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  Chandra glitt aus der Kutsche und schenkte uns ein strahlendes Lächeln, das auf meinem Körper aus mehreren Gründen eine Gänsehaut verursachte. Dann warf sie sich die Haare über die Schulter und schwebte zu uns herüber.

Oh, natürlich schwebte sie nicht wirklich, aber ihre Schritte waren so elegant und reibungslos, dass es aussah als würde sie über dem Boden gleiten.

Meine Lippen wurden schlagartig trocken und ich bekam keine Luft.

Wie sollte ich gegen sie ankommen?

Natürlich sah ich mit meinen dunkelbraunen Haaren, den Augen in einem saftigen Pinkton und der hellen Haut durchaus nicht schlecht aus, aber gegen Chandra O'Brian hatte ich keine Chance.

Verdammt, ich wusste nicht einmal, ob Jasmine gegen sie bestehen konnte und das obwohl sie wirklich gut aussah mit ihren kurzen dunklen Haaren, der ebenholzschwarzen Haut und den alles verschlingenden Augen in derselben Farbe.

Chandra spielte in einer ganz anderen Liga als ich und ich musste mich wirklich bemühen, sie nicht hübsch zu finden. Immerhin war sie Dominics Verlobte.

Und ich hätte gelogen, wenn ich gesagt hätte, dass mir das nichts ausmachte.

Chandra trug ihre kaffeebraunen Haare in lockeren Wellen um die Schultern, was die Konturen ihrer Wangen stark betonte. Ihre goldene Haut schimmerte ein wenig im matten Licht und verlieh ihr somit eine seltsame Aura, die fast bewirkte, dass sie... leuchtete. Sie trug kaum Make-Up und nur ihre vollen Lippen schimmerten in einem matten Roséton, während die Augen von – hoffentlich mit Wimperntusche verstärkten – pechschwarzen langen Wimpern umrahmt wurden.

Ihr Körper war meinem nicht ganz unähnlich: Mittlere Größe, schlank, aber dennoch eindeutig trainiert. Der einzige Unterschied war, dass sie viel mehr Kurven an den richtigen Stellen hatte als ich. 

Das goldene Kleid funkelte und umschmeichelte ihre Figur ebenfalls, was für mich den Eindruck einer arabischen Prinzessin verstärkte. 

Oder einer Göttin der Sonne.

Auffälliger Goldschmuck schimmerte in Form eines Colliers zwischen ihren Schlüsselbeinen, mehrere Ringe glitzerten an ihren Fingern und in den kaffebraunen Haaren, die ihr bis zur Hüfte reichten, steckte ein teurer Kamm, der über und über mit Strasssteinen verziert war.

Und dann waren da noch die Augen.

Ich legte immer viel Wert auf die Augen einer Person. 

Sie konnten Gefühle, Magie und Herkunft preisgeben, wenn man nur wusste, wo man suchen musste.

Und oh, diese Augen waren mehr als nur einfache Augen.

Es waren Augen wie geschmolzene Schokolade und Blattgold und ein Sonnenuntergang in einer anderen, viel wunderbareren Welt als der unseren. Augen, die Wärme ausstrahlten und mir trotzdem einen kalten Schauder über den Rücken jagten. Augen, die Kälte ausstrahlten und mich trotzdem schwitzen ließen.

Dunkelbraune Augen, die über und über mit goldenen Sprenkeln durchzogen waren.

Augen einer Wüstenprinzessin.

Aber nicht die Farbe der Augen war es, die mir eine Gänsehaut verpasste.

Sondern die Macht, die darin lauerte.

Die Existenz der fremden Magie war für meine Übertragungsmagie so greifbar wie ein Apfel auf einem einfachen Silbertablett und dennoch schien sie seltsam entfernt.

Es fühlte sich an als würden tausende kleine eiskalte und feuerheiße Nadeln gegen meine Haut stoßen und mir ein goldenes Tattoo stechen, das mich mein Leben lang begleiten würde. Die Luft um mich herum nahm sogar eine Art goldenen Geschmack an, den ich nicht wirklich definieren konnte.

Das einzige, was ich wirklich sicher sagen konnte, war, dass diese goldene, glänzende Aura das stärkste war, das ich je an Elementarmacht gefühlt hatte.

Stärker als ich oder Spencer oder Dominic oder Cassandra oder Finn.

Stärker als eine erwachsene Savannah Queens, deren Wassermagie für eine Zwölfjährige bereits jetzt ein enormes Ausmaß hatte.

