35.
Leon fand sich irgendwann damit ab, dass Hae ihn gezielt aus dem Weg ging, seine Fragen und Antworten mit einer höflichen Reserviertheit parierte und sich versuchte immer möglichst schnell aus der Affäre zu ziehen.
Er hatte sich auch mit Shawns höhnischem Grinsen abgefunden. Inderweile sah er das frettchenhafte boshafte Lächeln nicht einmal mehr, er genoss die verbliebene Zeit an der High School in vollen Zügen.
Das Redanbasketballteam hatte nicht den Durchbruch in das Halbfinale geschafft.
Dennoch war Leon irgendwie ziemlich glücklich, über den halbwegs runden Abschluss des vermutlich aufregendsten Schuljahres seines Lebens.
Jedenfalls versuchte er es zu sein, ihm war klar, dass er Hae ziemlich gern hatte, noch immer, trotz seines grauenhaften Geburtstages, aber es hatte sich einfach keine Gelegenheit ergeben über das alles zu sprechen, was vorgefallen war. Er war wütend. Nicht mehr auf Shawn oder Hae, mehr auf sich selbst, weil er sich nie getraut hatte Hae in gewissen Themen die Wahrheit zu sagen und er noch immer nicht den Mut gefunden hatte, es zu tun.
"Kommst du zu der Party von Hae Warley?", wollte Dan wissen, als sie sich auf den Weg zur Kantine machten.
Es war die letzte Woche vor den Sommerferien, denen Leon hin fieberte. Er hatte seinen Abschluss in der Tasche und wollte sich als erst einmal Ferien gönnen, bevor es auf die Universität ging, die auch sein großer Bruder besuchte.
"Hae schmeißt Partys?", fragte Leon mit ruhiger Stimme, obwohl sein Herz anfing zu rasen. Er bemerkte, wie sein Tablett gefährlich in Schräglage geriet und sein Essen sich zum Abflug bereit machen wollte, rasch richtete er sich gerade auf und ließ den Blick durch die Menschenmengen wandern.
"Rob hat mir prophezeit, dass sie dir nichts gesagt haben wird. Du hast vermutlich nicht einmal eine Einladung..." Daniel schnappte sich Leons Joghurt vom Tablett und hielt ihn Leon hin: "Das wär dir fast runter gefallen, es ist ihre Abschiedsparty. Sie schmeißt sie bei Bella..."
Der Rest der Erklärung ging in einem Rauschen unter, denn Leon hatte Hae entdeckt.
Sie saß bei Bella und Rob, auf seinem Stammplatz, als wäre nie etwas vorgefallen. Allison hockte an ihrem Smartphone und Hae lachte über irgendeinen Witz von Bella. Beide Mädchen sahen sich an, bis Haes gelöster Gesichtsausdruck wich und einem neutralen Lächeln breit machte.
Es war nicht das Lächeln, das er früher sein eigen genannt hatte, sie sah ihn an, wie man einen gaffenden Fremden ansah.
"Komm, das ist deine Chance", zischte Daniel in sein Ohr und bahnte sich eilig einen Weg zu dem Tisch. Leon hatte seinen Blick auf Hae geheftet, die wachsam die Näherkommenden beobachtete, bis sie sich auf etwa einen Meter genähert hatten und Leons Hals ihm inderweile so schnell in der Brust klopfte, dass ihm die Luft wegblieb.
"Du sitzt auf meinem Platz", brachte Leon hervor. Hae sprang rasch auf: "Sorry!"
Daniel schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und auch Leon hätte es ihm am liebsten nach getan, aber er stellte rasch sein Essen auf dem Tisch ab und zog einen Stuhl an den Tisch ran: "Du kannst dich..."
"Ich muss noch mein Kunstzeug abholen...das hat sich dort Jahre angesammelt, das meiste geht zwar ohnehin in den Müll aber um die schönen Erinnerungen willen..." Hae verabschiedete sich bei Allison und Bella, sogar für Rob und Daniel hatte sie ein Wort übrig, allein Leon wurde mit einem knappen "Tschüss" abgefertigt.
