8.
Friendzonen.
Sie wollte ihn zappeln lassen. Ihn reizen und wütend machen. Sie wollte einfach mal seine Gefühle sehen. In einem Inferno.
Ihr war klar-solche Jungen waren sehr sensibel. Das mit dem Reizen durfte sie nicht zu weit treiben, sonst würde er wieder auf Abwehr schalten. Sie musste ihn zum Kochen bringen, Hae wollte es über alles in dieser Welt.
Bis jetzt war er eher geschockt als irgendetwas. Viel zu überrascht um sie abzuweisen und zu sehr beschäftigt mit seinen Gedanken in seinem hübschen kleinen Kopf. Sie ließ ihre Hände auf seinem Bauch und da er die Jacke nicht zu gemacht hatte, trennte nur das dünne T-Shirt sie. Hae musste grinsen und drückte ihr Gesicht in seinen Rucksack, um ihr Kichern zu verstecken. So ein süßer Junge...
"Hast du gehört, dass Bella und Rob gestern tatsächlich sich aufraffen konnten..." Leonard brachte den Satz nicht zu Ende und blieb vor einer Ampel stehen. Hae nickte, dann fiel ihr auf, dass er sie nicht sehen konnte und murmelte eine Zustimmung. War das gerade so wichtig? Sie hatte ihren Triumph gerade genießen wollen und er kam mit anderen Paaren an. Und natürlich gestern abend.
Sie hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Sehr viel. Und die hatte sich mit seinem und ihrem Verhalten von der Party auseinander gesetzt. Sie hätte ihn einfach küssen sollen. Der Moment hätte nicht viel geändert. Jetzt war Leon der erste Junge, der ihren Kuss abgewiesen hatte...der erste!
Sie vergrub ihr Gesicht noch tiefer in seinen Rucksack. Es wäre gelogen, sie würde ihn riechen, der Rucksack roch wie jeder andere, aber als sie ihren Griff um seinen Bauch festigte, spürte sie sein Herz heftig gegen seine Rippen schlagen und das Blut durch seinen Körper pumpen. Am liebsten hätte sie ihn damit getriezt, aber Hae genoß den Moment so sehr, sodass sie überrascht ihre Finger in ihn krallte, als sie anfuhren und mit einem Ruck es wieder los ging.
"Und worum geht es in Lost Souls?" Seine Stimme war beinahe entspannt, aber Hae konnte die leichte Unruhe und Nervosität herausstechen hören. Es war einfach nur süß, das ließ sie sich natürlich nicht anmerken. Sie wollte es bei ihm langsamer angehen lassen, ihn durch testen. Nachdem sie die Brocken Informationen über dem Fahrtwind ihm zurief, herrschte Stille zwischen ihnen.
"Cool", murmelte er leise in den Wind und sie spürte eine seiner weichen, blondbraunen Strähnen in ihrem Gesicht. Er wendete leicht den Kopf, warf die Haare mit einer ihr nun allzu bekannten Bewegung zurück und lächelte Hae halb über der Schulter zu: "Das geht doch, oder?"
Sie roch sein Shampoo und fast war sie sich sicher, dass es derselbe sein musste, den auch sie benutzte. Wasserminze mit diesem komischen Mineral...
"Jaja", antwortete sie rasch, "dreh dich lieber nach vorne. Ich will nicht vor die Hunde gehen"
Leonard grinste, aber drehte sich wieder nach vorne und sie spürte, wie der Wind auffrischte und er schneller in die Pedalen trat. Es war ein wundervolles Gefühl, dass in ihr aufstieg. Freiheit mit einer Brise von unglaublicher Unaufhaltbarkeit. Der Fahrtwind riss auch an ihren kurzen Haaren und sie strich sich mit einer Hand eine seiner langen Strähnen aus dem Gesicht: "Soll ich die mal zubinden?"
Mit dem Helm auf seinem Kopf stellte sich das tatsächlich als eine Art Wunder da, sie wollte einerseits nun in dem halsbrecherischen Tempo nicht ihre Hände von ihm lösen, einerseits war sein Haare so weich und wundervoll gewesen. Sie musste es weiter anfassen, seine wundervollen Haare berühren.
"Das ziept", beschwerte er sich und zuckte zusammen, als Hae das Haarband um die Strähnen des weichen, blonden Haares wickelte. Er fuhr einen gefährlichen Schlenker und Hae kiekste auf: "Kannst du nicht ordentlich fahren?"
