Sonntag, 9. Dezember - Trauer
♪' So I drown it out like I always do
Dancing through our house
With the ghost of you
And I chase it down
With a shot of truth
Dancing through our house
With the ghost of you'♪ - 5 Seconds of Summer
Noahs Sicht
„Ni, aufwachen. Es ist Lesezeit!", ruft mir der kleine Frühaufsteher laut ins Ohr, wodurch ich natürlich aufwache. Grummelnd greife ich mit immer noch geschlossenen Augen nach dem Störenfried, hebe ihn hoch und schmeiße ihn auch aufs Bett. Statt einem entsetzen Aufschrei höre ich jedoch nur das glockenhelle Lachen meiner Schwester, durch das ich automatisch auch lächeln muss. Schließlich öffne ich also die Augen und schaue geradewegs in die strahlenden von Mia.
„Endlich bist du wach, Ni. Ich dachte schon, du hast den Lesetag vergessen."
„Das würde ich doch niemals. Aber ich wäre auch dankbar, wenn du mich sonntags nicht immer schon um sieben aufwecken würdest.", erwidere ich. Mia denkt darüber kurz nach, doch schüttelt schließlich den Kopf.
„Aber was soll ich denn dann machen? Dann langweile ich mich ja zu Tode, weil ich niemanden zum Spielen habe."
Ich lache leise über diese Aussage, lasse die Diskussion dann jedoch sein. Mia ist einfach eine Frühaufsteherin, das werde ich auch nicht ändern können.
„Und wo sind dann die Bücher, du kleiner Quälgeist?", frage ich, als ich sehe, dass sie keines in den Armen hat. Grinsend zeigt sie daraufhin mit dem Finger auf den Boden.
Ah, wir sind wieder auf dem Märchentrip, denke ich, als mein Blick auf das Buch fällt, dass vor meinem Bett liegt. Es ist wirklich witzig zu beobachten. Alle paar Wochen hat Mia ein anderes Buch, das sie einfach immer wählt.
Bis auf den einen Abend in dieser Woche hat sie in den letzten vierzehn Tagen immer „Die Eiskönigin" gewählt. Jetzt sind anscheinend wieder Grimms' Märchen an der Reihe, die wir in einem ganzen Sammelband gebunden haben.
Also hebe ich das Buch auf und setze mich ein wenig auf. Mia kuschelt sich an meine Brust und wählt ein Märchen aus. Sie entscheidet sich – wenig überraschend, da es ihr Lieblingsmärchen ist - für Aschenputtel.
Doch - typisch für meine Schwester - nur zwanzig Minuten später, mittendrin in der Geschichte, wird es ihr zu langweilig und fordert ein Frühstück. Grinsend stehe ich auf, werde meine Kleine über die Schulter und gehe nach unten in die Küche. Nur wenig später sind die Eier fertig, der Grießbrei ebenfalls und alle anderen Sachen stehen schon am gedeckten Tisch.
Das ist unsere Sonntagstradition. Zuerst lese ich Mia etwas im Bett vor und dann gibt es ein riesen Frühstück.
Als ich die zwei letzten Sachen noch vom Herd auf den Tisch bringen will, steht auf einmal Claire, ebenfalls im Pyjama, vor mir.
„Guten Morgen. Habt ihr etwas dagegen, wenn ich euch Gesellschaft leiste?"
Mein überraschter Gesichtsausdruck weicht einem Lächeln. „Nein, natürlich nicht. Ich mache so oder so immer zu viel. Willst du lieber Kaffee oder Tee?"
Sie setzt sich also auf den Stuhl neben Mia und überlegt. Da fällt ihr Blick auf die Tasse unserer kleinen Schwester.
„Könnte ich auch einen Kakao mit Marshmallows haben?", fragt sie schließlich, wobei ein riesen Lächeln ihr Gesicht ziert. Auch ich muss Grinsen, aber mache mich sofort daran, ihren Wunsch zu erfüllen.
Und so sitzen wir das erste Mal seit einem Jahr gemeinsam am Frühstückstisch. Auch, wenn Claire sich nicht viel an den Gesprächen beteiligt, sehe ich doch, dass sie und aufmerksam zuhört. Ich sehe sie sogar ab und zu grinsen, wenn Mia eine ihrer Geschichten aus dem Kindergarten berichtet. Gerade ist sie dabei, ihr über das neue Mädchen, das sie unter ihre Fittiche genommen hat zu erzählen. Als sie hört, wie die kleine Heldin die Neue vor den Jungs beschützt hat, ist Claire sichtlich berührt und lobt sie.
