4.

"Hallo", rief sie Leon quer über den Gang zu. Ihr Klassenkamerad sah sich kurz nach anderen Schülern um, wie als wären sie nicht die letzten in der Schule. Hae wusste selbst nicht so genau, was sie in diesem bescheuerten Augenblick geritten hatte. Aber ihr Verstand war es ganz sicher nicht gewesen.

Ihm Nachhinein betrachtet, war es bescheuert gewesen. Sie hätte auch so, ihre Zielscheibe erwischt. Ihre neue Zielscheibe. Sie bezeichnete den auserwählten Jungen nicht gerne als Opfer. Sie war kein Geier oder Adler oder sonst ein Raubtier, dass ein unschuldiges grasfressendes Wesen jagen und erlegen wollte. Mit Jagd konnte man es im entferntesten Sinne vergleichen, aber es war wesentlich komplizierter. Kein Junge ließ sich im ersten Augenblick küssen, sie beobachtete ihr Ziel sorgfältig und genau. Sie merkte sich wie er aussah, wenn er glücklich war, wann man ihn nicht ansprechen sollte. Solch eine Jagd war sorgfältig zu planen und die erste Möglichkeit war das Beobachten.

Aber Leon hätte sie sicher auch so einfach küssen können. Er war ein wenig groß, dass musste man ihm lassen. Sie würde den passenden Moment finden müssen, um das ganze nicht in ein Desaster ausarten zu lassen. Große Jungen würden es schnell merken, wenn man versuchen würde sie zu küssen. Und bei ihnen konnte man auch schnell scheitern.

Leon warf einen letzten Blick über seine Schulter, bis er seinen Körper straffte und sie fragend ansah. Es lag nicht nur eine Frage, sondern gleich mehrere in dem forschenden Blick.

Hae tat so, als hätte sie ihn nur begrüßt und nicht getestet. Und sie sah interessiert zu, wie er seine Arme vor seiner Brust verschränkte. Sie kam gerade noch mit ihrem Kopf in seine Schulternähe, so ein großer Junge. Sie sollte ihren Augenblick gut wählen. Bei solchen Jungen konnte er ihre Absichten, ihn zu küssen, schnell bemerkt werden. Vermutlich würde er sie dann schneller wegstoßen, als sie alles aus ihm rauslocken konnte.
Sie war sich sicher - er hatte noch nie ein Mädchen geküsst. Oder gar nackt gesehen. Aber das, das ließ ihr Grinsen nur noch breiter werden. Solch ein schüchterner, intelligenter Junge, würde ihr Geschenk nicht ablehnen können. Oder?

Eine Pause legte sich über sie und Hae sah, wie er sichtlich nervöser von einem Fuß auf den anderen trat. Vermutlich war er nie besonders lange mit einem Mädchen alleine gewesen.

Und dann sagte er etwas.

"Hallo"

"Hallo", antwortete Hae und konnte nur mühsam ihren neutralen Gesichtsausdruck beherrschen. Er versuchte einen auf selbstbewusst, richtete sich ein wenig auf, streckte die Brust raus, blieb aber noch immer in der leicht abwehrenden Haltung.

"Ich beiß dich schon nicht.", lächelte sie halbherzig. Sie wusste, sie musste Vertrauen bei dieser Beute gewinnen. Leon war ein Impala, zu schnell, wenn er auf Abwehrhaltung war. Zu skeptisch.

"Wenn schon küss ich dich.", scherzte sie nun,um die Grenzen auszutesten. Leon wich weder zurück, oder lächelte anzüglich. Er sah sie mit einer neutralen Miene an, nur sein Mundwinkel zuckte gefährlich.

Leon war wie gesagt groß, schlank. Sportlich. Wenn sie sich nicht irrte, spielte er Basketball. Oder so etwas in die Richtung. Er war gut genug um in das Schulteam zu kommen. Oder die anderen waren einfach zu schlecht, beurteilen konnte sie es noch nicht ganz.

