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  Ich saß an einem massiven Fichtenholztisch, flankiert von Cassandra und einer anderen Wache in einer schwarzen Tunika, auf deren Brust das feurige Wappen der Garde prangte.

Ich wusste nicht viel über ihn, außer dass er bereits unter Nero hier gearbeitet hatte und wir ihn deshalb ebenfalls tolerierten.

Ich wusste außerdem nicht genau wie er hieß, also benannte ich ihn in meinem Kopf einfach nach dem ersten Namen, der mir in den Sinn kam.

Nämlich Hildegard.

Hildegard hatte dunkle Haare, die im Licht dunkelblau schimmerten. Seine Augen hatten die Farbe von mattem Eisen, was ihn unverkennbar als Metallelementar auswies.

Länger wollte ich ihn nicht anschauen, also wandte ich den Blick ab und ließ meine Augen stattdessen über den Besprechungsraum gleiten.

Die vielen technischen Geräte warfen einen blauen Schimmer auf alles, was sich in Reichweite befand, was bewirkte, dass ich mich fühlte wie in einem Raumschiff.

Die wenigen Computer zeigten alle Bilder von Karten, Militärslagern oder Überwachungsaufnahmen, die wir in den nächsten Stunden beobachten, analysieren und bewerten würden.

An Pinnwänden waren Fotos und rote Fäden festgesteckt, die zusammen ein unfassbar unübersichtliches Schaubild ergaben, von dem mir beim bloßen Anschauen schwindelig wurde.

Cassandra und ich hörten aufmerksam dem Vortrag zu, während wir auf den bequemen Bürostühlen saßen und unser spätes Frühstück verspeisten.

Wir hatten gearbeitet, während die anderen im Speisesaal zusammen gegessen hatten und wir arbeiteten immer noch.

Es kam mir so vor, als würden wir noch ewig arbeiten müssen.

Ich hörte plötzlich ein seltsames Geräusch links von mir, zwang mich aber dazu, Hildegard nur einen kurzen Blick zuzuwerfen.

Hildegard hatte außerdem einen Dreitagebart und eine nicht wirklich gezupfte Augenbraue.

Betonung auf eine Augenbraue.

Ich bemühte mich, mir nicht allzu sehr anmerken zu lassen, dass ich mich neben ihm mehr als unwohl fühlte.

Und das nicht nur, weil er roch wie eine tote Ratte, die seit mehreren Tagen verrottete. Der Kerl brauchte dringend eine Dusche.

Oder ein Deo.

Aber nein, der eigentliche Grund, weshalb ich ziemlich angeekelt von Hildegard war, war, dass er die ganze Zeit unauffällig einen Finger in seine Hose steckte und danach daran roch. 

Ekelhaft.

Mich wunderte ehrlich, dass er bei dem offensichtlichen Gestank, den er ausströmte, noch nicht in Ohnmacht gefallen war.

Oder ich.

Ehrlich, ich war kurz davor in Ohnmacht zu fallen.

Oder zu kotzen.

„... denke ich, dass insgesamt eine Wahrscheinlichkeit von 19,7 Prozent vorliegt, dass ihr dort von jemandem angegriffen werdet. Aus diesem Grund möchte ich sehr stark betonen, dass es eine gute Idee wäre, mehr als einen Wachmann als Verstärkung mitzunehmen", beendete Jasmine ihre Argumentation.

Die Schattenmeisterin stand neben einer der großen Pinnwände voller Fäden, Reißnägel und Bilder, an denen die Wachenaufteilungen und Strategiepläne festgehalten waren. Sie trug einen weißen Hosenanzug, auf dessen Brust eine blaue Flamme prangte, was sie als Strategin der Garde auswies. Und damit als drittwichtigste Frau nach mir und Cassandra.

Jasmine hatte uns soeben eingeweiht, dass sie es für mehr als waghalsig – ja sogar für lebensmüde hielt, dass Cas und ich alleine zum jährlichen Cyrinnion aufbrechen wollten.

„Außerdem", fügte die Adelige an. „Es muss euch bewusst sein, dass der Krieg mit Ascalin direkt vor der Tür steht. Nachdem wir ihren königlichen Toxikologen getötet haben, ist es jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bis wir unseren Tribut bezahlen müssen. Es wäre zu einfach, eure Kutsche zu überfallen und euch zu überwältigen. Selbst zu zweit seid ihr nicht unbesiegbar."

„Oh ja, Kutschen zu überfallen ist wirklich ein Leichtes, stimmt's Aria?", fragte Cassandra.

Ich errötete bei ihrer Anspielung auf meine nicht ganz ehrliche Ankunft im Palast vor wenigen Monaten.

