22.

"Ich muss los. Mum macht sich sicher Sorgen"

Leonard drehte sich leicht zu Hae um. Bella und Rob waren gerade erst gegangen. Allison hatte sich mit einer Ausrede schon vor einer halben Stunde verdünnisiert. Leonard war klar gewesen, dass es mit dem Typen zusammen hängen musste, mit dem sie über Winstagram schrieb. Es war laut den Mädchen ein süßer, netter Typ. Und Leon verpasste es einen kleinen Stich, dass Hae so über einen Fremden geredet hatte. Und ja, es ging ihm unter den Strich, dass sie so etwas sagte.
Diese widersprüchlichen Gefühle abzustreiten wäre Blödsinn gewesen. Er war eifersüchtig, obwohl er doch einen winzigen Anteil in ihrem Leben hatte. Einen winzigen und er nahm sich heraus auf einen Fremden eifersüchtig zu sein.

Sein Blick wanderte zur Uhr im Krankenzimmer und Daniel rieb sich die Augen: "Ich bin müde. Würde es dir etwas ausmachen zu gehen, Leon?"

"Ich glaube...", begann er zögernd. Die Zeit war ihm Flug vergangen und er war erleichtert gewesen, dass es Daniel anscheinend gut genug ging, um Witze über Robs Sterilisierung zu reißen.
Obwohl dies ja eigentlich ein hochsensibles Thema war, ließ Rob es geschehen. Um des Kranken Willen, so könnte man meinen. Und Daniels netter mehr-als-nur-Freund Nev hatte sicher zu der guten Laune beigetragen. Aber er wusste auch, dass seine Anspannung abgefallen war, als Hae aus dem nichts seine Hand genommen hatte. Und dafür hasste er sich.

Daniel warf ihm einen überdeutlichen Blick zu, der anscheinend bedeuten sollte: Nutz die verdammte Chance.
Auch Nev hob betont langsam eine Augenbraue, aber Leon ballte seine Hände auf der weißen Decke zu Fäusten. Wegen Hae machte er nur sich und anderen Ärger. Egal was Perc auch sagen würde, irgendwo musste das doch aufhören, oder?

"Ich hoffe, du kommst bald zur Schule, Dan", murmelte Hae noch leise, als Leonard keine Anstalten machte zu gehen. Er hörte, wie sie noch einen Moment auf der Schwelle stand, dann drehte sie sich um und schloss die Tür mit einem Knallen hinter sich.

"Du lässt sie ganz schön zappeln", merkte Dan an und lächelte schief. Leonards Blick wanderte zu dem Fenster, wo der Himmel sich im Laufe des Nachmittags verdunkelt hatte. Es würde vielleicht regnen. Vermutlich.

Leonard antwortete nicht, er wusste doch auch nicht genau, was er hier tat.

"Du-gehst du zu dem Weihnachtsball?", fragte Daniel schließlich und zupfte an Leons Ärmel. Er entzog sich dem Griff seines Freundes und verbarg sein Gesicht in den Händen. "Nein"

Musste Daniel unbedingt auf diesem Thema rumreiten? Natürlich hatte Leon sich schon Unmengen an Gedanken darüber gemacht. Auch bevor, Shawn ihn zu Brei geprügelt hatte.

"Ich weiß nicht", fügte er schließlich hinzu und er konnte förmlich hören, wie sich auf Daniels Gesicht das triumphierende Lächeln ausbreitete: "Jackpot"

"Ich frage Hae ganz sicher nicht", zischte Leon zwischen seinen Fingern hervor. Okay, so sicher konnte er sich nicht sein. Er würde gerne.

Es war nicht, dass er verliebt war. Er bewegte sich nur gerade in riesigen Schritten auf verliebt zu. Und er ließ es zu.

Hae war faszinierend, sie war stur. Sie stritten sich über alles mögliche, solange es sinnlos war und er hasste es, aber irgendwie ergab es alles Sinn. Er dachte gerne an den Anfang ihrer Freundschaft zurück, als sie scheinbar etwas verbunden hatte. Und er mochte die Unbeschwertheit, die sie ausstrahlte. Und wenn er sich verlieben würde, na und? Die Wette war Geschichte, ihr Ruf auch. Sie mussten sich um nichts mehr scheren.