Stärker als Jasmine und vielleicht sogar stärker als der König von Synth.

Dieser letzte Gedanke war nur eine verzweifelte Hoffnung, an die ich mich klammern musste, um nicht vollständig aufzugeben.

Ich fragte mich, ob Chandra es zu gegebener Zeit vielleicht mit meinem Erzfeind aufnehmen konnte: Merillas Bruder.

Ich fragte mich außerdem, welche Art von Magie eine goldene Färbung hatte. 

Blau stand gewöhnlicherweise für Eis oder Wasser, ganz selten für Feuer, für welches eher eine Rotfärbung typisch war. Elektrizität und Natur waren grün, Metall grau, Zeit violett, Schatten schwarz und Luft weiß, während meine eigene Übertragungsmacht sich meist in Pink oder Magenta zeigte. Die Magie eines Synthers war zudem meist ebenfalls grünlich, egal welche Art von Begabung er besaß.

Aber Gold? Keine Macht, von der ich gehört hatte, machte sich mit einer Goldfärbung bemerkbar.

Andererseits war Scyvrar bekannt für seine Eigenarten und Außergewöhnlichkeiten.

Chandra schritt nun auf mich zu, nachdem sie alle anderen mit einem Händeschütteln begrüßt hatte, und streckte mir lächelnd die Hand entgegen. Ich musste die Zähne zusammenbeißen, als ich das Lächeln erwiderte.

Normalerweise hasste ich falsches Lächeln, aber je länger ich hier im Palast lebte, desto mehr schien es mir an manchen Stellen nötig, meine wahren Gefühle mit einer Maske zu überdecken.

Ich war langsam ein Teil des Puppenspiels geworden, als das ich den Palast früher immer betrachtet hatte. Meine Maske saß mit jeder Sekunde perfekter und nur wenige Leute blickten dahinter.

Ich war stolz auf diese perfekte Fassade, aber genauso machte sie mir auch Angst.

Wer war ich überhaupt noch, jetzt wo ich nicht mehr Aria Pencur, die Straßendiebin, war? 

War ich jetzt Aria Pencur, die Hauptwache?

Diese Frage stellte sich mir mit einem ordentlichen Bündel weiterer Gedanken, die dadurch einhergingen. War ich überhaupt noch ich? Oder waren meine perfekte Maske und ich bereits eins geworden? Wenn ich in den Spiegel schaute, was sah ich darin? Sah ich mich oder sah ich eine Fremde?

Ich wusste es nicht.

Und dieser Gedanke jagte ein Zittern durch meinen Körper, wie ich es lange nicht gespürt hatte.

Prinzessin Chandra schien davon jedoch nichts zu bemerken. Sie lächelte mich nur noch strahlender an und forderte mich stumm dazu auf, ihre Hand endlich zu ergreifen.

Erneut zögerte ich. War ich dafür bereit? Für dieses Ausmaß an goldener Magie? Oder würde mich diese Berührung überwältigen?

Einmal hatte Savannah Queens Wassermagie mich fast das Bewusstsein verlieren lassen. 

Ihre Macht war damals unbeherrscht gewesen und ich hatte ihr helfen müssen, die Kontrolle zu gewinnen, aber dennoch musste ich bei dem Gedanken an den immensen Kraftaufwand immer noch ein Schaudern unterdrücken.

Die Situation ähnelte der Begegnung mit der Wüstenprinzessin zwar nicht im Geringsten, aber ich entschied mich trotzdem dagegen, ihre ausgestreckte Hand zu ergreifen.

Stattdessen trat ich einen vielsagenden Schritt zurück und neigte respektvoll den Kopf. „Es ist mir eine Ehre, Eure Majestät."

Chandra schenkte mir nur ein weiteres Lächeln, auch wenn ich diesmal ein verärgertes Glitzern in ihrem Blick bemerkte. 

Ich dachte schon, das Glück wäre einmal auf meiner Seite und die Cylterin würde einfach weitergehen.

Tja, falsch gedacht.

„Nein, es wäre mir eine Ehre gewesen, deine Hand zu schütteln, Wachtmeisterin. Und jetzt sollte es dir eine Ehre sein, dass ich überhaupt noch mit dir spreche." Chandra warf mir einen weiteren bösen Blick zu, unter dem ich erneut den Kopf neigte.

„Verzeiht mir, Eure Majestät."

„Ich sehe keine Grund für Vergebung ohne Rechtfertigung."

Ich schluckte, unsicher, was ich antworten sollte. 

