33
Zwei Wochen später starrte ich regungslos auf die hölzerne Tür vor mir, die mit dem Slogan „Prinzessin sein hat seine Vorteile" beschriftet war.
Meine Hand zitterte leicht, als ich die beiden Dietriche aus der Tasche meiner schwarzen Jeans holte und einen Schritt näher an die Tür herantrat.
„Denkst du wirklich, dass wir etwas finden?", fragte Cassandra, die hinter mir an der Wand lehnte. „Ich meine... Blair scheint nicht gerade diejenige gewesen zu sein, die einfach ihre finstersten Pläne auf dem Schreibtisch liegen lässt."
Ich zuckte mit den Achseln, während ich einmal tief durchatmete, um mich so gut wie möglich zu entspannen und meine Bewegungen dadurch perfekt kontrollieren zu können.
Es kostete mich weniger als eine Minute, das Schloss zu knacken und die Dietriche wieder in meiner Jeanstasche verschwinden zu lassen.
„Ich weiß es nicht", beantwortete ich die Frage meiner Freundin, während ich mich zu ihr umdrehte. „Aber ich wette, dass wir das gleich herausfinden werden."
Die Seherin nickte entschlossen und stieß sich von der Wand ab. „Wann immer du so weit bist."
Langsam öffnete ich die Tür.
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„Wonach suchen wir überhaupt?"
„Ich weiß nicht genau", log ich sie an. „Ein Notizbuch, ein Geheimgang, ein Tagebuch oder so. Irgendetwas, das uns weiterhelfen könnte."
„Haha. Sehr witzig. ‚Irgendetwas, das uns weiterhelfen könnte'?", äffte Cassandra mich nach. „Wir haben in den letzten zwei Stunden nichts gefunden, was uns auch nur irgendwie helfen könnte."
Ich seufzte und stieß die Schublade der Kommode zu, die ich gerade durchsucht hatte.
Cassandra und ich arbeiteten uns jetzt seit einer gefühlten Ewigkeit durch die ehemalige Suite der Prinzessin, die seit ihrem Tod verlassen und unberührt im Mädchenturm dalag.
Wir hatten das weitläufige Wohnzimmer, die riesige Küche und auch den gesamten Balkon, der fast schon die Größe einer Dachterrasse hatte, durchsucht.
Es war wirklich ziemlich frustrierend, dass wir immer noch nicht den kleinsten Funken gefunden hatten, den wir dazu verwenden könnten, um das benötigte Feuerwerk zu entfachen.
Auch das Schlafzimmer und der angrenzende überdimensionale Kleiderschrank schienen auf den ersten Blick nichts von Belang herzugeben.
Auf den ersten Blick.
Ich wusste nicht genau, was es war, aber irgendetwas an dem geräumigen Himmelbett mit den roten Vorhängen, die von dunkelgrauer Spitze abgerundet wurden, an den symmetrisch angeordneten Kommoden aus Ebenholz und an dem goldenen Kronleuchter, der von der Decke hing, störte mich.
Da war ein Kribbeln auf meiner Haut, das nichts mit der Kälte zu tun hatte, die durch das offene Fenster in das verlassene Schlafzimmer strömte. Ein Gefühl, das bewirkte, dass all meine Haare zu Berge standen.
„Such einfach weiter", forderte ich Cas auf, während ich die nächste Schublade aufzog, die mit Spitzenunterwäsche gefüllt war.
Ich verdrehte die Augen, als ich begann, mich durch die schwarzen, weißen und roséfarbenen Stoffe zu wühlen, auf der Suche nach diesem merkwürdigen Tagebuch, das mir nicht mehr aus dem Kopf ging.
Ich mochte zwar tot gewesen sein, aber ich war mir sicher, dass ich mir Blairs Gestalt nicht einfach eingebildet hatte, als sie mich vor den Geisterdämonen gerettet hatte.
Genau so wenig wie ihre Worte.
Wenn du Antworten suchst, lies einfach mein Tagebuch, okay?
Was hatte mir die Prinzessin nicht erzählen können? Was verbarg sie vor mir?
Ich helfe dir, weil du mich von allem erlöst hast, hatte sie gesagt.
Erlöst.
Nicht getötet.
Erlöst.
Was war mit Blair geschehen, dass sie den Tod als Erlösung betrachtet hatte? Was hatte man ihr angetan?
Und viel wichtiger: Wer hatte ihr das angetan?
Samuel?
Königin Asaylle?
„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen du würdest Frauenunterwäsche jetzt plötzlich attraktiv finden", hörte ich eine klare, perlende Stimme zu meiner Linken und einen Augenblick später erschien Jasmine Wyatt, deren hochgewachsener, schlanker Körper sich blitzschnell aus Schatten zusammenfügte.
