23.

"Hae Warley!" Wenn ihre Mutter sie bei Vor-und-Nachnamen rief, konnte es nichts gutes verheißen.
Und auch diesmal verhieß es nichts gutes.

Ihre Mum und ihr neuer Freund hatten dem ganzen Abend zusammen im Wohnzimmer rumgemacht und keine Rücksicht darauf genommen, dass sie morgen eine Klausur anstehen hatte. Noch mehr nervte es sie, dass sie ausgerechnet jetzt noch rausgerufen wurde aus ihrem Zimmer, wo sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben versuchte diese blöde Fotosynthese zu verstehen.

"Mum?"

"Ich habe auf ihre Winstagram ganz interessante Bilder gefunden von vorletzter Woche"
Der Blick ihrer Mutter sagte leider alles und sie schluckte die Worte, die auf ihrer Zunge lagen schnell herunter. Sie wollte die Zeit, die ihr blieb, nicht mit dem Gestreite vergeuden.

"Ja?", sagte sie also und stellte sich unschuldig. Ihre Mutter war eigentlich ja eine wunderschöne Frau, aber die Wut verzerrte ihr Gesicht zu einer Fratze: "Ich dachte, du bist bei Bella! Das gibt eine Woche Hausarrest! Wie kannst du mich so, um das Vertrauen..."

"Ach, du hast mal zugehört?", zischte Hae schließlich. Eine Überraschung, es kümmerte sie doch ohnehin nicht, warum jetzt? Warum ausgerechnet jetzt?

"Drei Wochen, Hae Warley!"

"Du hörst nie zu, wenn ich dir etwas sage, nur weil ich mal einmal mich nicht an unsere Abmachungen halte, kriege ich drei Wochen Arrest? Was ist mit dir, Mum? Du verschwindest manchmal für ein Wochenende, ich weiß nicht in welchem Bett du geschlafen hast-wobei ich auch froh bin, dass ich es nicht weiß! Ich bin 18, nächstes Jahr bin ich ohnehin raus und..."

"Und gehst wohin?", fragte ihre Mutter gehässig, "mit deinen Noten..."

"Ja wenigstens werde ich meinen Abschluss machen und auf den Ball ohne Babybauch gehen", antwortete Hae nur mit schneidender Stimme. Das war ein Schlag unter die Gürtellinie und sie sah mich sichtlicher Zufriedenheit zu, wie sich das Gesicht ihrer Mutter verzog. Es war ein wunder Punkt für ihre Mum. Sie hatte sich damals viel von allen möglichen Leuten anhören müssen. Dann als ihr Vater weggegangen war, hatte sie sich um alles selbst kümmern müssen. Sicher wäre sie gerne auf die Uni gegangen, hätte ein Studentenleben gelebt, wie die anderen. Mit einem Kind am Bein...ein Wunschtraum.

"Hae, wenn du nicht vier Wochen..."

"Ich gehe wohin ich will und wann ich will"

"Hae..."

"Hae...", äffte sie ihre Mutter nach, "ich muss lernen, verdammt noch einmal, damit ich nächstes Jahr endlich weg kann!"

Ihre Mum hatte es vermutlich nie so gemeint, wenn sie von ihrer High School Zeit und dem Studium geschwärmt hatte. Hae gönnte es auch, dass es in ihren Beziehungen gut lief oder dass sie sich durch die halbe Stadt schlief. Es war ihre Mum, soll sie doch machen, was ihr gefällt, aber ihr war nie aufgefallen, dass sie ein normales Leben, wie die anderen Schüler vermisste. Sie vermisste Zuneigung und Trost von ihren Eltern, Aufmerksamkeit und einfach das Gefühl von Familie. Genauso, wie es bei den Cox-Reids war. Und in diesem Augenblick wurde ihr auch bewusst, dass sie immer eigentlich versucht hatte, genau das Gegenteil von dem sozialbenachteiligten Kind zu werden.
Sie hatte nie das Mädchen mit der Mutter sein wollen, die mit allen möglichen Männern anbandelte. Aber die kissproof-Hae hatte auf genau dieselbe Zukunft, wie Rebecca Warley zugesteuert, die eigentlich nur versucht hatte aus ihrem Leben als überforderte Alleinerziehende auszubrechen.