Sie hatte nie sich die Mühe gemacht ein Basketballspiel wirklich zu sehen. Natürlich hatte Bella sie mit zu einigen Spielen von Rob mitgenommen. Nicht dass das Spiel sie wirklich interessiert hätte. Die ganzen Jungen in den schweißgetränkten T-Shirts, verschwitzt und sie stanken, wie Schweine selbst die Tribünen empor.
Leonard war der Typ mit den langen Haaren gewesen, er war der einzige in ihrem Jahrgang mit einer Frisur, dir länger war, als ein flotter Schnitt, natürlich durften die Haare bei "normalen" Jungen nicht länger als bis zu den Ohren gehen. Dagegen sprach die Männlichkeit der Idioten.

Hae war sich sicher, dass sie einmal ein abfälliges Kommentar über seine Haare gemacht hatte. Wie hätte sie das nicht tun können?

Aber ihm stand es. Und er blieb wie ein hartnäckiger Splitter in ihren Erinnerungen und sie hatte ein vages Bild von ihm, wie er Basketball spielte. Sie konnte das ganze Bild aufleben lassen, den Lärm um sie herum und dann Leonard, der den Ball packte und eilig sich um sich selbst drehte, um dann los zu rennen.

"Und? Hast du Lust auf...?" Leon kratzte sich nervös am Hinterkopf und bedachte sie mit einem schüchternen Lächeln. Es brachte sie zum Grinsen. Ein warmes Kribbeln machte sich in ihr breit.

"Lust auf was? Sex?", fragte sie unbeflissen und studierte den Boden zu ihren Füßen.

"Was?", kiekste er mit schiefer Stimme. Es klang, wie als hätte man die Violine ein wenig ungenau gestimmt, die Töne wehrten sich vehement davor und Hae sah zu ihm auf, um geduldig zu wiederholen: "Sex."

Er schloss den Mund und ein hilfloser Ausdruck trat in sein Gesicht, dann straffte sich sein Körper und er hob kurz die Mundwinkel: "Ähm..."

"Scherz. Hast du eine Freundin oder warum ist dir das so unangenehm?", neckte sie ihn, Leon sah sie nun aus seinen grünblauen Augen aufmerksam an. Seine Augenbrauen zuckten wie die Schnurrhaare eines Hasen, der den Hauch des Jägers gespürt hatte. Sie wusste nun, jetzt betrat sie dünnes Eis. Sollte sie zu schnell vorstürmen, dann hätte sie vermutlich ihre Chancen bei Leon für immer über Bord geworfen. Denn der Junge war äußerst argewöhnisch und versuchte sie möglichst auf Abstand zuhalten.

"Nein", brachte Leon schließlich nach einem Moment hervor, "mir ist das eigentlich nicht unangenehm."

Jetzt warf er sich in seine Cool-Maske. Sie kannte viele Jungen und Jungen, wie Leon hatten natürlich schon einmal über die furchtbar schmutzigen Dinge gesprochen. Das tat doch ohnehin jeder früher oder später...nicht wahr?
Abet jetzt stand er vor einem Mädchen. Wie ungeheuerlich. Sie wusste, vor anderen Jungen würde er in solch einem Augenblick irgendetwas mutiges sagen und kontern, jedenfalls glaubte sie das von ihm. Aber nur unter sich, in einer sicher fast leeren Schule, auf einem leeren Gang mit der berühmten Kissproof-Hae...was sollte man schon machen? Er war ihr ohnehin hilflos auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Hae leckte sich die Lippen und fixierte sein Gesicht mit ihren Augen, sie wusste, man musste zuerst das Gehirn dieser Art von Jungen lahm legen. Der beste Weg war einfach nur Konzentration. Erst war es fast so, als würde Leon wirklich ihrem Bann erliegen. Seine Pupillen glitten über ihr Gesicht, hoch runter. Immer schneller, auch das Cresecendo seines Atems entging ihr nicht. Aber Leon rührte sich nicht. Noch immer mit den verschränkten Armen und den aufeinandergepressten Lippen, sah er sie an.

Und dann ging die Tür neben ihnen auf und ein Mädchen steckte ihren Kopf aus dem Spalt: "Wann kommt ihr denn?"

"Ich dachte, es war abgeschlossen", entschuldigte Hae sie rasch und lächelte Leon zu. Für einen ganz kurzen Moment sah sie, wie er seine Augenbrauen hob und dann unwiderstehlich lächelte. Wollte der Junge ein Spiel spielen? So sollte er auch eins kriegen-nicht wahr?

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