Während ich das ganze Frühstück das Verhalten meiner älteren Schwester beobachte, bin ich wirklich überrascht, was eine Stunde bei der Psychotherapeutin schon erreicht hat. Natürlich ist Claire nicht so, wie sie vor einem Jahr war. Immer noch sehe ich über den Tag verteilt die trauernde Miene und noch öffnet sie sich noch nicht ganz. Aber es sind die kleinen Schritte, die zählen. Allein, dass sie jetzt bei uns sitzt ist schon ein riesiger Schritt in die richtige Richtung. Oder, wie viel Spaß sie beim Skifahren hatte und dann auch so anlehnend reagiert hat, als wir Jessy getroffen haben.
„Was habt ihr heute geplant?", reißt mich Claire mit ihrer Frage aus meinen Gedanken. „Mia wollte noch einmal Eislaufen gehen und dann auf dem Weihnachtsmarkt vorbeischauen. Willst du mitkommen?", stelle ich die Gegenfrage.
Sie zuckt mit den Schultern. „Klar, wenn ich darf."
Ich bejahe das natürlich und mache mich daran, dass Frühstück wegzuräumen.
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Nur eine Stunde später sind wir in der Stadt und gehen gerade in Richtung des Eislaufplatzes. Mia läuft zwischen mir und Claire und hält unsere Hände. Sie strahlt über das ganze Gesicht und redet wie ein Wasserfall, sodass meine Schwester und ich nicht viel anderes machen müssen, als brav zu nicken. Gott sei Dank ist heute, da alle Geschäfte geschlossen haben, nicht allzu viel los. Ich bin wirklich überrascht, als wir an unserem Ziel ankommen, ohne dass Mia darauf bestanden hat, dass ich sie trage.
Selbst hier am Platz ist nicht viel los, nur ein paar Familien kreisen am Eis herum.
Wenig später stehen wir mit Kufen an den Füßen ebenfalls dort. Heute ist sogar eines dieser Plastiktiere, die den Kleinen helfen sollen, frei. Also schnappt sich Mia einen Pinguin und hält sich daran fest, während sie mit wackeligen Schritten versucht, nicht umzufallen. Sie macht das wirklich gut, auch, wenn sie noch eher am Eis geht, als dahin zu gleiten. Aber das machen doch alle Kinder, bevor sie es wirklich können, oder? Claire hilft unserer Kleinen so gut es geht und stellt sich damit definitiv besser an, als ich. Sie war schon immer die Geduldigere von uns.
Ich kann es mir nicht nehmen, heimlich ein paar Fotos von meinen Schwestern zu machen, da es einfach zu süß aussieht. Doch anscheinend bin ich nicht so unauffällig, wie ich denke, denn auf einmal ruft Claire: „Du könntest weniger Paparazzi spielen und hier ein wenig helfen. Außerdem ist es nicht fair, dass nur wir auf den Fotos oben sind." Ich grinse daraufhin und beeile mich, aufzuholen.
Bei meinen Schwestern angekommen, fragt auf einmal eine Mutter, die mit ihrem Sohn ebenfalls am Eis ist und die Situation anscheinend mitbekommen hat, freundlich, ob sie von uns allen dreien ein Bild machen sollen.
Wenig später gibt sie mir mein Handy zurück und ich bedanke mich. „Keine Ursache. Ich finde es wirklich toll, wie Sie sich trotz Ihres Alters um Ihre Tochter kümmern.", antwortet die Frau und fährt mit ihrem Sohn davon.
Zuerst bin ich zu perplex, um zu reagieren, doch dann fängt Claire zu lachen an, wodurch ich ebenfalls angesteckt werde, mitzulachen.
„Als ob ich jemals mit jemanden wie dir zusammenkommen würde. Igitt.", bring sie lachend hervor. Zur Antwort strecke ich nur wie ein Kleinkind die Zunge heraus.
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Eine Stunde später hat Mia genug und wir gehen zu dritt in Richtung des Adventmarkts. Nun sitzt der kleine Schlingel natürlich auf meiner Schulter und zappelt herum, da sie immer etwas Neues sieht, was sie fasziniert. Denn nach dem Schlittschuhlaufen war sie zu müde, um selbstständig zu gehen.
„Mia, könntest du bitte versuchen, ein wenig ruhiger zu sitzen? Du fällst sonst noch runter.", bitte ich sie.
„Ok Ni, mache ich.", antwortet sie und dreht sich im nächsten Moment wieder abrupt um, da sie ein leuchtendes Rentier in der Auslage eines Geschäfts gesehen hat. Ich seufze nur und schließe meine Hände fester um die Beine meiner Schwester. Gott sei Dank ist es nicht mehr weit, bis wir am Weihnachtsmarkt angekommen sind.
