32
Ich wurde beobachtet.
Meine Augen waren geschlossen, aber ich wusste es trotzdem.
Ich spürte es irgendwie.
„Ich weiß es nicht. Ich hoffe ehrlich, dass es nicht allzu schlimm war."
Die Stimme war feminin und elegant, auch wenn darin eine enorme Macht mitschwang, die wie Seide über meinen Körper strich.
Ich musste ein Schaudern unterdrücken.
Vielleicht könnte ich irgendeinen Vorteil daraus ziehen, dass meine Beobachter noch nicht zu wissen schienen, dass ich wach war und zuhörte.
„Hast du diese Krone auf ihrer Stirn gesehen, bevor sie zusammengebrochen ist? War das ihre Magie?"
Diesmal sprach ein Mann, dessen tiefe Stimme warm und einladend klang.
Irgendwie vertraut.
Die Frau musste genickt haben, denn der Mann fuhr nach einer kurzen Pause ungehindert fort. „Hast du es gewusst? Dass ihre Magie so stark ist, meine ich? Wusstest du das?"
Ein Seufzen.
„Ich hatte da so ein Gefühl, ja", gestand die Frau.
Wenn ich genau hinhörte, kam mir auch ihre Stimme vage bekannt vor, als wäre sie eine Art alte Freundin, die mich nach unzähligen Ewigkeiten wieder besuchte.
„Was kann sie alles damit anstellen?", fragte der Mann.
Ich hörte, wie etwas raschelte. Vielleicht das Kleid der Frau, als sie ihre Beine übereinanderschlug.
„Ich habe keine Ahnung, aber wir werden es hoffentlich bald herausfinden. Aria ist vielleicht der Schlüssel, mit dem Mavar den unausweichlichen Krieg gegen Ascalin gewinnen kann", entgegnete die weibliche Stimme.
Ich verschluckte mich, als ich diese Worte hörte und fing unweigerlich an zu husten.
Toll. So viel zum Thema unaufmerksam lauschen.
Ich schaffte es nicht, im Liegen meine Atmung zu kontrollieren, also musste ich mich wohl oder übel aufsetzen, wenn ich nicht an Ort und Stelle ersticken wollte.
Ich stemmte mich auf den rechten Ellenbogen und legte die linke Hand auf meine Brust, wo ich sie zur Faust ballte, um dem Husten zumindest ein bisschen entgegen zu wirken.
Sobald er sich schließlich weitgehend gelegt hatte, öffnete ich endlich die Augen, um zu sehen, wo ich war und wer mich beobachtete.
Als ich Chandra und Dominic erkannte, die neben meinem Bett auf zwei Stühlen saßen und mich beide überfordert anstarrten, fühlte ich mich ziemlich dumm.
Ich meine ehrlich, wen hatte ich denn erwartet?
Ryn und Kaya? Wohl kaum.
Die Königin von Ascalin? Nein danke.
Dennoch fiel mir beim Anblick der beiden ein großer Stein vom Herzen, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass er existierte.
Ich war in Sicherheit.
Ich lebte.
Ich lebte und Ryn...
„Guten Morgen, Dornröschen", begrüßte Chandra mich mit einem matten Lächeln, das ich nicht erwidern konnte. „Wir haben gerade über dich gesprochen."
„Ich weiß", brachte ich hervor, woraufhin ich erneut zu husten begann, diesmal jedoch deutlich kürzer.
„Wasser?", fragte Dominic und reichte mir ein Glas, das auf dem Nachttisch gestanden hatte.
Ich nahm es dankend entgegen und trank einen Schluck, um die Trockenheit in meiner Kehle und auch den starken Hustenreiz möglichst zu verdrängen.
Als ich drei große Schlucke zu mir genommen hatte, wandte ich mich wieder dem König und der Prinzessin an meinem Bettrand zu.
„Wie lange?", fragte ich mit einer Stimme, die bereits deutlich weniger kratzig war.
Ich musste die Frage nicht fertig formulieren. Sie verstanden sofort, worauf ich hinauswollte.