Ich hatte zwei Möglichkeiten.

Entweder ich erzählte ihr von meiner Übertragungsmagie und von meinen Schwierigkeiten, diese zu beherrschen.

Oder aber ich schwieg und sie wäre wütend auf mich, was wohl keine gute Voraussetzung für ein erstes Treffen war.

Andererseits war sie die Verlobte des Mannes, den ich liebte. 

Wie viele gute Voraussetzungen wären nötig, um überhaupt ein erträgliches Gefühl bei mir zu hinterlassen?

„Und ich sehe keinen Grund zur Rechtfertigung", sagte ich.

Ich bereute die Worte, sobald sie meinen Mund verlassen hatten.

„Ohoooo", flötete Chandra. „Sieh mal einer an, die Wachtmeisterin hat Feuer unterm Hintern!"

Sie schenkte mir ein aufrichtiges Lächeln. „Deine Ehrlichkeit gefällt mir. Ich wäre erfreut, dich heute Abend an der Speisetafel vorzufinden. An deinem zukünftigen Platz neben mir."

Mein Unterkiefer klappte vor Schock und Überraschung nach unten. 

Ich sollte ab sofort neben Chandra sitzen? Für wie lange? 

Aus welchem verdammten Grund?

Als die Prinzessin weiterging und mir noch ein letztes Lächeln schenkte, konnte ich nur überfordert zusehen. Die Cylterin hatte diesen Kampf gewonnen, bevor er richtig angefangen hatte.

Ich neben Chandra? Das konnte kein gutes Ende nehmen.

Andererseits schien sie mich doch irgendwie zu mögen, oder nicht? Und ich war vermutlich eine... abwechslungsreiche Gesellschaft für sie?

Zu dumm, dass ich dasselbe nicht von ihr behaupten konnte.

Ich kannte Prinzessin Chandra O'Brian von Cyltis erst seit wenigen Minuten, aber ich war mir sicher, dass wir keine Freundinnen werden würden.

Allerdings hatte ich einst genauso auch über Jasmine Wyatt gedacht.

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Die Besenkammer war klein und schmutzig.

Staub hatte sich auf jeder offenen Ablagefläche niedergesetzt und ganze Flöckchen und Knäuel gebildet, die die Luft zu verseuchen schienen. 

Die kleine Kammer in einem der verwinkeltsten Ecken von ganz Neun Rosen war in einem seltsamen Farbton gestrichen, der irgendwo zwischen grau und hellblau lag. 

Die Farbe blätterte von den Wänden und auf den schlichten Eisenregalen, die so instabil wirkten als wären sie aus Zahnstochern gefertigt, lagen diverse Dinge, von denen niemand überhaupt wusste, dass sie existierten.

Staubwedel, die ironischerweise im Staub zu ertrinken schienen; leere Schnupftabackdosen, die vermutlich älter waren als ich; hässliche Bilderrahmen, von denen man nicht mehr erwarten konnte, ein Bild angemessen zu präsentieren; ein stinkender Lappen, den man besser nicht genauer ins Auge nahm; verrostete Nägel und ein abgestumpfter Hammer und noch viel mehr unnützes Zeug, das hier vergessen worden war und nun verrottete, weil der Raum selbst ins Vergessen geraten war.

In diesem Moment war ich sehr froh darüber, dass ich keine Allergie gegen Hausstaubmilben hatte, denn ansonsten wäre ich bereits tot gewesen, als ich die Tür geöffnet hatte. Dennoch bemühte ich mich, möglichst flach zu atmen und nicht zu viel von der staubigen Luft in meine Lunge aufzunehmen.

Ich wurde gegen einen Besen gestoßen, der in einer der Ecken gelehnt hatte und der Besenkammer anscheinend ihren Namen gab. Außer diesem einen gab es nämlich keinen weiteren in dem kleinen Raum, der mit Glück zwei Quadratmeter maß. 

Die Hälfte des Platzes war mit Regalen vollgestellt.

Die Tür fiel ins Schloss und ließ den Raum im Dunkeln zurück, doch das störte mich nicht. Ich hatte keine Angst vor der Dunkelheit und selbst wenn, wäre in meiner Brust kein Platz dafür gewesen.

Der Ärger und die Geborgenheit erfüllten mich vollständig.

Geborgenheit, weil sich ein warmer, starker Körper gegen meinen drückte. 

Unter anderen Umständen hätten wir diese Situation vielleicht vermieden, aber nicht wenn der Flur voller Adeliger – cyltischer wie mavarischer – war und uns die Besenkammer das einzige bisschen Privatsphäre gönnte.