Und diese Gedanken machten ihm auch unglaublich viel Angst. Er war in einer Familie aufgewachsen, wo viel Liebe und Tradition vermittelt wurde. So glaubte er zumindest und eigentlich sollte doch das Verlieben schön sein. Mit diesem Geprickel und den Gefühlen...

"Warum nicht?" Nev musterte ihn interessiert und leckte sich wieder über die Unterlippe, sodass der Piercing kurz aufblitzte. "Es ist rational..."

"Das ganze ist irrational", unterbrach Leon ihn und fuchtelte mit den Armen herum, "Hae hat auch Daniel geküsst! Sie hat die halbe Schule geküsst aus was weiß ich für einen Grund!"

Daniel seufzte nur theatralisch und legte eine Hand auf seine Brust: "Jetzt komm ja nicht mit irrationalen Eifersuchtsgedanken. Sie küsst gut und gerne, das streite ich nicht ab, aber bei dir und ihr...ist es etwas anderes. Oder? Du lässt dich einfach nicht von ihr küssen"

"Darum hängen wir immernoch zusammen ab. Weil sie mich nicht geküsst hat, wenn sie diesen Punkt auf ihrer Liste abhakt hat, bin ich sie los", antwortete Leon verbittert.

"Weißt du nicht. Du hast es nicht probiert. Sie würde sich von dir küssen lassen, bin ich mir sicher" Nev schnalzte leise mit der Zunge und sah ihn auffordernd an. "Sie hat dich gerne, warum sollte sie auch nicht...außerdem regnet es gleich"

"Und sie hat keinen Regenschirm", fügte Daniel feixend hinzu. Sogar ein anzügliches Wackeln mit der Augenbraue brachte der junge Mann zu Stande. Leonard seufzte und stand schließlich auf.

"Ja ich auch nicht"

"Wenigstens reden solltest du mit ihr", murmelte Nev und drückte Daniel einen Kuss auf die Stirn, "Zappel nicht die ganze Zeit rum, sonst bleibst du eine Woche länger im Krankenhaus"

Es war so eine intime Geste, wie Nev und Dan sich in die Augen sahen und Dan eine Hand an die Wange seines Freundes legte, sodass Leon wegsehen musste.
Sofort beschlich ihn der Gedanke, ob auch Hae und er genauso entspannt und liebevoll miteinander umgehen könnten...und er sie jemals küssen würde, wie Dan und Nev es ihm nächsten Augenblick geräuschvoll taten.
Er hatte nie das Problem gehabt, dass irgendetwas ihn ablenkte oder seine Gedanken und Gefühle ordentlich durcheinanderbrachte. Aber als Hae seine Hand genommen hatte-war genau das eingetreten.
Ständig waren an dem Nachmittag seine Gedanken zu ihr gewandert, wenn nicht gleich sein Blick. Er hatte versucht ihren Berührungen auszuweichen, um sich ein wenig Klarheit in seinem Kopf zu verschaffen, aber das machte einfach nur alles schlimmer.

"Ich...ich gehe dann mal", wisperte Leonard leise und Daniel wandte kurz seinen Kopf in Leons Richtung und seufzte: "Ach Mann...ich wollte dich nicht vertreiben"

"Hast du auch nicht", antworte er hastig. Dan grinste schief und neckisch und deutete auf die Tür: "Bitte sehr, aber beeil dich okay? Hae wird sicher noch ganz nass in dem Regen"

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Er war ein hoffnungsloser Fall. Er benahm sich, als würde er versuchen ihrem Kuss absichtlich aus dem Weg zu gehen. Und dieser Gedanke regte sie auf und ließ sie hastig die Treppen runter stolpern. Warum?
Warum ließ er sich nicht einfach küssen, er wüsste doch, dass sie ihn dann in Ruhe sein langweiliges letztes Jahr an der High School zu Ende leben lassen würde. Stattdessen...das ganze Desaster.

