9

Bumm!

Ich runzelte die Stirn.

Das Geräusch klang, als wäre es weit entfernt, aber ich war mir sicher, dass ich etwas gehört hatte.

Ich sah Calin an und wusste sofort, dass auch er das Geräusch eindeutig vernommen hatte.

Es war ihm deutlich an der Haltung abzusehen, den verwirrten Ausdruck in seinen Augen mal außer Acht gelassen.

„Hast du das gehört?", wollte er im selben Moment wissen, als ich fragte: „Was war das?"

Unter normalen Umständen hätte ich vielleicht gelacht.

Aber in diesem Moment konnte ich nichts anderes tun, als mir unerträgliche Sorgen zu machen, die sich in meinen Magen und mein Herz bohrten, bis es schmerzte.

Calin zuckte in einer stummen Antwort die Achseln. „Vielleicht ist irgendjemandem etwas auf den Boden gefallen? Ich meine, bei uns in Minidiae ist es nicht unwahrscheinlich, dass ein Küchenjunge einen Topf fallen lässt."

Minidiae war der Palast, in dem die cyltische Königsfamilie lebte. Er stand im Herzen von Methildrae, der Hauptstadt des Inselreichs, welche auf der südlichsten Insel Scyvrars befindlich war.

„Und das macht so einen Lärm? Ich glaube kaum", entgegnete ich, wobei ich die Angst und die Sorgen nicht aus meiner Stimme heraushalten konnte.

In Zeiten wie diesen – Zeiten des Krieges und Zeiten der Albträume – war es nie gut, einen unergründlichen Lärm auf einen heruntergefallenen Topf in irgendeiner Küche zu schieben.

Vor allem nicht, wenn erst wenige Tage zuvor ein mörderischer Clown hier aufgetaucht war und die Person, die den Clown geschickt hatte, vor einer weiteren Attacke nicht zurückschrecken würde. Niemals.

„Es gibt mit Sicherheit eine logische Erklärung für all das hier", versuchte Calin mich zu beruhigen.

Erfolglos.

Die Dornen und Stacheln, die wie heiße Nadeln in meine Adern zu stechen schienen, ließen nicht zu, dass ich das Geräusch einfach als Zufall abtat.

Ich hatte schon vor langer Zeit aufgehört, an Zufälle zu glauben.

Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um ihm zu erklären, dass diese „logische Erklärung", wie er sie genannt hatte, mit Sicherheit nichts Gutes war, aber das musste ich nicht.

Bumm! Bumm!

Es knallte zwei weitere Male, diesmal deutlich näher als vor wenigen Minuten. 

Was ging hier nur vor?

„Wir müssen nachsehen, was da los ist", sagte ich nur, während ich schon den Raum verließ und in den Flur trat, Calin dicht hinter mir.

„Ich bin bei dir", murmelte er, in seiner Stimme ebenfalls eine Anspannung, die von Sorgen und Unwissen gespickt war.

Ich war gerade einmal zwei Schritte weit gekommen, da öffneten sich Türen zu beiden Seiten des Ganges und Leute strömten aus den dahinterliegenden Räumen, ebenso verwundert und verstört wie wir.

Ich beschleunigte meine Schritte, bahnte mir einen Weg durch die Adeligen, Dienstmädchen und Wachleute, die nun den Weg versperrten. 

Aufgeregte Gespräche erfüllten den Raum, während alle auf die Treppe zugingen, auf die auch ich zuhielt, neugierig auf das, was sie gehört hatten.

Ich stieß Frauen in hübschen Tuniken aus dem Weg, blaffte Männer der Garde an, mir zu folgen und keine Fragen zu stellen. 

Währenddessen warf ich immer nur einen kurzen Blick über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass Calin noch hinter mir war, aber er passte sein Tempo immer an mein schneller werdendes an.

Ich fluchte, als das Schwert, das an meiner Hüfte hing, sich in der galanten roten Robe einer Hofdame verfing und ich kostbare Zeit dafür opfern musste, es wieder zu lösen.

Zeit, die wir einfach nicht mehr hatten.

BUMM!

Diesmal war es lauter als die anderen Male. 

Näher.

Der Boden vibrierte immer noch, als das Geräusch langsam verblasste. 

Ich musste mich am Treppengeländer festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und kopfüber die Stufen hinunterzustürzen.

Als ich mich genug gefasst hatte, um weiter zu rennen, spürte ich die Luft wie eine steinerne Decke auf mir lasten.

