie die Pizza mitgebracht haben, muss ich Ihnen sagen, so schnell lasse ich mich nicht rumkriegen. Nun kommen Sie, seien Sie kein Frosch."
Sie kniff die Augen zusammen und musterte ihn. „Ich hätte auch über die Mülltonne runter klettern können."
„Stimmt. Aber Sie wollten ja unbedingt meine Hilfe."
Der Regen gab den Ausschlag für sie. Lisa reichte ihm erst den aufgeweichten Pizzakarton, den er auf sein Auto legte. Dann griff sie nach seinen Schultern und er zog sie zu sich. Vorsichtig nahm er sie in den Arm und setzte sie sanft auf den Boden. Es war ein merkwürdiger Moment. Obwohl sich Darrer ganz normal verhalten hatte, kribbelte es in Lisa. Sein Duft stieg ihr in die Nase, er roch wahnsinnig gut. Lisa war viel zu überrascht, um etwas zu sagen. Erst Darrers Stimme holte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. „Es war nur Selbstschutz, dass ich sie nicht hineingelassen habe, wissen Sie?"
Lisa wurde gleichzeitig warm und kalt. Hoffentlich hatte er ihren Aussetzer nicht bemerkt. Völlig unerwartet rauschte das Feuer durch ihre Adern, brannte seinen Weg ohne Umwege direkt in ihre Mitte. Sie hatte sich nicht bewegt, starrte ihn immer noch an. Tu etwas! Auch wenn sie selbst mit knapp 1.80 m nicht klein war, überragte er sie noch einmal um Haupteslänge. In seinen Augen blitzte der Schalk auf und er ließ sie nicht gleich los. Seine Augen waren wirklich strahlend blau. Der Gedanke erschreckte sie. Wann war eigentlich das letzte Mal gewesen, dass sie ein Mann so aus dem Konzept gebracht hatte? Er räusperte sich und der Moment war vorbei.
„Da Sie echt nass sind, konnte ich es nicht riskieren, Sie in mein Haus kommen zu lassen. Die Wasserflecken, das verstehen Sie doch?"
Lisa spürte ein Brennen hinter ihren Lidern. Dieser Mann spielte mit ihr! Die Wut über diese Bloßstellung malte ihr rote Flecken auf die Wangen. Mit gerunzelter Stirn stapfte sie mit ihrem rechten Fuß auf, erwischte dabei den seinen und Darrer lachte. Ohne sich zu verabschieden rauschte Lisa mit der Eleganz einer nassen Katze auf ihre Haustür zu.
„Sie haben Ihre Pizza vergessen!" Ihr Stolz verbot ihr sowohl eine Rückkehr als auch eine Erwiderung. Sie stürmte in ihr kleines Häuschen hinein und warf mit einem befriedigenden Knall die Tür hinter sich zu.
***
Paul lachte immer noch, als er mit der Pizza unter dem Arm in sein Wohnzimmer marschierte. Das Zusammentreffen mit seiner Nachbarin hatte ihm wirklich den Abend versüßt. Vorsichtig öffnete er den Pizzakarton und stellte zufrieden fest, dass Moses keinen großen Schaden angerichtet hatte. Paul stellte den Ofen an und schnitt ein winziges angeknabbertes Stückchen ab. Etwas anderes wäre ja glatt Verschwendung.
Nach kurzer Zeit war sein ergaunertes Abendbrot wieder aufgewärmt und duftete himmlisch. Eine Calzone war irgendwie ein Überraschungspaket, philosophierte er vor sich hin. Man erkannte erst, wie jemand wirklich tickte, wenn man die Essgewohnheiten seines Gegenübers erlebte. Genüsslich schnitt er seinen Schatz auf und überprüfte den Inhalt. Käse quoll aus dem Inneren und floss schön sämig über seinen Teller. Auch Tomaten konnte er erkennen, also bevorzugte Frau Nachbarin keine typische Calzone. Er probierte ein Stück und genoss den würzigen Geschmack. Gorgonzola. Basilikum. Ein paar frische Paprikastücke. Eine gute Mischung, wie er fand. Seine Nachbarin hatte definitiv Geschmack.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top