„Fast zwei Tage", antwortete Dominic. „Du warst ziemlich erschöpft."
Ziemlich erschöpft war wohl eine gewaltige Untertreibung, wenn man berücksichtigte, was ich alles durchgemacht hatte.
Aber das sagte ich ihm nicht.
Ich hatte nicht vor, irgendjemandem davon zu erzählen, was in der Nacht von Ryns Tod zwischen mir und dem synthischen König vorgefallen war.
Dass ich gestorben war.
Dass er mich gefoltert hatte.
Oder dass ich ihm seine gesamte Macht entzogen und ihn auf diese Weise in den Tod gestoßen hatte.
Das war etwas, mit dem nur mein Herz und meine Gedanken klarkommen mussten, nicht Dominic oder Chandra.
„Zwei Tage", wiederholte ich die Zeitangabe, um die Information zu verarbeiten.
Ich hatte zwei ganze Tage geschlafen.
Vermutlich hätte es mich überraschen sollen, aber ich nahm es einfach genau so hin, wie ich neun Stunden hingenommen hätte.
Ich konnte mich nicht mehr an die letzte ruhige Nacht vor dieser erinnern. Zwei Tage albtraumloser Schlaf schienen eine willkommene Abwechslung.
„Ryn?", stellte Chandra schließlich die entscheidende Frage, nachdem wir uns eine geschlagene Minute gegenseitig angeschwiegen hatten.
„Tot", erwiderte ich nur und führte meine Erklärungen nicht weiter aus. „Endlich."
Dominic stieß den Atem aus, den er offensichtlich angehalten hatte.
Ich schenkte ihm ein Lächeln, das fast hätte echt sein können.
Fast.
Wären da nicht die Erinnerungen an die gefolterten Leichen, an die Finsternis in meinem Herzen und an seine warmen Lippen auf meinen, kurz bevor ich aufgebrochen war.
Der Kuss...
Ich hatte mir noch nicht erlaubt, weiter über den Kuss nachzudenken. Aber jetzt, wo alle anderen Probleme vorübergehend gebannt waren...
Dominic hatte mich geküsst und ich hatte ihn gewähren lassen.
Was waren wir nur für Idioten?
Immerhin war er verlobt, verdammt nochmal!
Ich konnte jedoch nicht weiter darüber nachdenken, weil Chandra nach einem weiteren Moment der angespannten Stille theatralisch seufzte, was dazu führte, dass meine Mundwinkel sich zumindest ein kleines bisschen hoben.
„Dieses ewige Schweigen geht mir ziemlich auf die Nerven, euch nicht auch?", fragte sie schließlich.
Ich schaffte es, einmal zustimmend zu nicken, ohne dabei den Blick zu senken.
Auch Dominic murmelte etwas, das man allerdings nur als unverständlich beschreiben konnte.
„Ich glaube, mein König stimmt uns zu", ergriff ich an seiner Stelle das Wort und warf Chandra einen Was-ein-Idiot-Blick zu, den sie mit einem breiten Lächeln beantwortete.
„Ja, ich denke, da hast du Recht", entgegnete sie nachdenklich. „Wo sind deine Manieren hingegangen, Dom? Seit wir nicht mehr verlobt sind, bist du mir gegenüber ein ganz anderer Mensch."
„Moment, was?!", rief ich lauter als beabsichtigt, alles andere plötzlich vergessen. „Wie meinst du das? Ihr seid nicht mehr verlobt?! Wie? Wieso? Wann? Hä?", sprudelten die Fragen nur so aus mir heraus und Chandra begann leise in sich hinein zu lachen, als ich nach mehreren Sekunden immer noch nicht aufgehört hatte.
„Chan und ich haben uns dazu entschlossen, dass es vielleicht das beste wäre, unsere Verlobung für eine Weile zu... pausieren", erklärte Dominic, der sich sichtlich unwohl in seiner Haut fühlte. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, als wollte er so schnell wie möglich einfach verschwinden. „Nach allem, was passiert ist", fügte er schließlich hinzu.
Chandra nickte und schenkte mir ein Achselzucken. „Du weißt ja selbst, was alles passiert ist."
