16. Kapitel

Zwei Tage später hat Marlon mich überredet, dass ich mit ihm Kicker spiele. Kurz danach musste er aber auch schon weg, da er eine Untersuchung hatte. Nur widerwillig ist er seiner Mutter gefolgt und hat mir versprochen, dass wir irgendwann noch einmal zu Ende spielen.
Deshalb sitze ich auf der Couch, welche ebenfalls in der Aufenthaltsecke ist und entspanne mich. Denn alleine nicht in meinem Zimmer zu sein ist erleichternd und lässt mich ein Stück besser fühlen.
Außerdem wollen Vinz und Ryder gleich kommen und ich habe Hoffnung, dass ich nochmal mit Ryder reden kann und wir vielleicht nebenbei kickern können – ich denke, dass ihn das ein wenig ablenken könnte. Zudem genieße ich jede Sekunde, in welcher ich nicht das Piepen hören muss, da es mir erlaubt ist, wenn ich unter Aufsicht bin, das Gerät abzuschalten. Und da man mich von der Rezeption aus sehen kann und eigentlich immer jemand bei mir ist, habe ich einmal Ruhe.

„Hey!" Vinz und Ryder kommen um die Ecke, weshalb ich mich hochstemme und auf meinen wackeligen Beinen stehen bleibe. Sofort werde ich von Vinz in die Arme genommen, was ich leicht erwidere. Dann lasse ich mich wieder auf die Couch sinken, bevor meine Beine nicht mehr mitmachen. „Ich muss noch kurz weg, da ich im Parkverbot stehe. Aber ich komme gleich wieder, tut mir leid." Dann verschwindet Vinz wieder und lässt Ryder und mich alleine.

„Du bist blass." Er kommt zum Sofa und setzt sich an das andere Ende.

„Ich weiß." Als ich heute ein Bild von mir von vor einem Jahr und dann mich im Spiegel gesehen habe, war ich entsetzt. Nicht nur, dass ich krankhaft viel abgenommen habe, meine Haut ist dünner und vor allem blasser geworden. Auch meine Haare sind weniger geworden und im Generellen kann man sagen, dass ich sehr viel kranker aussehe, als damals. Was ein Wunder.

„Ich hoffe es stört dich nicht, dass ich nicht so für dich da bin. Ich weiß nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll." Er starrt ins Leere.

„Kein Problem."

„Ich wollte das Projekt in Musik mit dir machen. Ich habe Frau Hansen extra davor darauf angesprochen, da sie mit mir darüber geredet hatte, dass ich mich anstrengen müsse, um zu bestehen. Und zum einen warst du gut in Musik und du schienst auch ein lebensfroher Mensch zu sein. Ich glaube, irgendwo hatte ich noch Hoffnung, dass du mir indirekt helfen würdest." Er lehnt sich an das gelbe Polster und lächelt leicht. „Das ist so komisch." Er schüttelt den Kopf, noch immer das Lächeln im Gesicht.

Er wollte das mit mir machen? Und hat dann trotzdem die meiste Zeit nichts gemacht? 

„Weißt du, irgendwo erinnerst du mich an sie. Also meine Schwester, du weißt noch damals, das Gespräch am Tisch?"

Ich nicke. Ja, daran erinnere ich mich noch. Sehr gut sogar.