Ärger, weil die Person, deren Körper sich so richtig an meinem anfühlte, so ein verdammter königlicher Idiot war.

Innerlich seufzte ich. 

Er tut das Richtige, Aria, ermahnte mein Gewissen mich.

Und ich wusste natürlich nach wie vor, dass es so war. 

Aber meine Wut war stärker als meine Vernunft.

„Wir haben diese Unterhaltung doch jetzt schon so oft geführt, Dominic", fuhr ich ihn an, wobei ich versuchte, mich nicht allzu sehr von der Wärme seiner Nähe ablenken zu lassen.

Ich spürte, wie er sein Gewicht verlagerte, konnte aber nicht ausmachen, ob er mir dadurch näher kommen wollte oder sich entfernte.

Es sollte mir egal sein, aber das war es natürlich nicht.

Wie könnte es auch?

„Ich weiß, Aria", seufzte er mit seiner tiefen Stimme, die mir eine Gänsehaut verpasste. Oder vielleicht war es auch sein Atem, der meine Stirn berührte wie ein zarter Finger. 

Ich schauderte.

„Und ich habe mir trotzdem viele Gedanken gemacht. Wie du auf den heutigen Tag reagieren würdest, wie ich selbst reagieren würde. Teile von mir haben sich gewünscht, dass ich mein Schicksal, meine Pflicht einfach akzeptieren könnte. Dass ich sie lieben und heiraten könnte."

„Aber das kannst du nicht", ergänzte ich seinen Satz.

„Noch nicht", gestand er, erneut seufzend. „Aber ich werde. Ich werde lernen, sie zu lieben und ich werde sie heiraten, genau wie meine Pflicht als König von Mavar es von mir fordert. Cyltis ist ein mächtiger Verbündeter und wenn wir eines der Inselreiche auf unserer Seite haben, schließt sich vielleicht auch Riadna an."

Ich stieß den Atem aus, den ich anscheinend angehalten hatte. 

„Ich weiß. Ich verstehe dich. Ich verstehe dich wirklich", sagte ich. 

Dann schluckte ich meine Emotionen hinunter und fokussierte mich erneut auf das Geräusch seines Atems. Das Gefühl seines schlagenden Herzens, das so nahe an meinem Schlüsselbein ruhte, dass ich mich fragte ob eine der scharfen Scherben aus dem Trümmerhaufen in seiner Brust springen und meine Kehle zerfetzen würden.

Ich atmete tief ein, um den Gedanken zu verdrängen und blickte fokussiert in die Dunkelheit vor mir, wo ich seine Augen vermutete. „Aber du musst auch mich verstehen. Es fällt mir nicht leicht, sie hier einfach mit offenen Armen willkommen zu heißen. Vielleicht liegt es an meiner natürlichen Paranoia als Straßendiebin, vielleicht liegt es an etwas anderem, aber ich vertraue ihr nicht."

Dominic lachte. Ein ehrliches leises Glucksen, das für ihn so typisch war. „Sicher, dass es an deiner ‚Paranoia als Straßendiebin' liegt, dass du etwas gegen Chan hast?"

Die Tatsache, dass er sie Chan genannt hatte, führte dazu, dass ich mit den Zähnen knirschte. Ich wusste, dass er es hörte, obwohl er sich nichts anmerken ließ.

Es machte mich nur noch wütender.

„Du weißt genau, dass es nicht nur daran liegt."

Und das tat er. Dominic musste blind, taub und dumm sein, wenn er nicht bemerkt hatte, was ich für ihn empfand. 

Zur Hölle, ich wusste sogar mit Sicherheit, dass er exakt dasselbe für mich fühlte, auch wenn keiner von uns beiden es je gewagt hatte, die Worte auszusprechen.

Es war nie „Ich hab dich lieb, Aria" oder „Ich hab mich in dich verliebt, Dominic" und erst recht nicht „Ich liebe dich".

Das Happy-End gab es nämlich immer nur in der Fantasie und in Büchern, nie aber im echten Leben.

Stattdessen war es immer nur „Du bist mir wichtig, Aria" und dann „Du mir auch, Dominic".

„Ja das weiß ich", murmelte der König. Seine Stimme war auf einmal belegt und ich war mir ziemlich sicher, dass es nicht vom Staub kam.

Er holte tief Luft und ich spürte, wie sich seine Brust hob und senkte.