Sie schien so viel Widerstand zu leisten wie nie zuvor.

Ich bewegte mich langsam. Ich bewegte mich verdammt nochmal zu langsam.

Und dabei rannte ich als wäre der Teufel persönlich hinter mir her.

Ich sprintete die Treppe hinunter in den Saal, der sich hier auftat, und ließ meine wachsamen Augen über die Szenerie gleiten.

Mehr Menschen tummelten sich am Fuß der Treppe und bewegten sich hastig in Richtung Ausgang.

Der Lärm der Stimmen verband sich in meinen Ohren zu einem undurchdringlichen Rauschen, das mir die Sinne vernebelte.

Adelige und Nicht-Adelige.

Cylter und Mavarer.

Alle liefen sie gleichermaßen auf den Ausgang zu, der sie letztendlich in den Schlosshof und schließlich ins Bedienstetendorf führen würde, das den Palast wie ein Schutzschild umgab.

Ich fühlte die aufsteigende Panik in der Luft um mich herum, weil die Menschen nicht wussten, was sich hier abspielte.

Eine düstere Vorahnung beschlich mich.

Eine sehr, sehr düstere Vorahnung.

BUMM!

Die nächste Explosion jagte die Treppe in die Luft, auf der ich Minuten zuvor noch gestanden hatte.

Im einen Moment war der graue Marmor noch intakt, im nächsten schien sich etwas in seinem Inneren auszubreiten und eine Nanosekunde später flog alles in die Luft.

Trümmer der Treppe wurden durch den Saal geschleudert, Rauch und Feuer verbreiteten sich blitzschnell, Hitze durchflutete den Saal und sofort begann ich zu schwitzen.

Ich wusste nicht, wie und wann es passiert war, aber irgendwann hatte Calin sich auf mich geworfen und mich auf den Marmorboden gedrückt.

Sein schmerzverzerrtes Gesicht war dreckig und hatte Schürfwunden, doch das war nichts, verglichen mit den Kratzern auf seinem Rücken.

Blut lief aus einer Wunde an seiner Schläfe und über seinem rechten Wangenknochen prangte ein sauberer Schnitt.

Rauch drang mir in Nase und Mund, presste den Sauerstoff aus meinen Lungen, ließ mich Husten und Würgen und verursachte einen unmenschlichen Durst.

Um mich herum hatten sich grelle Flammen ausgebreitet und verschlangen den blauen Samtteppich, der den Saal grundierte, in Sekundenschnelle.

Panische Rufe waren zu hören, doch es klang viel mehr nach einem monotonen Rauschen. 

Die Wucht der Explosion erfüllte noch immer meinen gesamten Körper, ließ mich vibrieren und zittern und husten.

Der Geruch von verbranntem Fleisch hing in der Luft. 

Verkohlte Leichen lagen im Feuer, andere waren begraben unter eingestürzten Säulen oder Balkonen.

Das Glas der Fensterscheiben war zersplittert und feinste Scherben lagen auf dem Boden. 

Dunkelrote Blutspuren zogen sich in Schlieren über den Teppich und verloren sich in der Masse der roten Flüssigkeit.

Menschen mit aufgeschürften Fußsohlen rannten auf den Ausgang zu und erdrückten sich gegenseitig, um endlich diesen Saal verlassen zu können.

Andere Menschen lagen auf dem Boden, die Hände über Wunden zusammengeschlagen, die von aufgeschlitztem Bauch, über tödliche Platzwunden am Kopf, bis hin zu abgerissenen Füßen, Beinen oder Armen reichten.

Für wieder andere Menschen war es bereits zu spät. 

Ihre Körper wurden entweder vom brennend heißen Feuern gebraten, waren unter schweren Steinen begraben oder in Stücke gesprengt.

In meiner unmittelbarer Näher erkannte ich einen kleinen weißen Ball, der über den Boden kullerte und unterdrückte ein Würgen.

Ein Augapfel.

Angewidert drehte ich den Kopf in eine andere Richtung, nur um schwarzen Rauch zu sehen, der den Raum in wenigen Augenblicken verschlingen würde.

Langsam aber sicher wurde offensichtlich, dass es nicht alle von uns lebend aus dem Saal schaffen konnten. 

Frauen sackten an Wänden zusammen und erstickten an der großen Menge Rauch; Männer brachen zusammen und warfen sich lieber in die lodernden Flammen, als einen qualvollen Tod durch Erstickung zu erwarten; Kinder wurden von der panischen Menge verschluckt und rücksichtslos überrannt, weil alle ihr eigenes Leben retten wollten.