Ich nickte, um ihr weiteren Schmerz zu ersparen.
Sie musste es nicht aussprechen.
Sie hatte ihre eigene Schwester in einem Duell auf Leben und Tod besiegt und ich wusste genau, dass sie das für immer verfolgen würde, auch wenn Kaya ein kranker Psycho gewesen war.
„Es ist das beste für alle Beteiligten", sagte Dominic, um die Erklärungen abzukürzen.
Chandra nickte nur und ich erkannte auch in ihren Augen Erleichterung, sah die Leichtfüßigkeit, mit der sie nun zu leben schien, und erkannte, dass eine große Last von ihr abgefallen war, die vermutlich nicht nur Ryns Namen getragen hatte.
„Also gehst du zurück nach Cyltis?", fragte ich die Wüstenprinzessin und legte den Kopf schief.
Vor wenigen Wochen noch wäre diese Nachricht das beste gewesen, was ich mir hatte vorstellen können. Chandra zurück in Cyltis, Dominic wieder ohne Verlobte.
Aber jetzt?
Wenn Chandra gehen würde, dann würden ihre Leute sie mit Sicherheit begleiten.
Ivory, Lyane... und Calin.
Calin würde nach Cyltis zurück reisen und mich dann vergessen, weil er eine andere Frau finden und sich in diese Frau verlieben würde, wenn er meinen Kontinent verließ.
Ich wusste einfach, dass es so geschehen würde.
Zu meiner großen Überraschung – und Erleichterung – schüttelte Chandra allerdings den Kopf, was ihre goldenen Ohrringe klimpern ließ. „Nein. Meine Leute und ich werden noch eine Weile hier bei euch in Akar bleiben. Mindestens bis der Krieg gegen Ascalin vorbei ist."
„Ehrlich?"
„Ja. Meine Mutter hat mich mit Dominic verlobt, um das Bündnis zwischen unseren Reichen zu stärken, aber ich denke, dass diese letzten Wochen voller Schmerz, Angst und Trauer eine Stärkung von ebensolcher Kraft waren. Ihr habt euch als würdig erwiesen, Cyltis auf eurer Seite haben zu dürfen. Wir kämpfen für euer Reich, um euer Reich und mit eurem Reich, als wäre es unser eigenes."
Ich konnte nicht anders, als Chandra O'Brian für diese Worte zu bewundern.
„Danke", flüsterte ich. „Ehrlich. Danke für alles."
Aber die Prinzessin wedelte nur wegwerfend mit der Hand. „Kein Thema, wirklich. Außerdem... nur weil wir unsere Verlobung vorläufig aufgehoben haben, heißt das noch lange nicht, dass ich mich nicht doch noch irgendwie in diesen kleinen König da verlieben werde."
Als sie Dominic als „kleinen König" bezeichnete, musste ich schmunzeln, obwohl jener nur die Augen verdrehte.
„Oder ich mich in das vorlaute Kamel", schoss er zurück.
Chandras Unterkiefer klappte empört nach unten. „Wen nennst du hier ein Kamel?"
„Du lebst doch auch in der Wüste, genau wie Kamele."
„Ja und?", meinte Chandra jetzt lachend. „Macht mich das gleich zu einem?"
Dominic legte den Kopf schief und betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. „Jap, definitiv."
Chandra zeigte ihm nur den Mittelfinger und wandte sich wieder mir zu. „Wie hältst du es nur mit ihm aus?"
Ich zuckte die Achseln und musste ein Lachen unterdrücken. „Das frage ich mich auch jeden Tag."
Sie hatte nichts darauf zu erwidern und erhob sich schließlich aus ihrem Stuhl, was ihr dunkelgrünes Kleid erneut rascheln ließ.
Wieso bitte sah sie in jeder Farbe umwerfend aus und ich nicht?
„Also dann, Aria", murmelte Chandra schließlich. „Ich erwarte dich morgen Abend zum Training."
Stöhnend verdrehte ich die Augen. „Muss das wirklich sein?"