In diesem Moment war ich sehr dankbar für die Dunkelheit, da ich mit Sicherheit so rot angelaufen war, dass mein Gesicht jeder Tomate Konkurrenz machen konnte.

Ich atmete ebenfalls tief ein, um meinen rasenden Puls zu beruhigen. 

Sein atemberaubend frischer Duft stieg mir in die Nase. Minze und Zitrone.

Wie ein frischer Sommertag, an dem eine sanfte kühle Brise über eine saftig grüne Wiese am Ufer eines Sees strich.

Ich bemühte mich bei diesem Gedanken erneut, meinen Atem gleichmäßig zu halten, auch wenn ich wusste, dass ich kläglich versagen würde.

Ich hätte schwören können, dass er lächelte.

Idiotischer verwöhnter Mistkerl!

Was hatte ich mir auch nur dabei gedacht, mich in gerade ihn zu verlieben? Hatte ich mir keine Gedanken über Konsequenzen gemacht? Über mögliche Konflikte?

Wie zum Beispiel eine politische Heirat?

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der wir einfach nur so dastanden und atmeten, beide darauf konzentriert, die eigenen Gefühle zu sortieren, ergriff Dominic schließlich erneut das Wort, seine Stimme heiser und mit einem Hauch von Bedauern: „Ich kann es nicht ändern. Wenn du jemand anderes wärst, dann-"

Doch ich ließ ihn nicht ausreden. Ich wollte nicht wissen, was „dann" gewesen wäre, weil mich das „wenn" bereits wieder auf die Palme gebracht hatte.

„Wenn ich jemand anderes wäre? Du meinst, wenn ich eine beliebige Adelige wäre, hätte es anders kommen können?" Ich stieß ein bitteres, harsches Lachen aus. „Oh nein, Dominic. Es hätte niemals gereicht, wenn ich eine Adelige wäre oder eine Gräfin oder Fürstin oder Herzogin. Denn du bist der König. Und ein König gehört zu einer Königin." 

Ich musste mich wirklich bemühen, ihn nicht anzuschreien, so wütend machte mich der Gedanke.

Und dabei wusste ich eigentlich, dass nichts davon seine Schuld war, dass nichts davon auch nur in irgendeiner Hinsicht mit ihm zusammenhing.

Aber das einzugestehen wäre ein steiniger Weg gewesen, der mein kummervolles Herz mit Schrammen und Narben überzogen hätte. Es wäre ein Weg durch Leid und Tränen, durch Schweiß und Blut gewesen, den ich nicht bereit war zu gehen.

Stattdessen verwandelte ich meine Trauer, meinen unendlichen Schmerz in tosende Wut, giftige Eifersucht und kalte Gleichgültigkeit. Ein Mix aus rot und grün und blau, der sich in meinem Inneren zu einem hässlichen Schwarz, zu einer grauenvollen Dunkelheit vermischte, die sich nur als blanker Zorn beschreiben ließ.

Und obwohl er nichts mit all diesen Gefühlen zu tun hatte, war er dennoch mein Ventil. 

Er war hier und ich war bereit, meine Wut, meine Eifersucht, meinen Zorn an ihm auszulassen und ihm die Scherben meines gebrochenen Herzens in sein eigenes unschuldiges Herz zu stoßen, bis es zersprang.

Ich wollte den langen Weg durch mein ewiges Leid ertragen, doch ich konnte mich nicht dazu überwinden, den dunklen Pfad zu betreten und den ersten Schritt in die richtige Richtung zu machen. Stattdessen wählte ich den einfachen Weg.

Ich wählte den verdammten einfachen Weg, wie ich es immer getan hatte.

Feigling, flüsterte meine innere Stimme. Idiotin.

Aber ich ließ diese kleine Stimme im hintersten Winkel meines Herzens verrotten und schenkte ihr keinerlei Beachtung.

Ich atmete ein weiteres Mal aus und spürte, wie ich nun am ganzen Körper vor unkontrollierbarer Wut zitterte. „Aber ich bin nunmal keine Königin. Ich bin keine Prinzessin, weder von Cyltis, noch von Riadna, noch von Vinder oder Ascalin oder Synth. Würde ich auch gar nicht sein wollen, ehrlich! Stell dir doch mal vor: Ich, Königin von wo-auch-immer-hausen. Hab schon bessere Witze gehört."

Ich wusste, dass meine Nachricht ihn längst da erreicht hatte, wo es am meisten wehtat, aber ich hörte trotzdem nicht auf. 

Denn ich war lange nicht fertig. 