"Nicht wenn jemand an meinen Haaren zieht-das tut weh!", jammerte er und Hae seufzte auf. Wenigstens waren sie gleich da. Dasselbe schien auch Leonard sich zu denken, als er vom Fahrrad stieg und ihr einen kurzen vernichtenden Blick zu warf: "Mach das nie wieder"
Allein wegen seines Blickes würde sie es so gerne wiederholen...
Sie schlossen sein Fahrrad ab und er klemmte sich seinen Helm unter seinen Arm, als sie in das Kino traten. In Redan gab es genau drei Kinos-das Große, wo man hin ging, wenn man die halbe Stadt treffen wollte, das kleine Kino, wo man hin ging, wenn man jemand datete und Haes Lieblingskino, wo sie jetzt mit Leonard in der Ticketschlange stand. Es war eher kleiner und hatte zwei Kinosäle, aber das beste an diesem Kino war-kaum jemand kam hier her. Sie zeigten nämlich die Filme um einen Monat später, als die anderen Kinos.
"Lost Souls. Zwei Tickets", sagte Hae rasch und Leonard warf ihr einen kurzen Blick zu, "wir teilen des Preis auf-willst du Popcorn?"
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Hae war einfach undurchschaubar. Egal wie lange Leonard sie auch unauffällig anstarrte, er konnte einfach nicht aus ihr schlau werden. Was sicher auch daran lag, dass er keine Gedanken lesen konnte. Sie runzelte manchmal im Film die Stirn, schürzte ihre Lippen und hob ihre Augenbrauen. Sonst gab sie keinerlei Regung von sich. Er konnte es sich einfach nicht verkneifen, sie anzusehen. Was wollte sie damit bezwecken mit ihm in einen Film zu gehen? Auch während des Abspann des Filmes kreiste die Frage unaufhörlich in seinem Kopf.
Wieso?
Wieso?
Wieso?
Erst gestern hatte er ihren Kuss abgelehnt und Hae lud ihn heute zu einem Film ein, als wäre nichts geschehen.
Sie teilten sich sogar das Popcorn. Ganz freundschaftlich, hatte sie seine Gedanken bestätigt und schief gegrinst. Ganz freundschaftlich.
"Gahh...ich muss sagen, der Film war nicht so krass, wie er in dem Trailer gewirkt hatte", seufzte sie ergeben auf und dehnte sich. Auch Leonard stand auf und schulterte sein Gepäck. Viel hatte er nicht von dem Film mitbekommen, was sicher daran lag, dass er eigentlich kein Fan von Horror-Fantasy-SciFi war. Oder was auch immer der Film gewesen war.
"Wie fandest du ihn?" Sie drehte sich vor dem Eingang des Kinos noch einmal zu ihm um, während sie ihre Jacke anzog.
"Nah-nicht schlecht"
Er musterte sie, als würde er damit ihren Gedanken auf den Grund kommen können. Ein feines Lächeln kräuselte ihre Mundwinkel und mit einer selbstbewussten Miene schüttelte sie mit einer ernergischen Bewegung eine ihrer dunklen Strähnen aus der Stirn.
Er wurde zwar nicht schlau aus ihr, aber er wusste, er kam bei der Wette wenigstens ein bisschen voran. Dann musste er an Shawn und Hae denken und zog die Augenbrauen ganz unbewusst ein wenig in die Höhe.
"Gut...", sagte sie und ihre Stimme blieb in der kalten Luft hängen. Auch er wusste nicht, was er sagen sollte. Sollten sie über Schule reden? Aber ehe er etwas sagen konnte, war das Gespräch gestorben. Ihm war die ständige Stille zwischen ihnen unangenehm. Es gab verschiedene Arten von Stille. Stille zwischen Menschen, die sich ohne Wort verstanden. Stille zwischen Menschen, die nicht wussten was sie sagen sollten. Stille.
Er zog seine Schultern ein wenig höher und sah auf Hae hinab, die nervös an ihrem Ärmel zupfte.
Er wollte sein Fahrrad losmachen, wortlos-was sollte man schon sagen, aber Hae drehte leicht ihren Kopf. Sie grinste ihn frech an und zog Leonard kurzerhand durch die Straßen der Kleinstadt. Und um jeden Schritt wurde die Musik immer lauter. Er glaubte, Gitarre, Geige und ein Schlagzeug ausmachen zu können. Zusätzlich ein rhytmisches Stampfen, das die Erde erbeben ließ.