Ich betete zu allen Göttern, die ich kannte, dass sie einen schnellen und quallosen Tod sterben würden.

Calin lag immer noch auf mir, sodass ich mich nicht bewegen konnte.

 Sein Körper hielt mich auf den Boden gepresst und er machte keine Anstalten, sich zu bewegen.

Ich drehte den Kopf gerade so weit, dass ich ihm in die Augen sehen konnte.

Er erwiderte meinen Blick entschlossen, seine Nase nur Zentimeter von meiner entfernt.

Erst dann merkte ich, dass die Flammen und der Rauch uns beide verschonten. Ein kleiner Kreis innerhalb des großen Chaos war frei von Feuer, frei von Qualm, frei von herabgestürzten Felsbrocken.

Außer den Wunden an Calins Körper, den die erste Welle der Explosion verursacht hatte, und den Schrammen, die der Aufprall an mir verursacht hatte, waren wir unverletzt.

Ich runzelte die Stirn, doch dann bemerkte ich das leichte blaue Funkeln in Calins Augen.

Magie.

Seine Magie.

Calin hatte sich auf mich geworfen, hatte sein Leben riskiert um mich mit seiner Macht zu retten.

Dabei kannte er mich doch erst seit ein paar Stunden!

Andererseits hatte er jede dieser Stunden damit genutzt, mir zu zeigen, dass er gerne in meiner Gesellschaft war. Diese Rettungsaktion war vermutlich keine Ausnahme.

Jetzt, wo ich wusste, worauf ich achten musste, war es auch ziemlich einfach, die wabernde Luft auszumachen, die das Kraftfeld signalisierte. 

Wir waren umgeben von seinem Schild, das vor all den Jahren Chandra gerettet und dafür gesorgt hatte, dass er ihr Leibwächter wurde.

Und gerade setzte er seine gesamte Magie dazu ein, das Feuer davon abzuhalten, uns beide zu verschlingen.

Ich lächelte grimmig, als ich mich vorsichtig unter ihm hervor rollte und für einen Moment neben ihm liegen blieb.

Dann stieß ich den Atem aus, den ich angehalten hatte und nahm einen tiefen Zug der frischen Luft innerhalb des Kraftfelds.

Das Dröhnen in meinen Ohren ließ allmählich nach und ich nahm entfernt wahr, dass im Palast weitere Explosionen zu hören waren.

Aber das war mir egal.

Es zählte nur, dass Calin und ich hier lebend herauskamen. 

Und dass meine Freunde es ebenfalls rechtzeitig schafften.

Vielleicht war das egoistisch, aber den Gedanken an all die Sterbenden hier im Saal verdrängte ich. 

Es war menschlich, zuerst an sich selbst zu denken.

Und mir war es wichtiger, dass meine Freunde das Attentat überlebten als irgendwelche Adeligen, mit denen ich noch nie auch nur ein Wort gewechselt hatte.

Die zurückgelassenen Kinder hatten keine Chance gegen das Feuer gehabt. Sie würde ich auch nicht mehr retten können.

Ich nutzte meine immer weiter sinkenden Kräfte, um mich in eine aufrechte Position zu hieven.

Dann sah ich mich erneut um.

Doch diesmal ließ ich nicht meine Emotionen die Oberhand übernehmen, sondern blieb distanziert. 

Kalt.

Ich achtete nicht auf den Augapfel auf dem brennenden Teppich.

Nicht auf den Körper eines kleinen Mädchens, der neben der Tür lag.

Nicht auf den leeren Ausdruck in den Augen des Wachmanns, der an einer Wand saß und am Rauch erstickt war.

Ich konnte keinem von ihnen mehr helfen.

Stattdessen suchte ich nach einem Ausweg. 

Ich nahm das Feuer, den Rauch und die Trümmer in mich auf, suchte nach einem Pfad, der uns aus diesem tödlichen Labyrinth herausführen konnte.

Ein falscher Schritt, eine kleine Bewegung, die nicht im Gleichgewicht war. 

Das konnte den Unterschied machen, ob wir lebten oder starben.

Ich kalkulierte alles ein: Die Leichen auf dem Boden, denen wir ausweichen mussten. Die Blutlachen, die den Marmorboden rutschig machen würden.

Der Geruch nach verbranntem Fleisch erfüllte die Luft und löste in mir einen starken Würgereiz aus.