Rebecca Warley. Allein, frustiert und überfordert vom Leben und Beziehungen. Ängstlich vor Verantwortung und ein Mensch, der nicht an morgen dachte.

Hae drehte sich von ihrer Mutter weg, die ihr plötzlich so ängstlich und gescheitert vorkam, sodass sie sie einfach nicht mehr ansehen konnte. Ohne es zu wollen, war sie das Abbild ihrer Mutter geworden.

Sie schmiss die Tür hinter sich zu, schloss ihr Zimmer rasch ab und ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken. Sie war wütend, ein wenig müde und ziemlich traurig. Letztenendes überwog das Traurige ihre Gefühlswelt und zog sie immer tiefer in das kalte Wasser des Selbstmitleids.

Bis sie ein Bellen draußen hörte und an Chica und Leon denken musste.
Dann drehte sie sich einmal um sich selbst, sah sich in ihrem kleinen Zimmer um und fragte sich, woran Leonard Cox-Reid in diesem Augenblick denken mochte. Er hatte sie schließlich aus ihrem eigenen Käfig befreit, den sie sich selbst gebaut hatte. Und das war ein Gedanke doch wert.

---

"Hallo"

Er sagte immer "Hallo". Hae drehte ihren Kopf leicht in Leons Richtung und ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen.
"Bist du noch zu hause angekommen?"

"Der Bus ist ausgefallen. Ich musste den ganzen Weg durch den Regen laufen und hatte am Abend kaum Zeit zu lernen...Die Klausur habe ich hoffentlich nicht verhauen", bemerkte Leonard locker. Seine Augen blitzten und Hae legte vorsichtig eine Hand auf seine Schulter: "Ist ja toll!"

Er entzog sich nicht ihrer Berührung, was sie als ziemlich gut aufwertete, da sicher die blauen Flecken noch ziemlich weh tun müssten. Aber er zuckte mit keiner Wimper und Hae öffnete leicht den Mund, um ihn wieder wortlos zu schließen.

"Hast du die Plakate gesehen?", fragte er sie und schulterte seinen Rucksack mit einem leisen Stöhnen. Hae nahm ihre Hand von seiner Schulter und wieder zupfte ein kleines Grinsen an ihren Lippen, aber sie ermahnte sich nicht zu übertstürzen.

"Meinst du die Weihnachtsballplakate?"

Leonard nickte leicht und beobachtete ihre Mimik aus dem Augenwinkel.
Hae nahm eine ihrer Haarsträhnen auf und zwirbelte sie zwischen ihren Fingern: "Das Paar erinnert mich immer an Bella und Rob..."

"Ach ja? Die auf dem Foto haben weder rote noch braune Haare"

Auf dem Foto war ein schnulziges Pärchen abgebildet, dass sich tief in die Augen sah und ihre Zweisamkeit auslebte. Und sie hatten exakt denselben Blick, wie den auch Rob und Bella zu haben pflegten, wenn sie sich ansahen.

Außerdem hatte der Junge blondbraune Haare, wie Leon und das Mädchen glänzende schwarze Locken, wie Maisie Tollins aus dem Jahr unter ihnen. Und wenn Hae etwas brauchte, was ihr den letzten Rest gab, damit sie an dem Ende ihrer Gute-Laune-Skala ankam, war der Gedanke, dass Maisie und Leon zusammen zum Ball gehen könnten. Oder Leon und sonst irgend ein Mädchen.
"Optisch gesehen erinnert das Mädchen vielleicht an Maisie. Du weißt schon, Maisie Tollins", ergänzte Hae ohne den anderen Gedanken auszusprechen. 

"Findest du?", fragte er sie und sah an ihr vorbei an eines der unzähligen Plakate. Hae folgte seinem Blick und seufzte. "Ja"

Zum netten Vergleich kam die echte Maisie Tollins ihnen leibhaftig entgegen und sie bewunderte mit gemischten Gefühlen das hübsche Mädchen mit den glänzenden, rabenschwarzen Locken und der schlanken Figur. Ihr Gesicht war fein geschnitten und Hae wäre nicht verwundert, wenn sie eine Krone auf ihrem Haupt tragen würde. Maisie war schon zweimal Prom-königen geworden, was bei ihrem Aussehen sicher kein Wunder war.
Sie kam mit geschmeidigen Schrittes ihnen entgegen und ihr Blick war ungeniert auf Leonard gerichtet.