„Und komm bitte ohne diese seltsame magische Krone. Mich musst du nicht beeindrucken", war ihre Antwort auf mein Jammern.
Ich atmete nur ein weiteres Mal hörbar aus, als sie mit hoch erhobenem Kopf aus dem Raum schritt und die Tür schließlich hinter sich ins Schloss warf.
„Sie ist irgendwie glücklicher, seit ihr euch getrennt habt. Irgendwie hat sie... eine Leichtigkeit gewonnen, die sie vorher nicht hatte", bemerkte ich und erkannte, dass Dominic mich angestarrt hatte.
Er nickte und senkte schuldig den Kopf. „Ich denke, auch ihr ging das alles ein bisschen zu schnell. Politische Heirat ist niemals einfach und dann auch noch mit Ryn im Hintergrund... von Chalency mal abgesehen."
Ich nickte. „Ich denke übrigens, dass es die richtige Entscheidung war, die Verlobung erst einmal zu beenden", meinte ich mit fester Stimme. „Und das sage ich jetzt nicht nur, weil du mich geküsst hast."
Er konnte nicht verhindern, dass er merklich zusammenzuckte, als ich unseren Kuss erwähnte.
„Du hättest das nicht tun sollen, Dominic. Du hattest eine Verlobte. Außerdem weißt du genau so gut wie ich, dass es nur eine verzweifelte Geste war, um mich ein einziges Mal geküsst zu haben, bevor ich sterbe."
Er stieß den Atem aus und hob den Kopf. Seine dunkelblauen Augen trafen meine, blickten durch mich hindurch wie durch eine Fensterscheibe. „Ich weiß, Aria."
Ich wartete, bis er schließlich weitersprach.
„Aber es war nicht einfach nur eine verzweifelte Geste, um dich zu küssen", gestand er schließlich mit fester Stimme. „Ich wollte es tun. Ich... Ich will dich wirklich."
Mein Atem stockte, als ich die Aufrichtigkeit in seinem Tonfall hörte.
„Ich will dich, Aria. Schon seit dem Tag, an dem du hier angekommen bist", wiederholte er schließlich betonend.
Mein Gehirn scheiterte daran, diese Worte zu verarbeiten.
Ich will dich.
Drei Worte, in denen so viel mehr steckte, so viele Emotionen und Gefühle, die er über die letzten Monate zurückgedrängt hatte, die er sich nicht erlaubt hatte zu zeigen oder sich selbst einzugestehen.
Ich will dich.
Er musste es nicht aussprechen, damit ich es hörte.
Ich liebe dich.
Und jetzt war er hier.
Jetzt war er bei mir, am Rand meines Bettes und...
Und ich wusste nicht, ob ich noch genau so fühlte, wie vor ein paar Monaten.
Natürlich war er ein äußerst gut aussehender Mann, die Tatsache, dass er der verdammte König von Mavar war, noch außer Acht gelassen. Und außerdem konnte er wirklich gut küssen...
Aber irgendwie...
Es war nicht so, dass ich ihn nicht liebte.
Ich hatte Gefühle für ihn, die in mir brannten wie das Feuer, das durch seine Adern strömte und in diesen wundervollen blauen Augen schlummerte.
Da brannte etwas in mir für ihn, das für niemanden sonst brannte, leuchtete und strahlte...
Aber da brannten auch Emotionen – Gefühle – für einen anderen Mann in meiner Brust, den ich einfach nicht mehr aus meinem Kopf verbannen konnte.
Es war wie ein Fluch. Wie ein zweites Ich, das mich überallhin begleitete.
Und solange ich meine Gefühle für Calin nicht sortiert hatte, solange ich sie nicht einordnen konnte...
Das konnte ich Dominic einfach nicht antun.
„Ich...", begann ich, doch meine Stimme versagte kläglich.
Ich schaffte es gerade noch so, leicht den Kopf zu schütteln.
Ein eindeutiges Zeichen.
Ich presste meine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und blinzelte mehrfach schnell, um die Tränen zurückzuhalten, die sich in meinen Augen zu sammeln begannen.
Ohne ein weiteres Wort stand Dominic auf und verließ dann ebenfalls meine Suite.