Manchmal erinnerte mich die Gabe meiner Freundin unheimlich an Kayas Macht.
„Tut mir leid, dass ich erst jetzt hier aufkreuze", rechtfertigte sich die Meisterin der Finsternis. „Es gab da ein kleines Problem mit... ach vergesst es einfach, ihr wollt es nicht hören."
Ich grinste, als sie angewidert die Nase rümpfte.
„Du hast nicht viel verpasst. Wir haben absolut nichts Brauchbares gefunden", meinte Cassandra genervt. „Naja außer Blairs Spitzenunterwäsche."
Die Seherin zeigte bei der letzten Bemerkung mit dem Daumen über die Schulter zu mir, was mir einen zweiten amüsierten Blick von Jasmine einheimste, auf den auch ein passender Kommentar folgte. „Du weißt, dass das einen ganz falschen Eindruck macht, wenn du in Damenunterwäsche stöberst als wäre es ein Messersortiment?"
„Weißt du, wie viele Diebe ihre Beute in der eigenen Unterwäsche verstecken?", fragte ich.
„Das klang fast, als würde da jemand aus Erfahrung sprechen", entgegnete Jasmine provokant schmunzelnd.
„Wenn würde ich es dir nie erzählen", schoss ich zurück.
Jasmine schnaubte und legte ihren Kopf schief, wodurch ihre kinnlangen Haare fast ihre linke Schulter berührten. „Wenn ich auch das nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass das Antwort genug war."
Ich schüttelte nur lächelnd den Kopf, während ich damit fortfuhr, die Schublade zu durchsuchen. „Zum Glück weißt du ja immer alles besser."
„Zum Glück weiß ich es besser", bestätigte die Schattenmeisterin, während sie sich einem kleinen Schränkchen zuwandte, das an der Wand hing.
„Wenn wir gerade dabei sind", warf Cassandra von ihrer Position innerhalb des riesigen begehbaren Kleiderschranks ein. „Wo versteckt man seine Beute, wenn es nicht die eigene Spitzenunterwäsche ist?"
Ich ging im Stillen alle Orte durch, an denen ich jemals Münzen, Juwelen oder Materialien gelagert hatte, mit denen ich jene stehlen konnte.
Mein Gehirn ratterte diverse versteckte Schubladen und lose Bodendielen ab, aber mir fiel nicht viel besonderes ein.
„Wenn ich hier leben würde, dann würde ich mein Tagebuch vielleicht als ein normales Buch tarnen und in ein Regal stellen. Oder ich würde es in einen extra-geheimen Safe sperren, den niemand jemals finden würde. Oh, oder ich würde es ganz standardmäßig unter der Matratze verstecken, auch wenn da natürlich sofort jemand nachsehen würde, weil das viel zu offensichtlich wäre", antwortete ich und drehte mich zu meinen Freundinnen um.
Cassandra starrte mich an.
Ich starrte nur zurück, als mir die Ironie der ganzen Sache auffiel.
„Haben wir unter der Matratze nachgesehen?"
Ich presste die Lippen aufeinander und schüttelte leicht den Kopf, von meiner eigenen Dummheit überrascht.
Wie hatten wir nur nicht unter der Matratze nachsehen können?!
Jasmine verdrehte die Augen und stieß sich von der Wand ab, an der sie gelehnt hatte.
„Manchmal habe ich echt das Gefühl, ihr beide könnt gar nichts", stöhnte sie genervt und stolzierte zu dem großen Himmelbett hinüber, das in der Mitte des weitläufigen Schlafzimmers stand.
Cas und ich folgten ihr langsam.
Mein Herz schlug schneller.
„Packt mit an. Diese Matratze ist verdammt schwer", forderte uns Jasmine auf, wobei sie bereits unter ein Eck griff.
Mit zitternden Händen tat ich es ihr auf der gegenüberliegenden Seite gleich, während Cassandra an einem dritten Punkt anpackte.
Mit vereinten Kräften war es einfach, die schwere Matte vom Lattenrost zu heben und den Blick auf das freizulegen, was sich darunter befand.
Ein kleines, schwarzes Büchlein mit einem Einband aus Leder.
Blairs Tagebuch.
Ich keuchte am lautesten, auch wenn ich die einzige war, die gewusst hatte, was uns erwartete.
Oder eben gerade deshalb.
Das bedeutete, dass ich mir meine Unterhaltung mit Blairs Geist oder was auch immer es war... dass ich mir diese Unterhaltung nicht nur eingebildet hatte.
Es bedeutete, dass ich wirklich gestorben war.