"Kennt ihr euch?", wollte Hae von ihm wissen und wollte den Abflug machen, aber Leon hielt sie rasch auf.
So blieben sie direkt vor Maisie zum Stehen, die Hae keines Blickes würdigte, dafür Leon mehr als deutlich abcheckte. Und das ärgerte Hae zutiefst. Niemand, niemand ignorierte Hae Warley...

"Du hast dich mit Shawn geprügelt?"

"Er hat mich verprügelt", korrigierte Leon das Mädchen, aber sie sah über diese Tatsache hinweg.

"Gehst du zum Ball?" Hae hätte sich sicher verschluckt, hätte sie etwas in ihrem plötzlich staubtrockenen Mund gehabt. Ging Leonard zu diesem beschissenen Ball? Vermutlich, wenn man bedachte, dass Rob und Bella gingen...

"Ähm...ja. Also ich wollte jemanden fragen..." Leonard sah zerknirscht und rot, wie eine Tomate drein. Er lächelte Maisie entschuldigend an, aber diese riss ihre Augen auf, als hätte Leon ihr gerade bewiesen, dass die Erde eine Scheibe ist.

"Oh", antwortete Maisie pikiert, während Hae beinahe auch ein überraschter Laut rausgerutscht wäre. Er wollte jemanden fragen?

"Wir sehen uns", sagte Maisie schließlich mit zusammengekniffenen Mund, der plötzlich nicht mehr ganz so süß und verfürerisch aussah, wie vor wenigen Augenblicken.

Hae war überrascht, wie wenig sie sich früher mit den Mädchen ihrer Schule auseinandergesetzt hatte. Den Namen von Maisie wusste sie, weil man ihn ständig im Zusammenhang mit den unzähligen Bällen der High School hörte. Als sie sich in dem Gang umsah und darüber grübelte, wer Leons Auserwählte sein würde, fiel ihr nicht einmal die Hälfte der Namen ein. Verdammter Mist!

"Anscheinend hat die Prügelei deinen sozialen Status ganz schön in die Höhe getragen", merkte Hae nach einem Schlucken an, "darf ich vielleicht erfahren, wer die Ehre hat mit dem verprügelten Leonard Cox-Reid auf den Ball zu gehen?"

Leon errötete noch eine Spur tiefer und verschränkte die Arme vor seiner Brust: "Gehst du hin?"

"Weiß nicht...wegen Bella muss ich wohl. Ich habe vermutlich keine Wahl, wenn Bella und Allison mich dafür belagern..." Sie sah ihn kurz an, aber er wich ihrem Blick aus und sie hätte ihn am liebsten die Hände an seine Wangen gelegt, um seine Aufmerkamkeit wieder auf sich zu ziehen.

"Aha" Hae könnte schreien, erstens weil er ihrer Frage ausgewichen war und zweitens, was war das für eine Antwort? Aha?

"Aha", echote Hae leise.

Plötzlich drehte er sich zu ihr um und blieb stehen, um ihr ins Gesicht sehen zu können. "Was für eine Farbe hat dein Kleid?"

"Kleid?", wiederholte Hae überrascht.

"Ich meine...du...beim Ball?" Er warf ihr einen schiefen Blick zu und erwartete anscheinend, dass sie aus seinen Wortfetzen die Frage zusammen setzte.

"Blau", sagte sie schließlich nach einer Weile. Das einzige Kleid in ihrem Kleiderschrank, dass sich für solche Ereignisse eignete, war das von der Heirat ihrer Tante. Und da sie wusste, dass sie knapp bei der Kasse waren, dachte sie auch nicht daran sich ein neues zu kaufen. Außerdem würde ihre Mum es ohnehin nicht tun, wo sie doch Hausarrest für drei Wochen hatte, an den sie sich nicht halten würde...