Ich machte mir nicht die Mühe, ihn zurückzurufen.
Ich wollte ihm seine Zeit geben, wollte ihm seinen Freiraum lassen, den er brauchte, um seine eigenen Gefühle und das Chaos in seinem Herzen etwas zu ordnen.
Das Geräusch der Tür, die hinter ihm ins Schloss fiel, erinnerte mich an jenes Geräusch, mit dem mein Körper auf den Boden dieser Schlucht aufgeschlagen war.
Plötzlich war das Schlafzimmer zu eng, die Wände zu nah und die Suite zu klein für mich und die unendlich große Macht, die ich in mir entfesselt hatte.
Plötzlich brach die Welt über mir zusammen.
Ich brauchte Luft, brauchte Raum zum Atmen, den ich hier in meinem Bett nicht finden konnte.
Ich brauchte Freiheit, brauchte Platz und Ruhe und Frieden, den ich nicht finden konnte.
Ich schaffte es, mich mühevoll hochzuhieven und auf wackeligen Beinen zu der Glastür zu gehen, hinter der sich der weitläufige Balkon erstreckte.
Kalte Luft schlug mir entgegen und ich hieß sie mit offenen Armen willkommen.
Draußen war es dunkel, was mich darauf schließen ließ, dass für mich die Nacht wohl erneut zum Tag geworden war, wie so häufig in letzter Zeit.
Ich trat an die Brüstung und umklammerte das eiserne Geländer des Balkons mit beiden Händen so fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten.
Ich spürte einen kühlen Tropfen auf meinem Gesicht, aber es kümmerte mich nicht, dass es regnete.
Ich atmete die frostige Luft ein, reinigte meinen Geist so gut wie möglich von all den schrecklichen Erinnerungen, die mich verfolgten.
Ich schaffte es nicht, seine glasigen, giftgrünen Augen zu vergessen.
Seine Schreie.
Den Kern seiner Macht, der immer weiter schrumpfte, bis er schließlich zersplitterte als wäre er nichts weiter als eine Glaskugel, die man auf den Boden geworfen hatte.
Ich konnte die Erinnerungen nicht verdrängen und genau so wenig konnte ich die Gefühle vergessen, die sich in meinem Inneren immer weiter ausbreiteten wie ein Lauffeuer.
Gefühle für Dominic.
Gefühle für Calin.
Feuchtigkeit trat erneut in meine Augen und ich konnte ein leises Schluchzen nicht unterdrücken, als ich meinen Blick über das Schloss unter mir gleiten ließ.
Der einsetzende Regen spülte meine Tränen fort.
---
„Ist es nicht ein bisschen kalt da draußen?"
Ich stand immer noch am Rand des Balkons, hatte meine Augen in die Ferne der dunklen Nacht gerichtet und war in Gedanken versunken, die ich bald schon für immer tief in mir einschließen würde, wie ich es immer tat.
Ich ließ meinen Tränen freien Lauf, kümmerte mich nicht darum, dass meine Haare vom Regen vollkommen durchnässt wurden.
Ich trug ein weißes Schlafgewand, von dem ich mich nicht erinnerte, es angezogen zu haben. Der Stoff klebte an meiner Haut und schimmerte im goldenen Licht, das aus den vielen Fenstern der Türme schien.
Mir war nicht kalt.
Ich hieß die Kälte willkommen, ließ mich von den Regentropfen waschen und reinigen, bis ich vollkommen nass war, obwohl in meinem Kopf alles blutig und dreckig blieb.
Mir war egal, dass Calin mich so sah.
Sollte er sich ruhig darüber lustig machen, wenn ihm danach war.
Mir. Egal.
„Wenn du darüber reden willst..."
Ich reagierte nicht, als ich seine Stimme hörte und er verstummte schließlich mitten im Satz.
Mir wurde bewusst, dass ich leicht geschluchzt hatte, als meine Gedanken erneut zu der Schlucht zurückgewandert waren, zu der Hütte, zu den Leichen...
Ich hörte Schritte und einen Augenblick später stand er neben mir im eisigen Regen.