Dann wandte ich mich Calin zu, der sich nun ebenfalls aufgesetzt hatte. Schweiß glänzte auf seiner Stirn – ob von der Hitze oder wegen der vielen Anstrengung konnte ich nicht sagen.

Er hatte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst und sah mich aus klaren, aufrichtigen Augen an.

Das Zeichen war klar.

Was ich auch machen würde, er wäre dabei.

Ich nickte und schenkte ihm mein entschlossenstes Lächeln, das von außen nur nach einem Zähnefletschen aussehen konnte.

Er erwiderte es grimmig.

Wir wussten beide, was auf dem Spiel stand. 

Wir wussten beide, dass wir unsere Emotionen verbannen mussten, um die Aufgabe zu meistern, von der unser Überleben abhing.

Also tauschten wir noch einen letzten Blick, der so viele Worte wert war. 

Dann ließ Calin seine Magie los und setzte uns dem Rauch und dem Feuer aus.

---

Ich sprang auf und rannte los.

Ich rannte um einen Felsbrocken, der über und über von roten Flammen verschlungen wurde.

Dann sprang ich über den Körper eines Mannes, den ich nicht kannte und wirbelte herum, um einer fallenden Säule auszuweichen, die mich fast erschlagen hätte. 

Ich bog nach rechts ab, um sie zu umrunden, weil sie über und über mit Feuer bedeckt war. 

Calin folgte mir.

Ich drehte mich geschickt unter einem Kronleuchter hindurch, der aufgrund einer abgefackelten Halterung so tief hing, dass ich mir mit den spitzen Enden die Augen hätte ausstechen können.

Anschließend vollführte ich einen Slalom durch Felsbrocken und Leichenteile, die den brennenden Teppich bedeckten.

Man konnte nie länger als ein paar Augenblicke auf einer Stelle stehen bleiben, da ansonsten die Flammen zuschnappen und die Haut versengen würden.

Leichtfüßig überwand ich Treppenstufen, als ich hinuntereilte. Das gesamte Treppenhaus stand ebenfalls in Flammen. 

Der Teppichboden loderte zischend. 

Der gläserne Aufzug war schon lange zerstört.

Ich rannte Stufe um Stufe hinunter, hielt den Atem so gut es ging an, um den schwarzen, bösartigen Rauch aus meiner Lunge fernzuhalten.

Ich sprintete um die schärfsten Kurven als gäbe es sie nicht, balancierte ganze Absätze auf dem Geländer, weil die Stufen bereits unbetretbar waren. 

Ich wich fallenden Treppengeländern aus höheren Stockwerken aus und verdrängte meine ganze Angst in die hintersten Winkel meines Körpers.

Ich darf keine Angst haben.

Ich darf keine Angst haben.

Ich darf keine Angst haben.

Immer weiter wiederholte ich denselben Gedanken in meinem Kopf, um mich daran zu erinnern, wer ich war und was ich zu tun hatte, um nicht in der Flut der Flammen unterzugehen.

Ich rannte weiter und immer weiter und erlaubte mir nicht einmal zurückzublicken, um mich zu vergewissern, dass Calin mit mir Schritt halten konnte.

Der Leibwächter war mir auf den Fersen.

Musste er einfach sein.

Ich blieb nicht stehen. 

Ich rannte weiter, auch als kalter Schweiß meinen Körper überströmte und die Hitze des Feuers meine Haut prickeln ließ.

Niemals blieb ich auch nur für eine Sekunde stehen.

Mein ganzer Körper hatte auf Überlebensmodus geschaltet. 

Es zählte nur, dass ich heil unten ankam, egal welche Verletzungen, Verbrennungen Verbrühungen ich davontragen würde.

Ich rannte acht Stockwerke hinunter und auch wenn es wohl nur zwei oder drei Minuten waren, fühlte es sich so an, als würde ich eine Ewigkeit rennen.

Meine Füße schmerzten nicht nur von den Flammen, die an den Rändern meiner Schuhe züngelten und meine Haut versengten, sondern auch von der Anstrengung und den Absätzen.

Ab heute würde ich nie wieder Absätze tragen.

Nie wieder.

Andererseits hielten vermutlich gerade diese Absätze das Feuer davon ab, meine gesamte Haut anzubraten.

Ich lief eine weitere Treppe nach unten und erreichte endlich das Erdgeschoss. 

Hier hatten sich die Flammen noch nicht so stark verbreitet wie in Etage 9 und dem gesamten Treppenhaus, also verlangsamte ich nun endlich meine Schritte.