Es war ein lokales Tanzevent, wie man es oft heutzutage an dem kleinen Redanfluss sah, der ihre Stadt durchfloss. Die Menschen wirbelten einander durch die Menge, klatschten und stampften und vollführten schnelle Tänze zu der schnellen Musik der Live Band, die heute ihre Bühne als die Ufer des Redanflusses auserkoren hatte.
Hae zog ihn in die Menge und wirbelte einmal um ihre Achse: "Komm schon!"
Leonard hatte immer vermutet, dass diese Tanzevents stattfanden, weil sich alle hier wünschten in Paris zu sein, wo die Tänze an der Seine sogar in den Reiseführer standen. Sie alle wünschten sich hier ein aufregendere Leben voller Energie und ein Leben, wo man etwas auf das Spiel setzte.
Romantischer.
Lebendiger.
Leidenschaftlicher.
Und darum tanzten die Menschen-alt und jung. Vielleicht bildetete er sich das auch nur ein, aber in dem Moment reichte es, um es in seinem Körper kribbelm zu lassen. Auch Leon wollte ein Teil dieser Energie werden.
Und in diesem Moment wurde ihm klar, dass er sein Leben nicht mehr als langweilig und standard empfand. Sein Leben war aufregend. Haarsträubend und chaotisch geworden, als sie wie ein Wirbelwind sein geschmackvolles Patchworkmuster aus Hobbys und Interessen zerfallen lassen hat.
Mit Hae Warley abzuhängen bedeutete, das Verrückteste aus ihm heraus zu kitzeln und ihr jetziges Leben in vollen Zügen zu erleben. Ohne Hae war sein Leben wie das der anderen Schüler gewesen-trist. Farblos.
Als aber Hae seine Hand nahm und unter seinem Arm wirbelte, mit geübten Schritten der Musik folgte und sich einfach an dem Abend treiben ließ, war es um sein Verstand geschehen.
Sie tanzten als gäbe es keinen morgen. Keine Wetten, keine Schule und kein Abschluss um den sie sich zu kümmern hatten. Er zog sie näher zu sich, Hae lächelte und legte eine Hand auf seine Schulter. Leonard hatte von solchen Momenten gehört - Momente in denen zwei Menschen eigentlich nichts zu sagen brauchten und dennoch sie kommunizierten. Sei es über den Blick und das verschmitzte Lächeln, das sie austauschten oder ihre Hände, die zueinander fanden und sich fest umklammert hielten, um sich nicht in der Menge zu verlieren.
Er ließ sich einfach von dem Mädchen führen und tanzte.
Sie tanzten in den dunklen Herbstabend rein, es war viel zu kalt geworden, aber sie tanzten, bis das helle, sterile Licht der Straßenlaternen sie aufweckte.
Die Band packte längst zusammen, als Hae mit wackeligen Beinen sich auf seinen Unterarm stützte: "Scheiße war das gut"
Sie sah zu ihm auf mit dem forschen Blick und strich sich eine Strähne ihres dunklen Haares aus der Stirn. Sie war verschwitzt, aber das breite Lächeln ließ sie in diesem Moment erstrahlen. Und er merkte, dass er beinahe automatisch zurücklächelte. Es war zu ihrer Eigenheit geworden, das Lächeln.
Hae hakte sich locker bei ihm ein und in einer merkwürdigen, diesmal angenehmen Stille machten sie sich auf dem Weg zum Fahrradständer vor dem Kino.
Ihre Schritte passten einander an und Leon fragte sich, was Percy heute dazu sagen würde. Er selbst wusste ja nicht einmal, was er davon halten sollte. Waren sie nun Freunde?
Unschlüssig blieben sie vor dem Fahrraständer stehen. Wenn er an die hinfahrt zurück dachte, war er eigentlich nicht sonderlich erpicht darauf sie wieder mitzunehmen. Natürlich war es auch ein wenig peinlich, dass er sich so bei dem Zopf angestellt hatte, aber er trug seine Haare nur in Sport im Zopf. Und diesen band er sich normalerweise selbst. Er streckte eine Hand nach seinen zusammengebundenen Haaren aus, aber Hae war zusammengzuckt, hatte sich umgesehen und sah ihn entschuldigend an: "Ich muss diesen Bus noch kriegen! Wir sehen uns!"
Und weg war sie. Einfach fassungslos. Leonard löste also mit steifen Fingern das Gummi aus seinen Haaren und betrachtete das schwarze Haarband. Dann legte er es an sein Handgelenk an und begann leise pfeifend sein Fahrrad loszumachen.
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