Er sagte nichts, berührte mich nicht und machte auch sonst keine Anstalten, irgendwie auf mich einzugehen.
Er stellte sich einfach neben mich, richtete seine Augen auf das nächtliche Schloss und setzte sich dem Wetter aus, nur um neben mir zu stehen und für mich da zu sein.
Er war zu mir gekommen.
Er war wirklich hier.
Er war nicht mit einer Gabel an eine Wand genagelt, nicht tot und auch nicht gefoltert...
Ich drehte mich langsam zu ihm um und schaffte es nicht, den Fluss der Tränen zu unterbrechen.
Ich versuchte wirklich mit aller Kraft, ihm meine Gebrochenheit nicht allzu sehr zu zeigen, aber ich scheiterte.
Es war sowieso egal. Er hatte mein Herz aus Scherben und meine kaputte Seele bereits am Tag unseres Dates zu sehen bekommen.
Also drehte ich mich um, während die Tränen noch immer über mein Gesicht rannen und meine Unterlippe leicht zitterte.
Calin wandte ebenfalls seinen Kopf und sah mir dann fest in die Augen.
Ich sah so viel in seinem Blick, spürte so viel in dieser Berührung, die eigentlich gar keine Berührung war.
Wärme. Vertrauen. Mitgefühl.
Ich klammerte mich an jedes Gefühl, jede Emotion, die ich in seinen atemberaubenden Augen erkannte, hielt alles fest und bündelte es in meiner Brust, wo mein zerstörtes Herz mit dieser Hilfe irgendwann erneut zu schlagen beginnen würde.
Dieser Blick schaffte, was ich nicht für möglich gehalten hätte.
Er schaffte es, mich ein Stück zu heilen, mich ein Stück von dem Abgrund zu entfernen, an den ich mich angenähert hatte.
Dieser Blick ließ mich mein Trauma ein Stück weit überwinden.
„Es war grauenhaft", flüsterte ich, während ich den Kopf senkte, um dem Schmerz in seinen Augen zu entgehen.
Schmerz, der dort aufflammte, weil ich das alles hatte durchmachen müssen.
„Es war einfach grauenhaft."
Mehr konnte ich nicht sagen und mehr musste ich auch nicht sagen.
Ich spürte eine warme, starke Hand an meiner Hüfte und einen Wimpernschlag später zog Calin mich an sich, hielt mich fest als wäre ich das Kostbarste und Zerbrechlichste auf der Welt.
Letzteres traf im Moment vielleicht sogar zu.
Er legte sanft sein Kinn auf meinen Kopf und atmete anschließend tief ein, als wollte er meinen Duft kosten.
Sein Körper war wie ein Anker für mich, der mich retten konnte, wenn es sonst niemand schaffte.
Ich gab mich der Umarmung hin, schlang meine Arme um ihn und erwiderte den Druck leicht.
Das war es, für das ich überlebt hatte.
Für diesen Moment hatte sich all das Leid gelohnt.
„Ich bin gebrochen", flüsterte ich und schluchzte erneut, während der Regen uns berührte wie ein tröstender Freund, ein verführerischer Liebhaber und ein gefährlicher Krieger zugleich.
„Ich weiß", antwortete Calin leise. „Aber wir können dich wieder heilen, Aria. Zusammen werden wir dich wieder heilen. Das schwöre ich."
Darauf konnte ich nichts erwidern, selbst wenn ich meine Stimme gefunden hätte.
Ich vergrub mein Gesicht an seiner warmen Brust, atmete seinen Duft ein, nach Sand und Wüste, nach Datteln und Grapefruit, nach Zucker und Salz.
„Was in dieser Nacht geschehen ist", fuhr Calin schließlich fort und löste sich dabei so weit von mir, dass er mir erneut fest in die Augen sehen konnte.
Seine strahlenden Augen, die ich nicht mehr vergessen konnte.
Sie gaben mir eine Kraft, die ich glaubte, verloren zu haben.
Das eine blau und genau so schön wie der Nachthimmel, der sich am Horizont erstreckte; trotz des Regens überzogen von silbernen Sternen.