Auch der Rauch hielt sich in Grenzen, was mir das Atmen erheblich erleichterte.

Calin schloss zu mir auf und ich sah, dass er ebenfalls keine schweren Verletzungen trug.

Sein ganzer Körper war durchgeschwitzt von der Anstrengung, der Hitze und der enormen Konzentration, die er hatte aufbringen müssen, aber er war am Leben.

Er war am Leben.

Was man von vielen Palastbewohnern heute nicht behaupten konnte.

Ich schob den grässlichen Gedanken ein weiteres Mal beiseite und hastete auf die Tür zu, die in den Schlosshof führen würde. 

Endlich in die Freiheit und die heiß ersehnte Sicherheit.

Schritt für Schritt kam ich dem Ausgang näher, Calin direkt neben mir. 

Jeder Atemzug war länger als der vorherige, was meine Erleichterung zusätzlich zum Ausdruck brachte.

Jetzt waren es nur noch wenige Meter, bis ich die Tür aufreißen und aus dem Flammenmeer entkommen konnte, in das sich der Palast innerhalb weniger Minuten verwandelt hatte.

Wenige Meter, die uns von unserer Freiheit, unserer Sicherheit abhielten.

Ich sog erneut scharf Luft ein und legte die Hand auf die Klinke, bereit sie hinunterzudrücken und die Tür endlich aufzureißen, endlich Frischluft auf meinem Gesicht zu spüren, endlich meine Freunde zu sehen.

In diesem Moment spürte ich die Magie.

Es war eine kühle, sanfte Macht, die mir so unfassbar vertraut war. 

Fast so vertraut wie die neblige Dunkelheit von Jasmines Schattenmagie.

Es war eine Macht, in der so viel Verzweiflung steckte, dass ich sie in meinem Herzen spürte.

Eine Macht aus Eis und Schnee, aus Frost und Kälte, aus Schmerz und Verzweiflung.

Schlagartig ließ ich die Klinke los. 

Meine Hand war taub geworden und ließ sie einfach aus ihrem Griff gleiten.

Calin warf mir einen verwirrten Blick zu. „Was ist los? Wieso machst du nicht auf?"

„Es ist Spencer", antwortete ich nur, bevor ich mich auch schon von der Verzweiflung lenken ließ, der Magie folgte wie einer Spur aus Süßigkeiten.

Es war ein stummer, verzweifelter magischer Hilferuf, den meine Übertragungsmacht da in der Luft wahrgenommen hatte.

Spencer.

Irgendetwas war mit Spencer.

Ich schluckte. 

In der Zeit, in der ich hier gewesen war, war Spencer einem besten Freund nahe gekommen.

Wir hatten zusammen gelitten und gekämpft, Geheimnisse offenbart und Interessen geteilt.

Wenn ihm etwas zugestoßen war...

Wenn Spencer irgendetwas zugestoßen war...

Ich würde ihn umbringen.

Ich würde Merillas Bruder dafür umbringen.

Ich würde nach Synth laufen und ihm bei lebendigem Leib die Haut abziehen, wenn er Spencer auch nur ein einziges Haar krümmen würde.

Erst Jasmine und jetzt Spencer.

Es war ein weiterer Warnschuss, den er in das Knie meiner Freunde gejagt hatte, anstatt in mein eigenes.

Mein Hass auf ihn wuchs mit jedem Schritt, den ich in Spencers Richtung machte.

Wie konnte er es wagen, seine Psychospielchen mit meinen Freunden zu spielen?

Wie konnte er es wagen, überhaupt mir die Schuld zu geben, wo er es doch war, der sie ganz allein trug?

Ich meine klar, Merilla hatte sich damals vor mich geworfen und ich hatte auch die Wölfe angelockt.

Aber ohne ihn wäre es nie so weit gekommen. 

Wir wären nie so lange im Wald geblieben und außerdem wäre ich nie vor diesem Bären erschrocken.

Aber er war schon immer dasselbe Arschloch gewesen, das die Schuld lieber den anderen in die Schuhe schob als sie selbst auf sich zu nehmen.

Ich spürte Wut in mir aufkeimen, unterdrückte sie aber.

Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um die Kontrolle zu verlieren.

Nicht wenn Spencers Leben vielleicht davon abhing.

Stattdessen biss ich mir auf die Unterlippe und folgte weiter dem kühlen Leuchten seiner Macht, das mich magisch anzuziehen schien.

