Mittwoch, 5. Dezember - Selbstzweifel


Grief is in two parts. The first is loss. The second is the remaking of life.' – Anne Roiphe

Noahs Sicht

Ich spüre die kalte Luft der Nacht nicht, so wütend bin ich. Noch nie habe ich so viel Zorn und Selbsthass gespürt. Ständig spuckt das schneeweiße Gesicht meiner Schwester in meinem Kopf herum, wie sie reglos an einem Tropf angeschlossen in einem Krankenhausbett liegt.

Jeder, der mich jetzt sieht, hält mich bestimmt für verrückt. Welcher normale Mensch geht denn auch um halb fünf in der Nacht bei minus vier Grad laufen? Doch ich konnte nicht anders, da ich mich nur im Bett hin und her gewälzt habe vor lauter Rage.

Alles begann gestern im Einkaufszentrum. Ich war so überrascht, als plötzlich das unbekannte Mädchen vor mir stand. Das schüchterne Lächeln, das dem zuerst süßen, überraschte Gesichtsausdruck gefolgt ist, ließ mein Herz schneller schlagen. Wie von selbst gingen meine Mundwinkel ebenso in die Höhe.

Doch dann ging alles schief. Zuerst kam diese Gruppe mit den Touristen und versperrte mir die Sicht und zeitgleich erhielt ich einen Anruf von Bob Schaller, der ehemalige Partner meines Vaters und unserer Familienanwalt.

Ich hätte mich wirklich gerne mit der Unbekannten unterhalten, doch die Sache, die der Anrufer mir mitteilte, hatte definitiv Vorrang. Schon der erste Satz von ihm ließ mich auf der Stelle in Richtung meines Autos losrennen.

„Hallo Noah, du musst ins Krankenhaus kommen. Claire wurde gerade eingeliefert."

Bis ich am Auto war, habe ich nur noch gesagt bekommen, dass meine Schwester anscheinend von der Polizei eingeliefert wurde, weswegen man auch Bob informiert hat.

Erst im Krankenhaus erfuhr ich von einem Polizisten die ganze Geschichte. Man hatte meine Schwester halb bewusstlos in einem Park gefunden. Statt in die Schule zu gehen, hing sie lieber mit ihren sogenannten ‚Freunden' ab, die, als die Polizei gekommen ist, alle verschwunden sind. Claires Blutalkoholwert lag bei 2,5 Promille. Und das um halb zwei zu Mittag.

Nach der Erzählung habe ich mich bei den Polizisten bedankt und bin schließlich ins Zimmer meiner Schwester gelassen worden.

Die nächsten Stunden habe ich damit verbracht, an ihrem Bett zu sitzen und über sie zu wachen. Zwischendurch habe ich wirklich versucht, ein wenig für die anstehenden Klausuren zu lernen, doch vergebens. Dafür habe ich mich einfach viel zu schlecht gefühlt. Denn auch wenn ich im tiefsten Inneren weiß, dass ich für den Vorfall nicht verantwortlich bin, wurde und werde ich noch immer von Schuldgefühlen überschwemmt. Die ganze Zeit dachte ich über das letzte Jahr nach, an all die Dinge, die ich anders machen hätte können. Wäre der Vorfall passiert, wenn es etwas geändert hätte?

Inmitten des Trubels habe ich fast vergessen, Kathy anzurufen, um sie zu bitten, Mia abzuholen und auf sie aufzupassen, bis ich daheim wäre. Nur grob habe ich ihr die Geschichte erzählt, woraufhin sie Gott sei Dank ihre Pläne für den Abend abgeblasen hat.

Erst kurz vor acht am Abend ist Claire aufgewacht. Sofort wurde sie von einem jungen Arzt namens Dr. Steiner untersucht. Zur Überraschung aller war sie weder stark desorientiert, noch hatte sie sonst ernsthafte Beschwerden, bis auf einen stechenden Kopfschmerz und Übelkeit. Anscheinend hat das Medikament, dass sie über den Tropf zugeführt bekam, Wunder bewirkt.