Das andere grau und leer, aber doch so voller Schmerz, voller Trauer und voller Liebe, dass mir der Atem stockte und ich mich für einen Moment fühlte, als würde ich endlos tief fallen.
„Du musst nie wieder davon sprechen", murmelte Calin. „Du musst nie wieder auch nur daran denken. Es ist vorbei und es wird nie wieder passieren."
Ich nickte nicht. Schluckte nicht. Atmete nicht.
Wir beide wussten, dass es nicht so einfach war.
Zitternd stieß ich den Atem aus.
Vielleicht würde es gut tun, das Ganze auszusprechen.
Nur ein einziges Mal.
Ein einziges, unfassbar schweres Mal.
„Es war eine Hütte", sagte ich. „Eine Hütte, ganz aus Holz mit einer Tür aus Eisen und Möbeln wie ein ganz normales Häuschen."
Calin wagte es nicht, mich zu unterbrechen.
Er bewegte sich nicht, weil er Angst hatte, mich erneut zum Schweigen zu veranlassen, wenn er meinen Redefluss irgendwie brach.
„Er ließ mich eure Leichen sehen", fuhr ich mit schwacher Stimme fort, die von den prasselnden Geräuschen des Regens fast vollständig verschluckt wurde. „Deine. Cassandras. Spencers. Jasmines. Die Leichen all meiner Freunde."
Ich ignorierte den Schmerz, die Trauer und auch den scharfen Funken der Wut in Calins Augen, die dort lauerten, weil Ryn mir das alles angetan hatte.
Auch ich wusste, dass ich nie mehr darüber sprechen würde, wenn ich jetzt stoppte.
Also sprach ich weiter.
„Ihr wart alle verstümmelt und gefoltert", flüsterte ich und erneut liefen heiße, salzige Tränen über meine Wangen. „Alle auf eine andere Weise übel zugerichtet, die du dir gar nicht vorstellen willst."
Er nickte stumm. Das einzige Zeichen seiner Verständnis.
„Es war schrecklich", sagte ich, ehe ich erneut zu schluchzen begann und meine Worte erstickt wurden.
Er bewegte sich nicht, hatte die Hände zu Fäusten geballt, um seine aufkeimende Wut und seine Verzweiflung irgendwie zurückzuhalten.
Ich wusste, dass nur ich ihn beruhigen konnte. Nur ich und immer ich.
Wie in Trance hob ich eine meiner schlanken Hände und legte sie an seine Wange, wo leichte, blonde Bartstoppeln zu sehen waren.
Meine Finger zitterten, als sie von der eisigen Nachtluft umspielt wurden, doch ich schaffte es trotzdem, ihm sanft über den Wangenknochen zu streichen, nur um mich zu vergewissern, dass er noch hier war.
Lebend und unverletzt.
Hier bei mir.
Doch plötzlich war seine Wange nicht mehr seine, sondern Ryns, dessen Kopf ich zwischen meinen Händen hielt.
Sein rascher Atem war nicht mehr nur Atem, sondern die Schreie des Angstmagiers, als ich ihn von innen heraus verbrannte.
Seine Augen waren nicht mehr blau und grau, sondern schrecklich grün und glasig.
Erschrocken keuchte ich und trat einen Schritt zurück, wobei meine Hand erneut unaufhörlich zitterte.
Mein Atem ging rasch und mein Herz schlug schnell.
Calin sah mich nur an, in seinen Augen ein Leid, das ich nicht nachempfinden konnte, weil es so tief zu gehen schien.
„Was hat er nur mit dir gemacht?", fragte der Dualmeister leise.
Ich sagte nichts, sondern schlug meine kalten Hände vor dem Mund zusammen, schockiert über den Einfluss, den diese schicksalshafte Nacht anscheinend auf mich hatte.
War ich wirklich so gebrochen? Hatte er mich so sehr zerstört?
Calin legte den Kopf schief. „Was hat er dich sehen lassen?"
Ich antwortete nicht.
„Aria", versuchte er es erneut. „Was genau hast du gesehen? Wie sah meine Leiche aus?"