Ich führte Calin vom Ausgang fort und brachte ihn tiefer in den Palast, wo sich der Rauch allmählich wieder verdichtete.

Hier war ebenfalls etwas in die Luft geflogen.

Wie viele Leute wohl gestorben waren?

Eigentlich wollte ich es gar nicht wissen.

Der Geruch von verbranntem Fleisch erfüllte wieder die Luft, als seine Eismagie endlich greifbar war.

Einen Augenblick später sah ich ihn.

Spencer Snow.

Er saß an eine Wand gelehnt, den Kopf zwischen den Knien und schluchzte verzweifelt.

Ich fühlte genau diese Verzweiflung ebenfalls in mir, weil seine Eismagie, die er in einem stetigen Strom aussandte, um die Flammen von sich fernzuhalten, meiner eigenen Macht das hoffnungslose Gefühl einverleibte.

Ich wusste nicht, ob ich diese tiefe, heftige Verzweiflung je wieder vollständig loswerden würde, auch wenn der Eismeister sie gehen ließ.

Es sah aus, als wäre Spencers Körper nur noch eine leere Hülle, eine Dekoration, die keinerlei Zweck mehr erfüllte.

Und in diesem Moment traf mich die Wahrheit wie ein Schlag ins Gesicht.

Ich erinnerte mich daran, was Spencer einst zu mir gesagt hatte, als er herausgefunden hatte, dass Cassandra eine höllische Arachnophobie hatte.

Ich werde nie verstehen können, wieso Menschen vor Tieren Angst haben. Das einzige, was ich von ganzem Herzen fürchte, ist die Leute zu verlieren, die ich liebe.

Wenn diese Explosionen also Spencers wahrgewordene Angst, sein zum Leben erwachter Albtraum war...

Das bedeutete, dass...

„Spencer", flüsterte ich, in diesem einen Wort so viel Mitgefühl, dass mein Herz zu zerspringen drohte.

Ich sank neben ihm auf die Knie und legte ihm eine Hand auf die Schulter, um ihm Trost zu spenden.

Es war eine Sache, dem Horrorclown aus den eigenen Albträumen zu begegnen.

Es war etwas ganz anderes, einen geliebten Menschen an diese Explosionen zu verlieren, die offenbar nur als Mittel zum Zweck gedacht waren.

Spencer hob bei meiner Berührung den Kopf, seine Augen waren feucht.

„Sie ist einfach explodiert. Meine Mutter... sie...", sagte er, seine Stimme war so leise, dass ich ihn fast nicht hörte.

Er musste den Satz nicht beenden. Ich wusste, was passiert war.

Saraphina war tot.

Explodiert.

Und das meinetwegen.

Nein, falsch.

Seinetwegen. 

Wegen des synthischen Königs.

Ich zog Spencer fest an mich und ließ ihn nicht los, bevor Calin mich darauf aufmerksam machte, dass wir immer noch in Reichweite der Flammen waren.

Ich half meinem Freund, seine Tränen zu kontrollieren, seine Verzweiflung zu überwinden, um sein eigenes Leben retten zu können.

Spencer musste es schaffen.

Wir alle drei mussten es schaffen, diesen Palast zu verlassen.

und zwar jetzt.

Calin half mir wortlos, den Eismeister auf die Beine zu ziehen und legte sich seinen rechten Arm um die Schulter, um ihm Halt zu geben.

Ich lief neben den beiden her, in meiner eigenen Welt gefangen. Unfähig, Spencers andere Seite zu stützen.

Saraphina Snow war tot.

Spencers Mutter war tot.

Und Spencers Trauer traf mich mit jedem Schritt, den ich machte fester in der Magengrube.

Ich wollte mich übergeben, wollte zusammenbrechen und nicht mehr aufstehen.

Aber ich biss die Zähne zusammen und spielte ein weiteres Mal die Starke. 

Spielte ein weiteres Mal vor, dass ich diesen Anschlag unverwundet überlebt hätte, obwohl in mir ein blutendes Loch klaffte, das kurz davor war, mein gesamtes Selbst zu vernichten. 

Wäre ich nicht gewesen, wäre Saraphina jetzt noch am Leben.

Wäre ich nicht gewesen, wären all die Menschen, die heute gestorben waren noch am Leben.

Und egal, wie sehr ich mich auch bemühte, ich konnte diesen Gedanken einfach nicht genauso abschütteln wie alle anderen am heutigen Tag.

Er traf mich mitten ins Herz.

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