Als Hae aus dem Blickfeld verschwand, stöhnte Rob entnervt auf und Bella tätschelte ihrem Verlobten den Unterarm: "Du warst genauso blind"
"Und wen genau bezeichnest du als blind?", wollte Leonard scharf wissen. Schärfer als beabsichtigt.
Bella strafte ihn mit einem strengen Blick und Leonard verkniff sich ein Kommentar. Er wollte sich nicht mit seinen Freunden streiten.
"Lauf ihr nach, Mann!", forderte Rob ihn auf.
"Sogar als Homosexueller kann ich beurteilen, was Hae dir durch den Subtext mitteilen wollte", fügte Danny hinzu.
"Gar nichts, wollte sie.", murmelte Leon in sich, aber Allison hob ihren Blick von ihrem Smartphone und legte es mal ausnahmsweise aus der Hand.
"Du willst sicher eine Einladung zu der Party heute. Hae hat dich zuvor nicht eingeladen, in einem letzten Gespräch könntet ihr gut auseinander gehen.", erklärte Allison äußerst reif und weise.
"Dann geh ich, wenn es euch alle glücklich macht", sagte Leon ergeben und eilte er Hae nach. Mit jedem Schritt wurden seine Füße leichter, sein Gang unbeschwerter.
Er sog die Luft in seine Lungen und versuchte sich die Schule fest in seine Gedanken zu brennen, die schmierigen Fensterscheiben, die geschlossenen Türen und dann der leicht düstere Kunsttrakt mit dem Geruch der Lackfarben in der Luft.
"Hae!", rief er in den leeren Gang und trat in das Kunstvorbereitungszimmer. Sie stand mit dem Rücken zur Tür und als sie hörte, dass Leon das Zinmer betrat, hielt sie in ihrer Bewegung inne.
"Verlässt du Redan?"
"Ja" Hae legte ihre Hände auf dem Regalbrett ab und atmete tief ein.
Leonard blieb die Stimme weg, obwohl er sie fragen wollte, warum sie sich das antat. Warum sie ihm das antat.
"Mir war klar, dass du fragen würdest", sagte sie schließlich.
"Ich habe wohl das Recht dazu, wo wir dieses Jahr befreundet...oder so etwas in die Richtung waren", murmelte Leon als er die Stimme wieder gefunden hatte. Warum, kreiste es in seinen Gedanken, warum ging sie?
"Ach, meinst du?" Hae drehte sich so schnell zu ihm um, sodass er ihr im nächsten Moment in ihre braunen Augen sehen konnte.
"Und wann?"
"In einer Woche bin ich raus hier" Hae versetzte dem Karton zu ihren Füßen, der voller Farbflaschen war, einen kräftigen Tritt.
"Und wohin gehst du?"
"Ich zieh' auf den Campus meiner Uni. Carolina. Du bleibst doch oder?" Sie inspizierte ihre Schuspitzen und schob einen Wasserbecher hin und her, der unter dem Regal hervorgerollt war.
"Mh-mmm"
"Willst du zu der Abschlussparty?", fragte sie verunsichert. Leonard wusste es selbst nicht, es könnte eine Möglichkeit sein, Hae das letzte mal zu sehen und ihr seine verdammten Gefühle und Gedanken zu gestehen.
"Wenn du mich dabei gehabt haben wölltest, hättest du mich eingeladen", entgegnete er, um ihre Reaktion auszutesten.
Hae seufzte nun: "Ich habe dir doch gesagt, ich wusste, dass du kommen würdest"
"Dann-nein"
"Gut"
Bleierne Stille machte sich zwischen ihnen breit und Hae fuhr sich fahrig durch die kurzen braunen Haare: "Ich-ich bereue den Kuss nicht, weißt du?"
"Aha"
"Sag doch etwas ordentliches! Warum bist du erst hergekommen, wenn du nichts heraus kriegst?"
"Ich habe den Kuss auch nicht bereut"
"Später werden wir uns sagen können, dass wir eine tolle Highschoolzeit hatten.", fügte Hae leiser hinzu. Ja, das würde er tun. Vor seinem inneren Auge stieg ein Bild von ihm und Hae auf, wie sie in altmodischen Weidekorbstühlen saßen, alt und grau, vom Alter zermürbt und doch irgendwie zusammen. Rasch wischte er das Bild beiseite, ein Bild war ein Bild.