Wenig später kam eine Psychologin in den Raum, um mit meiner Schwester ein Gespräch zu führen. Ich musste das Zimmer währenddessen verlassen.

Danach wollte ich eigentlich mit Claire reden, doch die Psychologin teilte mir mit, dass sie Ruhe braucht und ich am nächsten Tag wiederkommen soll, da sie über Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben musste.

Doch ich war viel zu aufgeweckt zum Schlafen. Stundenlang habe ich versucht, einzuschlafen, doch es ging einfach nicht. Also habe ich beschlossen, laufen zu gehen, um so vielleicht ein bisschen meiner Wut freizulassen.

Ich weiß nicht, wie lange ich vor mich hin laufe, doch durch mein Tempo und die Kälte fangen meine Lungen an, zu protestieren. Nach einer Weile bleibe ich keuchend stehen und schnappe nach Luft. Erst jetzt bemerke ich, dass ich weine. Da ich gerade in einem Waldstück bin, setze ich mich einfach auf einen Baumstumpf und lasse meinen Tränen freien Lauf. Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Was kann ich tun, um Claire vor sich selbst zu retten? In diesem Moment wird mir auf einmal alles zu viel. Ich bin 23 verdammt. Woher soll ich wissen, wie man ein Kleinkind richtig erzieht und wie ich meine achtzehnjährige Schwester wieder auf die richtige Bahn bringe? Mir fehlt einfach die Lebenserfahrung.

Das Zwitschern eines Vogels reißt mich schließlich aus meinem Selbstmitleid. Eine Kohlmeise sitzt nur wenige Meter von mir entfernt auf einem Ast. Meine Mutter hätte mir jetzt bestimmt alle möglichen Fakten über das Tier erzählt. Sie war einfach eine Vogelfanatikerin. Ich wische die Tränen von meiner Wange und stehe auf. Der Gedanke an meine Mutter gibt mir neue Zuversicht . Sie hat immer an mich geglaubt und das muss ich jetzt auch. Irgendwie biege ich alles wieder gerade. Ich muss einfach für meine Schwestern stark bleiben, denn sie verlassen sich auf mich.

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Nur wenige Stunden später gehe ich in Richtung der Universität. Die neue gewonnene Zuversicht hat mir geholfen, auch noch laufend heimzukommen. Nachdem ich frisch geduscht und fertig für die Uni war, habe ich meine Schwester geweckt. Sie schien zu spüren, dass es mir nicht gut ging, denn ich habe bemerkt, dass sie bewusst versucht hat, mich zum Lachen zu bringen. Allein durch sie hat sich meine Laune in der Früh gebessert, auch wenn die Sorgen blieben.

Kathy scheint ihr erklärt zu haben, dass es Claire nicht gut geht, denn bis auf die Aussage, sie hoffe, es gehe Claire bald besser, hat sie das Thema nicht angesprochen.

Nachdem ich Mia beim Kindergarten abgesetzt habe, habe ich mich auf den Weg hierher gemacht, da heute eine Klausur ansteht.

James und überraschenderweise auch Sam warten am Eingang auf mich. Ich habe ihnen gestern natürlich noch von der Sache mit Claire erzählt, weswegen ihre Mienen jetzt Sorgenfalten tragen. Doch sie kennen mich wirklich gut, da sie sich jedes Kommentar dazu verkneifen. Denn vor einer Prüfung habe ich nie Lust, über etwas zu diskutieren.

Nur eine Stunde später bin ich schon wieder im Freien. Die Klausur lief besser als gedacht.

Mein nächster Gang wird jedoch schwerer, als der zur Klausur. James scheint mein Unbehagen zu spüren, denn er bietet selbstlos an, mich ins Krankenhaus zu begleiten. Dankbarkeit durchflutet mich. Wie habe ich so gute Freunde nur verdient?