„Ein kleines Krönchen auf dem Kopf, ein hübsches Kleid in meiner Lieblingsfarbe und am besten eine Kette aus Blumen! Aber nein, Dominic. Ich bin keine Königin oder Prinzessin oder auch nur irgendeine unbedeutende Adelige: Ich werde nie eine Krone tragen oder in Champagner baden."

Und ich wusste, dass ich ihm jetzt die Wahrheit sagen könnte. Dass ich ihm die Wahrheit sagen sollte. 

Dass ich ihm sagen sollte, dass ich adeliges Blut in mir trug; dass meine Eltern ein synthischer Lord und eine synthische Lady waren, mit nicht gerade wenig Einfluss; dass ich nicht die einfache Straßendiebin war, für die mich alle hielten.

Aber das tat ich nicht. Stattdessen erzählte ich ihm nur das, von dem ich wollte, dass er es wusste.

„Die bittere Wahrheit ist, dass ich nichts weiter bin als eine räudige Straßendiebin, die sich ihren Lebensunterhalt viele Jahre dadurch verdient hat, die Habseligkeiten von anderen Leuten zu verkaufen. Vielleicht war ich gut in dem, was ich tat, aber ich war nie mehr als das. Eine Straßenratte. Eine von dem ganzen Abschaum, der in der Stadt lebt. Eine Außenseiterin. Eine Nicht-Königin, Eure Hoheit."

Die letzten Worte spuckte ich ihm quasi ins Gesicht, so viel Gift und Wut legte ich in meine Stimme. 

Ich konnte spüren, wie er merklich zusammenzuckte und hatte sofort Gewissensbisse. Er konnte schließlich immer noch nichts für mein armseliges Schicksal.

Aber dann bemerkte ich die Leichtigkeit, die sich um mein Herz herum ausgebreitet hatte, jetzt da ich meine Gefühle endlich nicht mehr unterdrückte.

Nach einer sehr langen Weile – vielleicht eine Minute oder zwei – räusperte er sich. 

„Ich weiß", flüsterte er. „Und wenn es irgendwie anders funktioniert hätte... wenn vielleicht ich ein anderer Mensch wäre oder wenn Königin Ashay mir nicht dieses Angebot bereitet hätte, ihre Tochter zu heiraten, das ich unmöglich abschlagen konnte... wenn... vielleicht wäre dann alles so gekommen, wie du es verdient hättest. Vielleicht könnten wir zusammen sein. Der König und die Meisterdiebin."

Ich schluckte. 

Diese wenigen Worte bedeuteten mir die Welt. 

Ich spürte die vertraute Geborgenheit in mir aufsteigen und hieß sie mit offenen Armen willkommen, damit sie meine Wut erstickte.

„Aber so ist es nicht", fügte Dominic hinzu. 

Jetzt hörte ich eindeutig Bedauern in seiner Stimme, aber auch Kummer und Trauer – so viel Trauer. 

Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich fast gedacht er würde weinen.

Aber die Dunkelheit machte es unmöglich, sein Gesicht zu erkennen. 

Außerdem weinte der König von Mavar nicht. Zumindest nicht vor seiner Hauptwachtmeisterin.

„So ist es nicht", wiederholte ich. Auch meine Stimme war leise und belegt, rau und heiser, voller Emotionen und voller Worte zwischen den Worten, die ich nicht aussprechen konnte.

„Glaub mir, Aria", flüsterte Dominic. „Wenn es für mich irgendeine Möglichkeit gäbe, diese Situation zu ändern, würde ich es tun. Egal zu welchem Preis und selbst wenn ich dafür mein Königreich aufgeben müsste. Aber es ist nunmal meine königliche Pflicht."

Scheiß auf die königliche Pflicht, wollte ich ihm sagen, bevor ich ihn an der Tunika zu mir ziehen würde und ihn küsste. 

Aber das tat ich nicht, denn er hatte recht. 

Er war der König, also musste er auch endlich wie einer handeln.

„Verurteile mich nicht dafür, wer ich bin, Aria."

Als er das gesagt hatte, packte ich seine Schultern mit den Händen und drehte mich mit ihm zusammen um die eigene Achse, bis wir seitenverkehrt standen: Ich an der Tür und er an der Wand.

Dann griff ich nach der Türklinke und drückte sie nach unten.

„Ich verurteile dich nicht dafür, wer du bist", flüsterte ich. „Aber ich verurteile dich für das, was du bereit bist dafür aufzugeben."

Mit diesen Worten verließ ich die Besenkammer.

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