Dann lenkte ich meine Aufmerksamkeit bewusst auf das höchst interessante Schinken-Käse-Croissant auf meinem Teller.

Hildegard neben mir grunzte dennoch zustimmend, was mich allerdings mehr an den Laut eines Ferkels erinnerte als den eines Menschen.

Jasmine ignorierte ihn und fuhr unbehindert fort: „Es ist jetzt wichtiger denn je, dass unsere Hauptwachtmeisterinnen vor potentiellen Feinden geschützt sind. Das königliche Cyrinnion ist eines der bedeutensten Events des Jahres und es ist unausweichlich, dass die ascalinische Königin davon Wind bekommen hat."

Guter Punkt.

„Was schlägst du also vor?", fragte Cassandra. „Dass wir die gesamte Garde mitnehmen? Wer bewacht dann den Palast?"

„Neun Rosen ist das sicherste Gebäude ganz Mavars. Nur ein einziges Mal ist es bisher gelungen, hier einzubrechen."

Als sie das sagte, schenkte Jasmine mir ein verschwörerisches Zwinkern, auf das ich mit einem Grinsen reagierte.

„Das erste und letzte Mal", bestätigte ich mit fester Stimme.

„Aber sicher doch", stimmte sie zu.

Schließlich fuhr sie fort: „Was ich sagen will ist, dass ihr auf jeden Fall Verstärkung braucht. Ich verlange ja nicht, dass ihr die gesamte Garde mit euch mitschleppt, aber zumindest drei hochbegabte Soldaten können auf keinen Fall schaden. Zu eurer Sicherheit."

Ich seufzte. Jasmine hatte recht.

„Sie hat recht", sagten Cassandra und ich gleichzeitig.

Dann lachten wir beide, weil wir gerade dasselbe gesagt hatten.

Oh ja, es gab eindeutig kein besseres Team als Cas und mich.

„Ich habe immer recht", erwiderte Jasmine, was die Seherin und mich noch stärker zum Lachen brachte.

Gut, es gab doch ein besseres Team als Cas und mich: Cas, Jas und mich.

„Okay, mal angenommen wir nehmen ein paar Wachleute mit, um uns vor potentiellen Angreifern auf dem Weg zum Cyrinnion zu schützen... wen schlägst du vor? Es ist nicht so, dass wir gerade einen Wachenüberschuss haben, geschweige denn viele Soldaten. Genau dafür gibt es das Cyrinnion doch. Um neue Wachen aus den Militärslagern auszuwählen und anschließend auszubilden. Für die Stärkung der Garde und der Armee? Wenn wir also Wachen mitnehmen, bleiben dann sicher genug übrig?", stellte ich die wichtige Frage.

Ich wusste die Antwort schon, bevor sie es ausgesprochen hatte.

„Ich habe bereits ein Team zusammengestellt. Garry, Jenas und Elisandre werden euch begleiten. Garry ist ein hervorragender Bogenschütze und seine Metallmacht übersteigt die jedes anderen Soldaten. Jenas und Elisandre sind gute Messerkämpfer und er hat außerdem einiges an Naturmacht zu bieten, während sie eine Herrin des Feuers ist. Die drei können euch begleiten, wir können ihren Dienst hier für ein paar Tage entbehren."

Das war also der Grund für Hildegards Anwesenheit.

Jetzt, da ich endlich seinen Namen gehört hatte, wusste ich es eindeutig: Er hieß eigentlich Garry.

Das hieß auch, dass er uns zum Cyrinnion begleiten würde.

Garry.

Auch, wenn er in meinem Kopf jetzt immer Hildegard sein würde.

Hildegard, der stinkt und sich regelmäßig den Finger in den Arsch steckt.

Poetisch.

Wohl eher nicht.

„Es ist mir eine Ehre, Wachtmeisterin Pencur, Wachtmeisterin Sinigan", sagte Hildegard, wobei sein Speichel aufgrund der feuchten Aussprache durch den halben Raum geschleudert wurde. Auch meine Wange spuckte er an.

Angewidert wischte ich den Sabber mithilfe eines Ärmels von meinem Gesicht.

Igitt!

Ich musste Jasmine irgendwie ausreden, dass Garry, Jenas und Elisandre uns zum Cyrinnion begleiten würden. 

Auch wenn das hieß, dass stattdessen drei von Flöhen befallene Stallburschen mitkommen würden, war das immer noch besser als das hier.

„Vielen Dank, Garry", sagte ich. „Du bist vorerst entlassen."

Hildegard stand auf und verließ den Besprechungsraum, wobei er es sich aber nicht nehmen ließ, sich einmal kräftig zu kratzen.