Die Fahrt verläuft schweigend. Mein bester Freund scheint zu spüren, dass ich nicht reden will und akzeptiert es, ohne sich darüber zu beschweren. Erst als ich vor Claires Zimmer stehe und kurz zögere, legt er eine Hand auf meine Schulter und meint voller Überzeugung: „Du schaffst das."

Im Zimmer ist es dunkel, das Licht ist aus und die Vorhänge zugezogen, weshalb ich glaube, dass meine Schwester schläft. Doch als ich mit James im Schlepptau um die Ecke biege, sehe ich, dass sie mit offenen Augen auf die Decke starrt.

Erst durch mein leises „Hey, wie geht's dir?", dreht sie den Kopf in unsere Richtung und schaut mich mit ausdruckslosen Augen an. Mir zieht es das Herz zusammen, als ich sehe, wie mitgenommen sie aussieht.

Dunkle Augenringe zieren ihr sonst so hübsches Gesicht und sie ist sehr bleich. Doch ihre nächste Reaktion überrascht mich sehr. Sie streckt die Arme aus und bedeutet mir, näher zu kommen. Als ich mich auf den Rand des Bettes setzte, zieht Claire mich zu sich, vergräbt ihren Kopf an meiner Brust und fängt bitterlich an zu weinen. Immer wieder kommt eine geschluchzte Entschuldigung über ihren Mund. Ich selbst kann nicht verhindern, dass ein paar Tränen über meine Wange rollen.

„Sch, du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Wir schaffen das, zusammen.", antworte ich immer wieder.

Wir verharren sicher zehn Minuten in dieser Position, bis sie sich von mir löst und mir das erste Mal seit Monaten ein echtes Lächeln schenkt. Und trotz ihrer verweinten Augen ist es das Schönste, das ich je an ihr gesehen habe.

Erst jetzt fällt mir auf, dass James gar nicht mehr im Raum ist. Dafür klopft in diesem Moment derselbe Arzt wie gestern an die Tür. Er bittet mich, kurz mit ihm mitzukommen.

Also folge ich ihm in sein Büro, in dem ich mit ihm gegenüber am Schreibtisch niederlasse.

„Also, Herr Koch, die Werte ihrer Schwester waren heute Morgen fast wieder im Normalbereich, aber ich würde sie gerne noch eine Nacht hierbehalten, da sie in der Nacht durch Erbrechen sehr viel Wasser verloren hat. Jedoch hätte ich einige Fragen bezüglich des Verhaltens ihrer Schwester in den letzten Monaten.", meint Dr. Steiner freundlich.

Die nächsten Minuten erzähle ich ihm von den Veränderungen meiner Schwester seit dem Unfall. Die Gereiztheit, der Wechsel in ihrer Persönlichkeit, die falschen Freunde und auch, welche Versuche ich unternommen habe, um ihr zu helfen. Dr. Steiner hört aufmerksam zu und notiert sich hin und wieder etwas.

Schließlich nickt er. „Ihre Schilderungen passen genau auf die Ergebnisse, die gestern bei der psychologischen Untersuchung festgestellt worden sind. Deswegen möchte ich Ihre zusätzliche Einverständniserklärung, dass es in Ordnung ist, Claire einmal pro Woche eine Sitzung bei einer Psychologin zu schicken, die auf Trauerverarbeitung spezialisiert ist. Ihre Schwester hat dem bereits zugestimmt."

Überrascht sehe ich ihn an. Natürlich habe ich Claire auch schon angeboten, ihr professionelle Hilfe zu zahlen, doch das einzige, was dabei raus kam, war ein furchtbarer Streit.

Dr. Steiner scheint mir seine Überraschung anzusehen und muss leicht lächeln. „Wissen Sie, Herr Koch, oft braucht es nicht viel, um einen Menschen von einer festgefahrenen Meinung abzubringen. Die Einlieferung ins Krankenhaus war der nötige Weckruf, den Ihre Schwester brauchte, damit sie gemerkt hat, dass es ihr nicht so gut geht, wie sie es sich vorgemacht hat. Und manch ein Rat, so gut er auch sein will, darf einfach nicht von der engsten Familie kommen.", erklärt er mir und spielt bei Letzterem sicher auf meinen Versuch an, sie dazu bewegen, eine Psychotherapie zu machen.