Sie drehte ihre Handflächen nervös und biss sich auf die Unterlippe, als würde ihr noch etwas auf der Zunge liegen. "Wir sind nicht kompatibel."
Jetzt breitete sich ein kleines, trauriges Lächeln auf Leons Gesicht aus, nicht kompatibel.
Wie lange hatte Hae wohl über sie nachgedacht, sodass sie auf die Beschreibung gestoßen war?
"Jetzt mal im Ernst! Wir haben einfach nicht zueinander gepasst", bekräftigte sie ihren letzten Satz und stemmte ihre Hände in die Seiten.
"Hätte mal etwas daraus werden können?", fragte er sie leise.
Hae dachte keinen Augenblick nach. "Vielleicht"
"Warum ziehst du dann weg?"
Hae wandte ihren Blick wieder dem Boden zu und das Rollen des Bechers ertönte erneut. "Weißt du...Leon, ich-ich ziehe nicht wegen dir oder uns weg. Oder Shawn oder so...das Leben hier, fühlte sich so unbedeutend klein an-ich fühle mich unbedeutend klein und eingeengt in Redan. Ich will mal etwas anderes sehen-mehr sehen..."
Sie brach ab und das Rollen wurde lauter. Dann brach es ab und Hae sah ihm ins Gesicht, sie war leuchtend rot, wie der Sonnenuntergang und Leon trat einen Schritt auf sie zu. Und noch ein Schritt. Noch einer...bis sie voreinander standen und Hae ihren Kopf in ihren Nacken legte, um den Blickkontakt zu halten.
Dann beugte sich Leon zu ihr vor, so weit, sodass ihre Nasen aneinander stießen und Haes Lippen sich amüsiert kräuselten. Er wollte diesen Moment in seinen Erinnerungen ablegen und etikettieren, als die letzte aus seinem verrückten, ein wenig durchgeknallten, aber alles in einem unvergesslichen Abgangsjahr.
Eine letzte Erinnerung, die er immer wieder herauskramen würde, bis auch sie dem Strom des Vergessens zum Opfer gefallen war oder so ausgebleicht, sodass er Hae nach und nach vergessen würde.
Und diesmal war es ein Abschiedskuss, Leon schmeckte es mit jeder Geschmacksknospe auf seiner Zunge. Ihre Hände lagen sanft auf seinen Wangen, Hae wollte den Kuss nicht lenken mit dieser federleichten Berührung. Sie wollte den Kuss nur genießen, dass fühlte Leon und da es nur wenige Dinge gegeben hatte, bei denen sie derselben Meinung waren, wenn es sie betraf, genoss er es.
Er legte eine Hand auf ihre dunklen Haare, die sich wie dunkle Schokolade um ihr Gesicht legten und ihre bitterschokoladenbraunen Augen waren geschlossen, dafür sah er ihre Wimpern, die fedrige Schatten auf ihre sommersprossigen Wangen warf und er roch den sanften Duft ihres Parfüms, der den Moment tröstlich umhüllte und verpackte.
Es war ein Moment aus Glas.
Ein ruhiger Kuss, mit dem Leon glaubte, sich von Hae Warley verabschieden zu können. Aber er hatte stets gehofft, dass es ein Auf-Wiedersehen-Kuss werden würde.
Als Hae sich von ihm löste und ihre Augen wieder aufschlug, schmeckte er eine bittersüße Zwiespalt auf der Zunge. Einerseits, war es ein perfekter Augenblick gewesen.
Die perfekte letzte Erinnerung mit der Leon die perfekte bittersüße Geschichte um ihn und Hae Warley hatte abrunden können.
Andererseits war er enttäuscht, dass es schon vorbei war, dass Hae sich wieder verschloss. Das freudige Funkeln in ihren Augen blieb.
"Dann...auf Wiedersehen", flüsterte er und Hae ließ ihre Hände sinken. Zögerlich drehte sie sich um und widmete sich dem Papierkram.
Als er aus der Tür trat, hörte er ein leises "Auf Wiedersehen.", wie ein Echo.
Sachte schloss Leonard Cox-Reid die Tür hinter sich und machte sich auf den Weg wieder zur Mensa.
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