„Sie hat das Leben geliebt. Zumindest dachte ich das." Das Lächeln verschwindet und er fährt sich durch die Haare. „Sie hat sich ihr Leben genommen, in der Nacht zum ersten Schultag in der Zehnten. Es war meine Schuld, glaube ich. Meine Freunde haben sie gemobbt und ich wusste es nichts, habe sie dazu gezwungen, etwas mit mir und ihnen zu machen. Sie haben sie fertig gemacht, bis sie nicht mehr konnte. Und ich habe ihnen dabei geholfen." Eine einzelne Träne rinnt über seine Wange, welche er sofort wegwischt und zu mir sieht. „Ich habe sie gefunden. Sie lag auf ihrem Bett, hatte sich die Pulsader aufgeschnitten. Und es hatte funktioniert. Vorher hat sie nie irgendeine Andeutung gemacht, zumindest habe ich sie nicht gesehen. Aber auf dem Schreibtisch lag ein Brief, wo sie es niedergeschrieben hat. Alles. Wer sie dazu gebracht hat, dass es ihr leidtue, dass sie nicht mehr könne." Am Ende bricht seine Stimme, weshalb er tief durchatmet. „Sie war fünfzehn! Sie war so jung ..." Kurz vergräbt er sein Gesicht in den Händen, dann schaut er zu mir. „Sollte ich mich schlecht dafür fühlen, dass ich es dir erzähle, weil ich weiß, dass du sowieso nicht mehr lange zu leben hast und mich nicht verurteilen wirst?"

„Nein, alles gut. Ich verurteile dich dafür auch nicht, du konntest es nicht wissen. Aber es freut mich, dass du mir das anvertraust." Es waren wirklich Bill, Mo und Y. Ich erinnere mich daran, sie mit Ryder in der Cafeteria gesehen zu haben. Wann das war, oder ob noch wer anders dabei war, weiß ich nicht, aber sie schienen sich zu kennen.

„Schau mal, das war sie." Er holt sein Handy aus der Hosentasche und knappe fünf Sekunden später hält er es mir hin. Auf dem Bild ist ein Mädchen zu sehen, sie hat die gleichen dunkelbraunen Haare wie Ryder, welche offen über ihren Schultern liegen. Und auch die grüne Augenfarbe teilt sie sich mit ihm. Ein schmales Lächeln liegt auf ihrem Gesicht, lässt sie glücklich wirken.

„Das war in den Sommerferien. Schau mal ihre Klamotten an."

Er deutet auf den Hoodie, welchen sie trägt und in wessen Taschen sie ihre Hände vergraben hat. Auch eine lange Hose hat sie an.

„Sie hat sich geschnitten. Spätestens hier hätte ich es merken sollen. Wir waren an einem Badesee und sie hat durchgehend lange Sachen angehabt." Er zieht kurz sein Handy zu sich, scrollt ein wenig und hält es mir wieder hin.

Diesmal sind es Ryder und sie. Beide haben die Augen größtenteils zu, wahrscheinlich da die Sonne sie blendet. Im Hintergrund ist ein Garten zu sehen und vor ihnen steht ein Kuchen, auf welchem eine 15 geschrieben ist. Auch hier trägt sie etwas langärmliges.

„Das war im April, als wir Geburtstag hatten. Sie hatte schon damals diese Gedanken, aber niemand wusste es. Weißt du ... ich vermisse sie. Ich vermisse es, abends irgendeine Serie mit ihr zu schauen, oder mich bei ihr über Lehrer zu beschweren. Oder abends einfach in ihr Zimmer zu kommen, wenn sie liest und sie mit etwas vollzutexten, was unnötig ist ... Sie fehlt mir wirklich." Zum Ende hin wird er immer leiser und als ich aufschaue, sehe ich Tränen, welche über sein Gesicht laufen. „Nutz das bloß nicht aus."

„Natürlich nicht!" Ich merke, wie Wut in mir aufkocht gegen diese drei Jungs, welche damals in meiner Klasse waren. Sie haben eine Familie zerstört! Und die Menschen darin. Und das nur für ihren Spaß? Für ihr Vergnügen? Wie kann man nur so erbärmlich sein.
„Willst du ..." Ich öffne meine Arme und nehme mein Bein von der Couch, um ihm zu zeigen, dass er herkommen kann. Es ist riskant, denn entweder verschließt er sich, oder er akzeptiert es.

Kurz zögert Ryder, dann überwindet er das kleine Stück, bis ich ihn an mich drücken und festhalten kann. Sein Kopf sinkt auf meine Schulter. „Ich war nicht bei ihrer Beerdigung", schluchzt er und seine eine Hand krallt sich in meinen Rücken. „Sie hat das alles nicht verdient ..."
Als er sich wieder beruhigt hat, entfernt er sich ein Stück und schaut mich an, als wäre ich ein Alien. „Sorry, das ist ... ganz seltsam." Er schiebt sich wieder auf die andere Seite des Sofas und lächelt mich vorsichtig an.