Claire neben mir kichert. „Du kannst ihr einfach immer noch nichts abschlagen." Ich ziehe daraufhin nur eine Grimasse.
Wenig später sind wir da und ich suche nach einem Stand, bei dem es etwas Kleines zu essen gibt, da Mia über Hunger klagt. Das ist natürlich nicht schwer und nur Minuten später isst sie glücklich eine Waffel, die von Honig nur so trieft. Das ist zwar kein wirklich gesundes Mittagessen, aber da ich heute am Abend etwas Anständiges kochen will, ist das schon in Ordnung.
Nachdem sie fertig ist, gehen wir weiter und bleiben an einem anderen Stand hängen, bei dem man sich sogar hinsetzen kann. Also bleiben wir dort und bestellen drei Mal Punsch – natürlich ohne Alkohol. Während Mia sich mit einem Zeichenblock beschäftigt, den ich mitgebracht habe, stelle ich Claire endlich die Frage, die mir schon seit Tagen auf der Zunge brennt.
„Was läuft da eigentlich zwischen dir uns James?"
Sofort wird sie rot. „Ich... weiß nicht. Ich meine, ich fand ihn schon immer wirklich scharf, aber naja, er war dein bester Freund und da war er für mich eigentlich abgeschrieben. Aber seit dem Unfall hat er sich wirklich immer um mich gekümmert. Er war mich sogar öfters alleine im Krankenhaus besuchen und hat mich das eine oder andere Mal, wenn ich wieder einmal total abgestürzt bin, von einer Party abgeholt. Und ja, als er dann das letzte Mal bei mir geblieben ist, während du Mia abgeholt hast, da haben wir wirklich ewig geredet und ja, seitdem bekomme ich ihn irgendwie nicht mehr aus meinem Kopf. Aber das geht nur mir so, du brauchst dir also keine Sorgen machen und James zur Rede stellen oder so. Irgendwann werde ich schon über ihn hinweg sein."
Das Geständnis, dass sie ihn ebenfalls mag, überrascht mich weniger, als das andere. Ich wusste nicht, dass James die letzten Monate so gut auf meine Schwester aufgepasst hat. Jetzt muss ich mir dringend etwas einfallen lassen, wie ich das wieder gut machen kann.
Sanft lege ich eine Hand auf ihre und grinse verschwörerisch. „Das weißt du doch nicht. Und keine Sorge, ich kenne James schon so lange, bei ihm würde ich nicht den großen beschützerischen Bruder raushängen lassen, versprochen." Dass ich das schon getan habe, muss ich ihr ja nicht auf die Nase binden.
Claire nickt immer noch mit roten Wangen und schenkt mir einen dankbaren Blick. „Danke, dass ich heute nicht allein sein muss.", murmelt sie leise.
Ich drücke ihre Hand, die immer noch unter meiner liegt, fest. „Das ist doch selbstverständlich.
Nach diesen ernsten Themen wenden wir uns etwas Heitereren zu. Als ich bei der Kellnerin gerade zahlen will, fragt Mia auf einmal: „Du Ni, wir machen heute schon unsere normale Adventsonntag Tradition?" Ich nicke als Antwort, als die braunhaarige Kellnerin plötzlich Lachen muss. „Jaja, diese Weihnachtstraditionen. Einer Freundin von mir hat diese Mistelzweig-Tradition ganz schön Kopfzerbrechen gemacht. Sie ist wie ausgewechselt seitdem und bekommt das einfach nicht mehr aus dem Kopf. Aber egal, schönen Tag wünsche ich euch noch.", wirft sie ein und verschwindet mit unseren Gläsern zum nächsten Tisch.
Den ganzen Weg zurück zum Auto bekomme ich das Gesagte nicht mehr aus dem Kopf. Kann es sein, dass das Mädchen ihre Freundin ist? Doch ich will mir keine falschen Hoffnungen machen. Auch wenn die Stadt nicht allzu groß ist, gibt es sicher nicht nur einen Kuss unter dem Mistelzweig. Deswegen verwerfe ich den Gedanken und wende mich anderen Dingen zu. Denn der Weg, den wir drei Geschwister jetzt machen müssen, ist viel schwerer.
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Es ist still am Friedhof. Die Sonne ist schon untergegangen und die letzten Lichtstrahlen am Himmel geben der Umgebung einen friedliche Atmosphäre. Ich weiß nicht, wie viel Mia schon versteht, aber sie scheint den Stimmungswechsel von Claire und mir zu bemerken, denn sie ist still und kuschelt sich näher an mich, während ich sie am Arm halte. Schließlich kommen wir an unserem Ziel an, dem Grab unserer Eltern. Genau heute vor einem Jahr haben wir unseren Vater verloren, nur wenige Tage später unsere Mutter. Auf dem Grabstein steht: ‚Hier ruhen Paul und Anna Koch. Geliebte Eltern und freundliche Kollegen. Erinnerungen sind kleine Sterne, die tröstend in das Dunkel unserer Trauer leuchten. Für immer im Herzen.' Darunter sind noch die Geburts- und Sterbedaten eingraviert.