Sie atmete tief ein und versuchte ihre Wut runter zu schlucken, was ihr nicht gelang. Also trat sie heftig gegen den erstbesten Mülleimer und wäre vor Schmerz beinahe vornerüber in eine Pfütze gefallen. Sie betrachtete ihre durchnässten Stoffschuhe und reckte ihren Kopf dem grauen Himmel entgegen. 

"Verdammte Scheiße", murrte sie. Ihre Mum würde sich natürlich keine Sorgen machen. Natürlich, dennoch stimmte sie der Gedanke für einen Moment traurig. Die Cox-Reids waren so unvoreingenommen ihr gegenüber  und familiär gewesen, dass sie bei dem Gedanke an ihr zu hause nur einen schmerzhaften Stich verspürte. Diese Familie erfüllte das perfekte Klischeebild aller Klischeehollywoodfamilien. Und Leonard gleich mit.

Sie trat in die Pfütze mit ihrer Spiegelung und sah wie ihr eigenes sommersprossenbesprenkeltes Gesicht verschwamm und sich scheinbar auflöste.

Die ersten Tropfen trafen auf ihre Stirn, es war kein feiner Niesel, wie als Leon sie auf dem Spielplatz gefunden hatte. Die Tropfen waren dick und durchnässten ihre Kleidung sofort. Sie bereute es nur für einen kurzen Moment nicht in die Wetterberichte geguckt zu haben. Na und? Dann werde ich halt nass.

Hae reckte ihr Gesicht den Wolken entgegen und seufzte schwer, als das kühle Wasser auf ihrer überhitzten Haut landete und ihre Sorgen aus dem Kopf spülte.

Sie hob auch ihre Arme an und drehte leicht ihre Handflächen zum Himmel, sodass sie die Tropfen auch auf ihren Armen spürte.
Nach und nach wich die Wut einer Resignation. Ihre Schultern entspannten sich, die Muskeln um ihren Mund weich, als der Regen heftig auf sie nieder prasselte. Vorsichtig drehte sie sich und begann einiges Schritte tiefer in die Regenvorhang zu laufen, aber mit einem Mal umhüllte sie der Geruch von Wärme und einem äußerst bekannten Shampoo.

Leonard hielt seine Jacke über seinen Kopf und ihren Kopf. Hae blinzelte leicht, als habe sie seine Anwesenheit plötzlich bemerkt und als sie die Augen aufschlug musste er lächeln. Sie standen so dicht beineinander, er musste schließlich die Jacke halten und obwohl er während der letzten Minuten intensiv nachgedacht hatte, war er nicht auf diesen Moment vorbereitet gewesen.
Aus der Nähe konnte er ihre unzähligen Sommersprossen zählen und sein Blick wanderte zu den Lippen, die sich verheißungsvoll öffneten.

"Was machst du denn hier?", wollte sie leise wissen. Ihre Stimme war angeraut und ein Tropfen hing an ihren Wimpern, als sie zu ihm aufsah. Es war sichtlich unbequem, wenn man die rund zwanzig Zentimeter Größenunterschied zwischen ihnen beachtete.

"Was machst du denn hier?", fragte er sie stattdessen und sie warf ihm einen leicht beleidigten Blick zu.

"Ich stand im Regen"

"Willst du dir eine verdammte Lungenentzündung holen, so oft wie du zur Zeit im Regen stehst?"

"Letztes Mal saß ich im Regen. Und diesesmal habe ich den Regen genossen, okay?", schnappte sie.

"Was weiß ich. Deine Sachen sind vollkommen durchnässt..."

"Ich wollte mich heute bedanken", unterbrach sie ihn leise. Sie hatte den Blick gesenkt, sodass Leon nicht erahnen konnte, was in ihrem Kopf von sich ging. Also begnügte er sich dümmlich auf ihre dunklen kurzen Haare zu starren und zu warten, dass sie etwas sagte.

"Danke"

"Wow", sagte er schließlich leicht ironisch, aber Hae schlug ihm sanft gegen die Brust, was ihm ein schmerzvolles nach Luft schnappen kostete.