Die Körperstelle sollte an dieser Stelle besser unbelichtet bleiben.

Zum Wohle der Allgemeinheit.

„Er ist ekelhaft", sagte ich, sobald die Türe zugefallen war. „Mit ihm will ich das nicht machen."

Cassandra presste die Lippen aufeinander. In ihrem Blick stand eindeutig widerwillige Zustimmung geschrieben, die sie nicht verbergen konnte.

„Hast du 'ne bessere Idee?", fragte Jasmine mich seufzend. Sie schien zumindest meine Meinung über Hildegard alias Garry zu teilen. 

Er war ekelhaft. 

Außerdem stank er.

Aber eine bessere Idee hatte ich schlicht und einfach nicht.

„Nein", sagte ich resigniert. „Die habe ich nicht."

---

Jasmine, Cassandra und ich berieten noch eine Weile über mögliche Alternativen, bevor wir zur eigentlichen Arbeit des Tages kamen.

Wir beschlossen, dass wir dreihundert Soldaten auswählen würden, was die Ausschlusskriterien waren, welche Art von Soldaten wir hauptsächlich suchten, wann sie den Dienst antreten sollten, wie sie vom Grenzviertel nach Neun Rosen gebracht werden würden und wo wir sie danach unterbringen wollten.

Es war größtenteils ziemlich langweiliger Papierkram, durch den wir uns kämpfen, unnötige Formulare, die wir ausfüllen oder dämliche Karten, die wir studieren mussten.

Das Leben als Hauptwachtmeisterin war nicht nur ein rosarotes Zuckerschlecken, auch wenn ich es immer sehr genoss, Zeit mit meinen Freunden zu verbringen.

Selbst wenn diese Zeit mit Smalltalk-Gesprächen gefüllt wurde, um die Zeit totzuschlagen, während wir versuchten, nicht vor Langeweile zu sterben.

Gegen Mittag lenkte Cas das Gespräch aber in eine Richtung, die ich nicht einschlagen wollte.

Eine Richtung, an die ich nicht einmal denken wollte.

„Also... Chandra und Dominic?", fragte sie.

„Mhm", bestätigte ich. „Der Prinz und die Prinzessin. Wie sollte es auch anders sein?"

„Es tut mir leid, Aria."

„Willst du, dass wir die Hochzeit verhindern? Das würde bestimmt Spaß machen", schlug Jasmine vor.

Ich lachte nur. Ein bitteres, harsches Lachen, in dem keinerlei Funken Fröhlichkeit mitschwang. „Er würde uns alle drei umbringen."

„Ja, nachdem sie uns zerfleischt hat", fügte Cas hinzu.

Diesmal war mein Lachen echt. „Ach, was würde ich nur ohne euch beide machen?"

„Verrotten", sagte Jasmine.

„Sterben", bestätigte Cassandra.

„Durchdrehen."

„Heulend zusammenbrechen."

„Dich im Palast verlaufen."

„Dich auf Chandra stürzen. Sollen wir weitermachen?"

Grinsend verneinte ich. „Nachricht angekommen. Ohne euch wäre ich verloren."

„Absolut."

„Aber sowas von", stimmte meine andere Freundin zu.

Ich seufzte nur, um mich anschließend erneut auf die Unterlagen vor mir zu konzentrieren.

Dann holte ich Luft und atmete einmal tief durch. „Außerdem ist Chandra gar nicht so übel. Ihre Hofleute sind sympathisch und zudem noch starke Magier."

Jasmine zog eine Augenbraue nach oben und betrachtete mich mit ihrem typischen sicher-dass-bei-dir-nicht-eine-Schraube-locker-ist-Blick.

Ich zuckte als stumme Antwort mit den Achseln. „Ich habe drei von ihnen gestern kennengelernt. Ivory, Lyane und Calin. Gestaltwandlerin, Mentalistin und Dualmeister."

„Wow", sagte Cassandra. „Scyvrar hat wirklich einiges mehr an magischer Vielfalt zu bieten als Iliris. Ich wusste nicht einmal, dass es noch Gestaltwandler gibt. Und Dualmeister?"

Ich lächelte. „Er kann Kraftfelder erzeugen und Frauen verführen. So krass ist er nicht."

Jasmine schnaubte nur. „Soll er ruhig versuchen, mich zu verführen."

Ich ignorierte ihren Kommentar einfach und wandte mich stattdessen grinsend an Cassandra. „Du würdest die drei mögen."

Ihre Augen funkelten.

„Hast du gerade drei gesagt?"

---

„Es ist ganz einfach, Feign", erklärte ich Calin unsere Idee. Ich war ganz in meiner Rolle als Hauptwachtmeister und er war nicht mehr als ein einfacher Wachmann.