Auf einmal piepst jedoch sein Pager, wodurch er sich erhebt. „Es tut mir leid, das Gespräch so abrupt beenden zu müssen, doch ein neuer Patient ruft. Viel Glück weiterhin, Herr Koch."

Claire nimmt die Nachricht, dass sie noch hierbleiben muss, überraschend gelassen auf. James, der während meiner Abwesenheit bei ihr im Zimmer war, erklärt sich dazu bereit, weiterhin hier zu bleiben, während ich Mia vom Kindergarten abhole. Ich glaube, es würde meiner älteren Schwester gut tun, die Kleine zu sehen.

Nur eine halbe Stunde später stehe ich mit Mia an der Hand wieder vor der Tür. Ich spare mir das Klopfen und trete leise ein. Als ich um die Ecke biege, bleibe ich überrascht stehen. Denn James und Claire halten Händchen und sehen erschreckt in unsere Richtung, als unser Eintreten sie an ihrer leisen Unterhaltung stört.

Kurz herrscht eine unangenehme Stille, doch Mia reißt sich plötzlich von meinem Arm los und rennt Richtung Krankenbett.

„Ich hab mir Sorgen um dich gemacht Clee.", sagt sie leise, klettert aufs Bett und schmiegt sich an ihre große Schwester. Die entzieht endlich James ihre Hand und legt beide Arme um unseren kleinen Engel.

Es wird noch ein netter und lustiger Abend. Die meiste Zeit erzählt Mia Geschichten aus dem Kindergarten. Ihr Redefluss ist sogar noch stärker als sonst. Man merkt, dass sie wirklich froh ist, dass es Claire gut geht. Wir bestellen uns sogar Essen ins Krankenhaus, damit ich daheim nichts mehr für uns machen muss.

Eigentlich wollte ich mit Mia zu ihrem ersten Krampus-Umzug gehen, der heute in der Stadt stattfindet, doch sie weigert sich, das Bett unserer Schwester zu verlassen.

Doch wir haben Glück, als es gerade so richtig dunkel geworden ist, höre ich auf einmal Glocken und das Rasseln von Ketten. Und wirklich, als ich aus dem Fenster schaue, sehe ich, dass die Tour des Umzuges anscheinend genau an der Straße, in dem sich das Krankenhaus befindet, vorbei geht. Wir alle beobachten also die verschiedenen Gruppen von unserem sicheren ersten Stock, ohne in die Gefahr der Ruten zu kommen. Überaschenderweise findet Mia die Gestalten nicht furchteinflößend, sondern hüpft vergnügt auf meinem Arm auf und ab.

Um acht verabschieden wir uns von Claire, da Mia schon fast auf ihrem Bett eingeschlafen ist. Ich setze James vor seinem Haus ab und fahre dann so schnell wie möglich heim, da ich nicht will, dass meine kleine Schwester in ihrem Sitz einschläft. Zu Hause angekommen gebe ich ihr nur schnell eine Katzenwäsche. Heute brauche ich nicht einmal eine Seite lesen, bis sie eingeschlafen ist. Und auch ich spüre die schlaflose Nacht langsam. Also mache ich mich so schnell es geht fertig. Die pure Erleichterung über die ersten Veränderungen beflügelt mich. Doch dadurch, dass die Last von heute in der Früh von mir gefallen ist, fühle ich mich nur noch mehr erschöpft, als ich es durch den Schlafmangel so oder so schon bin. Deswegen falle ich, kaum, dass mein Kopf auf dem Kissen gebettet ist, in einen traumlosen, erholsamen Schlaf.

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Hey Leute! 

Das Bild soll Claire darstellen :)

Wie gefällt euch das Kapitel? Anregungen, Fragen, Kritik? Immer her damit :)

Habt noch einen schönen Abend :)

Lene217

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