Ich höre das stumme Schluchzen von Claire, als sie den Strauß Blumen, den wir gekauft haben, auf das Grab legt. Ich greife daraufhin nach ihrer Hand, woraufhin sie sich an mich lehnt und ihren Kopf auf meiner Schulter bettet. Auch ich kann ein paar Tränen nicht zurückhalten. Nie hätte ich gedacht, dass ein paar Sekunden dein ganzes Leben ändern können. Der 9. Dezember 2017 war doch eigentlich ein ganz normaler Tag, bis er zu dem schrecklichsten wurde, den wir erleben konnten. Nur ein unachtsamer Moment und eine ganze Familie wird auseinandergerissen.
„Wieso sind Mami und Papi hier, wenn sie doch im Himmel sind?", durchbricht Mia die Stille. Ich brauche ein wenig, bis ich die richtigen Worte finde. „Weißt du, Mia, hier sind die Körper begraben. Aber wenn man stirbt wandert die Seele zum Himmel. Mama und Papa sind jetzt bei den Engeln."
Daraufhin fließen auch ein paar Tränen über die Wangen meines persönlichen Engels, was mir fast das Herz bricht. Sie sollte nicht ohne Eltern aufwachsen müssen, das ist einfach nicht fair. Nie wird sie sich an die Fürsorge unserer Mutter erinnern, oder an die liebevolle Strenge unseres Vaters. Wieso hat das Schicksal es entschieden, dass sie das alles missen muss?
So stehen wir noch einige Zeit da, beide Schwestern an mich geschmiegt und trauern gemeinsam. Das ist das erste Mal, dass wir versuchen, uns unsere Trauer gegenseitig abzunehmen.
Schließlich löst sich Claire schniefend von mir und im stillen Einvernehmen machen wir uns auf den Weg zurück zum Auto.
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Eine Stunde später stehe ich gerade in der Küche und schneide das Gemüse für den Letschoreis, als Claire, die bis dahin mit Mia im Wohnzimmer gespielt hat, in die Küche tritt.
„Kann ich dir helfen?", fragt sie und ich nicke. „Klar gerne. Die Paprika müssen noch geschnitten und der Reis müsste langsam aufgestellt werden." Claire nickt und macht sich daran, das Gesagte zu erledigen. Eine Weile arbeiten wir schweigend.
„Danke. Die gemeinsame Zeit hat mir wirklich viel bedeutet. So war es leichter, den Tag zu überstehen.", durchbricht sie schließlich die Stille. Ich lege mein Messer bei Seite, trete zu ihr und umarme sie fest. „Danke, dass du dich wieder öffnest. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Sorgen ich mir um dich gemacht habe. Ich habe mich einfach so hilflos gefühlt, da ich nicht wusste, wie ich dir helfen kann. Hoffentlich weißt du, dass du immer zu mir kommen kannst, wenn du reden willst. Ich werde immer auf Mia und dich aufpassen und wir werden das zusammen überstehen, okay?", flüstere ich ihr ins Ohr. Und wieder hat Claire Tränen in den Augen und umarmt mich als Antwort nur noch fester.
Während des Essens lockert sich die Stimmung auf und wir lachen sogar ein wenig. Spätestens bei unserer Adventtradition, die aus Kekse essen und Weihnachtslieder singen besteht, sind wir wieder heiterer, nicht zuletzt wegen Mia, die stolz die Lieder mitsingt, die sie schon kennt und auch eifrig ihre Weihnachtsgedichte aus dem Kindergarten aufsagt.
Danach bringt Claire unsere kleine Schwester ins Bett und wünscht mir danach auch eine Gute Nacht, da sie ein wenig in ihrem Zimmer lesen will. Währenddessen räume ich alles weg und richte noch schnell die Sachen für den Kindergarten morgen her. Nachdem ich noch ein wenig für die letzte Klausur vor den Weihnachtsferien gelernt habe, mache ich mich ebenfalls bettfertig. Kurz vor dem Einschlafen muss ich noch einmal mit meiner Trauer kämpfen. Was würde ich dafür geben, meine Eltern noch einmal in die Arme zu nehmen?
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Hey Leute!
Schönen 2. Advent wünsche ich euch.
Ich hoffe, euch gefällt das Kapitel. Habt ihr Verbesserungsvorschläge, Kritik oder Anregungen?
LG :)
Lene217
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