Meine Finger zitterten mehr als jemals zuvor in meinem Leben, als ich sie um das in Leder gebundene, kleine Buch legte und es so vorsichtig hochhob, als wäre es eine Schneeflocke, die bei der leichtesten Berührung schmelzen würde.
Mein Herz schlug so schnell in meiner Brust, dass ich ernsthaft Angst bekam, es würde gleich herausspringen und pochend auf dem Boden landen.
Ich schloss langsam die Augen und stieß meinen Atem aus, um mich irgendwie zu beruhigen.
Der Inhalt dieses Tagebuchs konnte das Schicksal von Mavar mit wenigen Worten verändern, konnte schneller einen Krieg auslösen, als ein direkter Angriff auf den gegnerischen Königshof es geschafft hätte.
Ich schlug das Buch auf.
Ich hörte, dass Jasmine und Cassandra den Atem angehalten hatten und sich gespannt hinter mir aufstellten, um beide einen guten Blick über meine Schulter zu haben.
Um die seltsamen Worte ebenfalls lesen zu können, die in einer schönen, geschwungenen Handschrift auf dem cremeweißen Papier geschrieben standen.
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Vielleicht ist es ein Klischee, ein Tagebuch zu führen.
Vielleicht ist es einfach nur reine Zeitverschwendung.
Vielleicht ist es auch dumm, meine Gedanken so offensichtlich aufzuschreiben, dass jeder sie lesen und verstehen kann.
Aber ich denke, dass es wichtiger ist denn je, meine Geheimnisse mit jemandem zu teilen, selbst wenn dieser jemand nur ein kleines, schwarzes Buch ist, das ich unter meiner Matratze verstecken werde.
Ich kann mit niemandem sonst darüber sprechen.
Mein Bruder würde es nicht verstehen und meine Mutter hat mit ihren vielen Pflichten als Königin so viel um die Ohren, dass ich ihre Zeit nicht mit meinen kindischen Problemen verschwenden möchte.
Ich kann niemandem sonst vertrauen.
Ich höre diese Stimmen in meinem Kopf, die dort nicht hingehören.
Ich sehe Dinge, die nicht Wirklichkeit sind. Ich fühle sie, fast als wären sie echt.
Ich glaube, ich werde verrückt.
Heute hat sich mein bestes rotes Kleid, das ich eigentlich immer geliebt habe, weil die weiche Seide meine Figur perfekt betont...
Es hat sich angefühlt wie flüssiges Blut, das meinen Körper umfließt. Kalt und klebrig.
Vielleicht sind es nur irgendwelche Wahnvorstellungen, die mein Gehirn mich sehen lässt, weil es ihm Spaß macht.
Aber irgendetwas sagt mir, dass es etwas Größeres ist. Etwas durch und durch Böses und Schreckliches.
Ich wünschte nur, ich könnte jemandem davon erzählen, ohne für verrückt erklärt zu werden.
Ich sehe Dinge.
Ich höre Dinge.
Ich fühle Dinge.
Ich werde verrückt.
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Damit endete der erste Eintrag, den Prinzessin Blair in ihr Tagebuch geschrieben hatte.
Ich stieß zitternd meinen Atem aus, als ich die Worte verarbeitet hatte.
Ich helfe dir, weil du mich von allem erlöst hast.
Erlöst von dem Wahnsinn, der sich in Blairs Kopf gebildet hatte? Von dem Wahnsinn, dessen Ursprung sie nicht gekannt hatte und der sie vielleicht auch zu diesen ganzen schrecklichen Dingen getrieben hatte, die sie getan hatte?
Vorsichtig blätterte ich um, sodass der Blick auf den nächsten Eintrag freigelegt wurde, der zwei Monate später verfasst worden war.
Jasmine und Cassandra schwiegen bedrückt, als würden sie beide dasselbe denken wie ich.
Was war mit Blair geschehen?
Ich schluckte, als ich meinen Blick erneut auf die beschriebene Seite richtete, die zu verschwimmen drohte, wenn ich mich nicht voll und ganz darauf konzentrierte.
Ich begann zu lesen und bekam eine Gänsehaut.
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Blut.
Ich sehe Blut.
So viel rotes Blut, das diesen metallischen Geruch verströmt, der mir so gut zu gefallen scheint, obwohl ich ihn hasse.
Ich hasse das Blut, hasse die Gewalt, die sie mich sehen lassen.
Ich hasse diese Stimme in meinem Kopf, die mir finstere Sachen zuflüstert und der ich nur noch mit viel Kraft widerstehen kann.
Ich will nicht töten, aber wenn diese Stimme mit mir spricht, wenn ich diese Bilder sehe, die sie mich sehen lassen...
Ich bin nicht mehr ich selbst.
Ich spüre, wie es mich langsam von innen heraus zerstört, fühle, dass mein Herz diese Folter nicht mehr lange aushalten wird.