Auch wenn er in der schwarzen Tunika echt ziemlich gut aussah.

„Du, McCourtney und Star begleitet mich und Hauptwachtmeisterin Sinigan zum jährlichen Cyrinnion, einem Event, das in Mavar Tradition ist. Wir reisen mit einer Kutsche ins städtische Grenzviertel, wo sich die Militärslager befinden und die Soldaten ausgebildet werden."

Calin hörte mir aufmerksam zu und nahm seine Augen nie von meinem Gesicht, auch wenn ich hätte schwören können, dass sein Blick von meinen Augen zu meinen Lippen schwankte, wenn ich gerade nicht zu ihm sah.

Idiot.

„Dann sehen wir uns an, was die Kandidaten zu bieten haben und wählen die besten von ihnen für die Armee, die Garde oder die Scharfschützenkavallerie aus. Innerhalb von einer Woche sind wir zurück, unversehrt und lebendig."

Ich wusste, dass dieser letzte Teil nur eine Hoffnung war, nach allem was gerade in der Welt schieflief, aber daran musste ich mich einfach klammern. 

Ansonsten würde ich in den tosenden Fluten der Realität untergehen.

Die Königin von Ascalin und der König von Synth waren zwei Bedrohungen, die man unter keinen Umständen unterschätzen sollte.

Calin grinste, weil er dachte, ich würde mich auf die Dächer der Stadt konzentrieren, die ich schon die ganze Zeit durch das weitläufige Fenster betrachtete.

Aber mir fiel sehr wohl auf, dass er sich darüber lustig machte, wie ich mein Anliegen formulierte.

Also stieß ich ihm den Ellenbogen in die Seite und drehte mein Gesicht, um ihn ernst anzusehen.

Es gelang mir nicht und ich musste lächeln.

In diesem Moment spürte ich Calins graues Charisma in meinem Körper und ich wollte ihm die Arme um den Hals schlingen und ihn küssen.

Aber ich lächelte ihn nur weiter an, während ich seine Macht in mir aufnahm und sammelte, bis ich schließlich genug davon in mir hatte, um sie gegen ihn einzusetzen.

„Also", murmelte ich, wobei ich eine seiner blonden Locken zwischen die Finger nahm und drehte. „Seid ihr dabei?"

Meine Stimme knisterte nur so vor Magie und ich fühlte sie auf meiner Haut wie den Schleim einer Schnecke.

Ich war nie gut im Schmeicheln gewesen, Charisma hin oder her.

Aber Calins Augen funkelten nur, das eine wie eine sternenklare Nacht, das andere wie eine frisch geteerte Straße voller Glitzer.

Emotionen standen in seinen Blick geschrieben, in dem ich lesen konnte wie in einem offenen Buch.

Bewunderung.

Zufriedenheit.

Und noch etwas anderes, das mir einen kalten Schauder über den Rücken jagte und über das ich besser nicht länger nachdachte.

„Eine Woche Zeit mit dir verbringen?", erwiderte er schließlich, wobei er ebenfalls seine Macht in seine Stimme legte.

Mein Magen kribbelte.

„Dazu könnte ich niemals nein sagen", antwortete er schließlich. „Aber was würde ich dafür bekommen?"

Ich zog eine Augenbraue hoch. 

Eine Bezahlung? Ich hatte ihn gebeten, eine Woche mit mir und Cassandra zum königlichen Cyrinnion zu fahren. War das nicht schon Bezahlung genug?

Aber Calin beugte sich zu mir herab und näherte seine vollen Lippen ganz nah an mein Ohr an. „Geh mit mir aus und Ivory, Lyane und ich begleiten euch beide zu diesem Wachenfestival."

Es war nicht wirklich ein Wachenfestival, sondern eher eine Art Auswahlzeremonie, aber das sagte ich ihm nicht.

Ich war viel zu beschäftigt damit, meine Möglichkeiten abzuwägen.

Idiot.

Entweder ich sagte zu und Lyane, Ivory und Calin würden uns begleiten, aber ich würde außerdem mit letzterem auf ein Date gehen müssen.

Oder aber Garry, Jenas und Elisandre würden mitkommen und ich müsste eine ganze Woche mit Hildegard verbringen.

Eigentlich war es keine schwere Entscheidung.

Ich lehnte mich vor, bis meine Lippen sein Ohr quasi berührten und flüsterte ihm meine Antwort ins Ohr, wobei ich die letzten Reste seines Charisma in die Worte fließen ließ.

„Dann haben wir einen Deal."

„Nein", widersprach er. „Wir haben ein Date."

Das war das letzte, was er sagen konnte, bevor die Welt explodierte.

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