"Ich wollte dir nicht weh tun", stammelte sie schnell und zog ihre Hand wieder rasch weg. Er verzog seinen Mund zu einem schiefen Grinsen: "Geht schon. Ist nicht so schlimm..."

Hae hatte ihren Kopf gehoben und nahm Blickkontakt auf. Die Worte blieben ihm überrascht im Hals stecken und er musste hart schlucken. Dann leckte sie sich langsam über ihre dünnen Lippen und legte sanft ihre linke Hand auf seine Brust. Es war eine langsame, wohlbedachte Geste und er spürte ihre Finger durch sein T-Shirt. 
Sein Puls schoss rapide in die Höhe und er war sich sicher, dass sie es spürte, denn sie verzog ihren Mund zu einem Grinsen.
"Ich-Hae Warley sehe Leonard Cox-Reid aufgeregt?"

"Ist ja nicht so, als wärst du der Grund dafür"

Sie lächelte schelmisch, obwohl ihre Augen ihn wachsam festnagelten.
Leon drückte seine Schultern durch und wieder heftete sich sein Blick auf ihre Lippen, obwohl es langsam unangenehm wurde. Dennoch wollte und konnte er diesen Augenblick einfach nicht zerstören. Also wartete er ab, was sie als nächstes tun würde.

Sie räusperte sich und zog ihre Hand wieder auf ihre Brust zurück: "Das wird sicher langsam anstrengend-wir sollten zur Haltestelle"

"Ja...", sagte er gedehnt, obwohl er sich zu Tode ärgerte, dass er die Chance nicht anders ergriffen hatte. Sie drehte ihm den Rücken zu und trat einen Schritt rückwärts, sodass sie mit ihrem Rücken an seine Brust stieß. Dann hob sie die Arme und ihre Finger schlossen sich kurz vor Leonards Händen in die Jacke: "Geht das so?"

Sicher für Ausstehende äußerst merkwürdig, für Leon in einer angenehmen, wenn auch ziemlich sportlichen Prozession, machten sie sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Wenn er zu schnell lief, liefen sie in Gefahr, dass ihre Beine sich verhedderten und wenn er zu langsam war, wurden sie beide nass. Hae kicherte und giggelte die ganze Zeit vor sich hin, als wäre das das Witzigste auf der ganzen Welt.

"Endlich", murmelte er, als Hae unter das Dach der Bushaltestelle trat. Sie grinste ihm zu und hielt eine Hand in den Regen: "Also...warum bist du hier?"

"Ich geh nach hause, sieht man doch"

Sie schob ihre Unterlippe ein wenig nach vorne und sah ihn unzufrieden an. Nicht die Antwort, die sie hören wollte. Und um ehrlich zu sein, er wusste es selbst nicht so genau.

"Ich bin eigentlich mit gekommen, weil ich mich bedanken wollte"

"Mh-mmm", brummte er und senkte den Blick auf seine Schuhe.

"Aber...ach, nichts. Vergiss es" Sie zog ihre Hand zuruck und schüttelte das Wasser ab. Er schob mit seiner Schuhspitze eine Zigarettenkippe ein wenig hin und her, dann atmete er tief durch: "Was wolltest du sagen?"

"Nichte wichtiges" Hae biss sich auf die Unterlippe und verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust.

Sollte er sie fragen? Bis jetzt war das Gespräch schließlich ganz gut verlaufen. Vielleicht sagte sie auch ja, ...

Das Geräusch des nahenden Busses ließ ihn aufsehen und ertappte Hae, die ihn still musterte. Bei seinem Blick drehte sie ihren Kopf weg und eine verräterische Röte machte sich in ihrem Gesicht breit.

"Mein Bus kommt. Wir sehen uns"

Er nickte ihr kurz zu, da ihm kein Wort über seine Lippen kommen wollte und sah zu, wie Hae in den Bus stieg und sich noch zu ihm umdrehte, um ihm zu zuwinken.

"Scheiße", wisperte er, als der Bus davon fuhr.

***
"Für ein Sternchen dürft ihr bei unserer Prozession mitmachen!" - Leon, der leider (wieder einmal) die Chance verpasst hat.

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