„Mach dir keinen Stress." Ich lege meine Hände in meinen Schoß und lasse meinen Kopf gegen die Wand hinter mir sinken. Warum bin ich so müde? Ich bin nicht einmal lange wach und das Kickerspielen kann mir auch nicht so viel Energie geraubt haben.

„Wie geht es dir eigentlich? Das habe ich total vergessen zu fragen, tut mir leid." Er zieht einen zerknirschten Gesichtsausdruck und schiebt sich das ein lila Kissen im Rücken zurecht.

„Ganz okay - man lebt, hm?"

Entgeistert schaut er mich an.

„Tut mir leid, ich versuche noch herauszufinden, wie ich am besten damit umgehen soll. Und sowas ist momentan am einfachsten für mich." Erst als ich Blut schmecke, realisiere ich, dass ich mir schon wieder meine Lippen aufgebissen habe.

„Stirbst du wirklich? Also ... kann man da nicht irgendwas machen? Chemo? Operation? Es gibt doch bestimmt etwas!"

Langsam schüttle ich meinen Kopf. „Nein, nicht mehr. Es wurde zu spät bemerkt und da hat der Tumor sich schon in Gefäße ausgebreitet, sodass man ihn nicht mehr rausoperieren konnte. Normalerweise wäre ich auch schon längst tot, ich werde momentan durch Medikamente und mein Atemgerät am Leben erhalten." Ich zucke mit den Schultern und verkneife mir ein aufkommendes Gähnen.

„Aber es gibt doch etwas! Es gibt doch für fast alles etwas! Man kann dich jetzt doch nicht einfach sterben lassen!", redet er sich weiter in Rage, wird dann aber leise. „Die Welt ist scheiße."

Bestätigend nicke ich.

„Weißt du, wie lange du noch hast?"

„Nein." Alles Andere geht bei ihm nicht. Auch wenn ich mich scheußlich fühle ihn anzulügen und sein Vertrauen noch mehr zu missbrauchen, aber bei ihm kann ich nicht einfach schweigen, wenn er dann fragen würde, wann ich tot wäre. Er würde immer weiter nachfragen, bis ich nachgeben würde. Im schlimmsten Fall würden wir uns anzicken.

„Aber es ist nicht mehr lange, oder? Ich meine, wenn du sagst, dass du nur noch am Leben erhalten wirst ..." Er seufzt leise und lehnt sich an das Kissen hinter sich.

„Ne, lange wird es nicht mehr sein. Ich versuche einfach das Beste aus der Zeit zu machen." Diesmal kann ich das Gähnen nicht unterdrücken.

„Aber stirbst du hier oder woanders?"

Ich muss grinsen, da mich die Frage an eine Unterhaltung mit einem ehemaligen Klassenkameraden erinnert. Er meinte, dass wenn er sich umbringen würde, er in den Grand Canyon springen würde, um noch einmal eine schöne Aussicht zu haben. Außerdem würde ihn dort niemand finden.
„Ich sterbe hier", beantworte ich schließlich Ryders Frage und werde wieder ernst.

„Ich würde hier nicht sterben wollen. Hier ist alles so steril, das ist scheußlich", murrt er. „Ich meine es ist ein Krankenhaus, die sind nie bunt oder persönlich, aber ein schöner Ort zum Sterben ist es trotzdem nicht."

„Hey!" Vinz kommt um die Ecke und als er seinen Bruder sieht, dessen Augen noch immer rot sind, hebe ich abwehrend meine Hände. „Ich habe ihm nichts angetan!"

Die nächste halbe Stunde unterhalten wir uns noch, dann gehe ich in mein Zimmer, um mich hinzulegen. Ich weiß nicht, bis wann sie bei mir geblieben sind, aber als ich eingeschlafen bin, waren sie noch da.

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