Er hatte sie gefragt. Haes Gehirn setzte für einen Moment aus. Er hatte sie gefragt. Er hatte sie gefragt.
Dann stürmten so viele Gedanken auf sie ein, sodass der Strom aus Bildern und Gefühlen den letzten Damm nieder riss, der sie schützte. Der sie davor bewahrt hatte, je wie ihre Mutter verletzt zu werden. Und sie konnte nichts unternehmen. Nein, sie wollte nichts unternehmen. Hae wollte sich einfach in diesen Strom werfen und sich davon tragen lassen, immer weiter und weiter.

Hae taumelte, wie getroffen, aber Leonard griff rasch nach ihrem Unterarm und so konnte sie nur zu Leon aufstarren. Seine blassblauen Augen lagen auf ihr und sie konnte die Freude, die Erleichterung und die Nervosität, wie in einem Spiegel erkennen.
Nie hatte ein Junge sie gefragt, ob sie mit ihm zu einem Ball wollte. Nie.

"Aha"

Stille bahnte sich an und Hae musterte Leonard still und heimlich. Ihm lag noch etwas auf der Zunge, dass sah sie ihm an, aber der Moment dehnte sich um Sekunde um Sekunde und eine verräterische Röte stieg in seine Wangen.

"Das war eine ziemlich klischeehafte Frage, um mich zu bitten, dich zu begleiten. Nein, warte...du hast mir nicht einmal eine Wahl gelassen, also war das eher ein Befehl, Cox-Reid", stellte sie fest nach einem Räuspern und diese Worte zauberten ihm ein schiefes Grinsen in sein Gesicht. Er strich sich mit der freien Hand die Haare hinter das Ohr, während die andere Hand noch wie vergessen ihren Unterarm umklammerten.

"Ich wollte dir vielleicht keine Wahl lassen", antwortete er verschmitzt grinsend. Der Schalk in seinen Augen erwärmte sie bis in ihre Zehenspitzen und das Funkeln in seinen Augen ließ ihn ein wenig verwegener wirken.

"Ach so machst du das bei den Mädchen?", wisperte Hae und grinste neckisch. Sie musste einfach rausfinden, ob sie seine Erstwahl war.

"Welchen Mädchen?", flüsterte er.

"Also bin ich deine Erstwahl?"

"Meine einzige Wahl. Ich wäre zu hause geblieben, hättest du abgesagt. Meine Familie macht dir Konkurrenz, wir wollten einen Wisneyfilm sehen."

Hae konnte sich das kurze Lachen nicht verkneifen. Sie war glücklich, sodass das Grinsen in ihren Mundwinkeln schmerzte. Und dennoch lächelte sie ihn weiter an.

"Wie gut, dass du dachtest, ich würde keinen Begleiter haben"

Leonard schluckte und er sah sie prüfend an: "Hast du einen?"

"Nein" Sie musste ihn einfach ein wenig aufziehen.

"Ich besorg die Karten", sagte er schließlich, als er seine Stimme wieder gefunden hatte.
Hae lächelte ihm aufrichtig zu und wusste eigentlich selbst nicht so genau, warum sie so über das ganze Gesicht strahlte.

"Das ist doch keine Wette oder so? Shawn hat mit mir geschlafen, weil es eine Wette war" Hae wusste selbst nicht so genau, warum ihr das gerade rausgerutscht war, aber Leonards Gesicht zeigte nun ernsthafte Bestürzung.
"Nein! Ich..."

Sie berührte sanft mit der freien Hand seine Haare: "Ich...ich wollte dich damit nicht belasten. Vergiss es einfach. Ich gehe gerne mit dir zum Ball"

Mit diesen Worten drehte sie sich um und bekam dieses Grinsen einfach nicht mehr aus ihrem Gesicht.

***
"Drückt auf das Sternchen und ich zwinge euch mich zu begleiten, indem ich einfach eine Skyhope-Bad-Boy-Wandlung erlebe und euch Entscheidungen mittels Suggestivfragen aufzwinge" - Leonard Cox-Reid, kein Bad Boy, er hasst Lesen wie die Pest, hat sich während dem Gespräch mit Hae beinahe in die Hosen gemacht. Beinahe.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top