Sie lassen mich Hass fühlen, lassen mich Wut fühlen.
Sie lassen mich nach dem Messer an meiner Hüfte greifen, wenn ich meine Mutter sehe.
Ich liebe meine Mutter. Ich liebe sie wirklich.
Aber langsam habe ich Angst, dass sie nicht mehr sicher vor mir ist.
Dass niemand mehr sicher vor mir ist.
Sie machen mich böse.
Sie lassen mich diese Dinge sehen, lassen mich diese Emotionen fühlen, die nicht meine eigenen sind.
Ich hasse meine Mutter nicht und doch spüre ich dieses Gift in mir, das mich sie hassen lässt, wie ich nie zuvor jemanden gehasst habe.
Ich weiß, dass ich nicht mehr lange standhalten kann.
Bald wird meine Mauer brechen und sie werden mich zerstören.
Von mir wird nichts mehr übrig bleiben als ihre Marionette, kontrolliert durch diese Trugbilder.
Ich hoffe, dass dieser Tag niemals kommen wird.
Und wenn er kommt, hoffe ich von tiefstem Herzen, dass man mich tötet.
So will ich nicht leben.
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Ich konnte nichts anderes machen, als das Buch mit aufgerissenen Augen anzustarren.
Blair...
Blair war kontrolliert worden.
„Das kann nicht sein", flüsterte Cassandra hinter mir so leise, dass ich sie kaum verstand. „Das kann einfach nicht wahr sein."
Jasmine sagte nichts.
Sie wusste genau so gut wie ich, dass diese Worte exakt der Wahrheit entsprachen.
Jemand hatte Blair kontrolliert, hatte sie so lange mit Illusionen gefoltert, bis sie genügend gebrochen war, um als Marionette benutzt zu werden.
Ich war mir mehr als sicher, wer dieser mysteriöse jemand war.
Königin Asaylle Zyndar von Ascalin.
Immer noch schockiert von den Worten, die ich gerade gelesen hatte, wandte ich mich dem dritten und letzten Eintrag zu.
Es war einfach schrecklich.
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Ich bin verloren.
Ich fühle nur noch selten einen kleinen Bruchstück von mir, den ich wiedererkenne.
Ich höre keine Stimme mehr, sehe keine Trugbilder mehr.
Ich sehe die Wahrheit, fühle die Wahrheit.
Ich hasse meine Mutter. Ich hasse meinen Bruder.
Ich bin verloren.
Bitte.
Lass mich gerettet werden.
Lass mich sterben.
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Ich war sprachlos.
Ich konnte nichts sagen, konnte nicht einmal richtig atmen, als mich der Schmerz und die Verzweiflung der Prinzessin trafen, obwohl es nur geschriebene Worte waren, die die Emotionen ausdrückten.
Ich schauderte und ließ das Buch fallen, meine Hand plötzlich kalt und unbeweglich.
Weder Jasmine, noch Cassandra machten sich die Mühe, es vom Boden aufzuheben.
Sie bewegten sich ebenfalls nicht, waren zu schockiert, um überhaupt zu blinzeln.
Das änderte alles.
Alles.
Wenn Blair von Ascalin kontrolliert worden war...
Wie auch immer das möglich war...
Das bedeutete...
„Krieg", flüsterte Jasmine. „Das heißt Krieg."
„Wie meinst du das?", fragte Cassandra. „Krieg?"
„Krieg", wiederholte Jasmine mit fester Stimme. „Wir mögen an den Grenzen bereits kämpfen, aber das hier verändert alles. Ascalin hat einen Angriff auf Neun Rosen gestartet. Gegen die Königin und die Prinzessin."
„Dafür werden sie bezahlen", stimmte ich zu, während ich zu meinen Freundinnen herumwirbelte. „Dafür werden sie bitter bezahlen."
Cassandra nickte. „Was schlagt ihr vor?"
Jasmine knurrte nur, machte auf dem Absatz kehrt und ließ sich von der aufkommenden Finsternis einhüllen.
Bald darauf war sie verschwunden, vermutlich bereits auf dem Weg zum Besprechungsraum, um unseren ersten Schlachtzug zu planen.
Auch ich machte mir nicht die Mühe, meiner Freundin zu antworten.
Stattdessen schenkte ich ihr ein grimmiges Lächeln.
Wir hatten einen Krieg zu gewinnen.
Cassandra grinste bösartig.
Wir konnten gewinnen.
Wir konnten wirklich gewinnen.
Je öfter ich den Gedanken wiederholte, desto mehr glaubte ich daran.
Wir konnten gewinnen.
Und dennoch hatte ich ein verdammt schlechtes Gefühl bei der ganzen Sache.
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