Ich schluckte, doch er sagte nichts weiter.
Er wusste, dass ich nur sprechen würde, wenn ich selbst mich dazu bereit fühlte.
Die Stille dehnte sich zwischen uns aus, bis sie mich zu erdrücken drohte.
„Du warst mit einer riesigen Gabel an die Wand gespießt. Und du warst nackt", flüsterte ich, in Erinnerungen versunken, die so weit entfernt schienen und doch so schrecklich nah waren.
„Du sagst das so, als wäre das etwas Schlechtes", scherzte er leicht schelmisch grinsend.
Ich schaffte es nicht, seinem damit einhergehenden Wunsch nach einem Lächeln nachzukommen.
„Netter Versuch", meinte ich stattdessen mit etwas festerer Stimme. „Aber zwischen deinen Beinen..."
Eine seiner Augenbrauen wanderte nach oben. „Was war denn da zwischen meinen Beinen? Hat der Bastard meine monströse Größe etwa nicht getroffen?"
Ich wusste, dass er nur wollte, dass ich auf seine Versuche einging, mich abzulenken, mich irgendwie aufzuheitern, mich abzulenken...
Idiot.
Er war so ein selbstverliebter, arroganter Idiot.
Aber seine Methode funktionierte, denn die Tränen liefen nicht weiter über meine Wangen, als ich antwortete: „Jemand hat ihn abgerissen oder so."
„Abgerissen?", fragte er verblüfft. „Wer macht denn sowas?"
„Keine Ahnung", erwiderte ich schmunzelnd. „Vielleicht auch abgebissen? Ich weiß es nicht."
„Abgebissen ist nicht viel besser", meinte er schulterzuckend. „Die Person hat dann wohl nie gelernt, dass man bei so etwas normalerweise keine Zähne verwendet."
Ich seufzte und verdrehte schließlich genervt die Augen. Meine Mundwinkel zuckten für einen kurzen Augenblick. „Du bist echt einfach unverbesserlich, weißt du das?"
Er grinste mich mit einem Funkeln in den Augen an, das ich dort noch nie gesehen hatte. „Zwischen meinen Beinen ist jedenfalls noch alles vorhanden, falls du dich das gefragt hast. Keine Sorge."
„Bitte?", fragte ich, überfordert von der plötzlichen Anspielung.
„Naja du weißt schon", antwortete er mit einem vielsagenden Blick nach unten.
Ich nickte nur abgehakt, immer noch nicht vollständig dazu bereit, auf seine Spielchen einzugehen und der Nacht das lang ersehnte Lächeln zu schenken.
Calin zwinkerte mir verführerisch zu. „Wir können auch gerne zusammen ausprobieren, ob er noch funktioniert."
Dieses Mal schaffte er es, dass ich endlich lachte.
Ein ehrliches, echtes Lachen, das sich viel befreiender anfühlte als der Regen, der mich immer noch reinwusch.
Ich lachte.
Ich lachte wirklich!
In meiner Brust wurde es warm, als das Geräusch mich erfüllte und die Kälte vertrieb, die mich verfolgt hatte, sogar in diesem letzten, langen Schlaf.
„Idiot", warf ich ihm grinsend an den Kopf, als mein Lachen verklungen war.
„Wieso?", fragte er schulterzuckend. „Es hat doch funktioniert, oder etwa nicht?"
Ich schüttelte den Kopf, als mir bewusst wurde, dass er Recht hatte.
Ich fühlte mich frei, fühlte mich glücklich.
Ich fühlte mich endlich wieder etwas menschlich.
Und in diesem Moment war mir alles egal.
Mir war das blaue Feuer in meinem Inneren egal, das dort für Dominic brannte und sich immer weiter ausdehnte.
Mir war mein gebrochenes Herz und meine geschundene Seele egal, die in mir schmerzten und ächzten.
Mir waren die Erinnerungen egal, die mich für immer verfolgen würden und von Blut und Furcht durchtränkt waren.
In diesem einen Moment zählte nur der Regen, der auf uns niederfiel, uns umgab wie eine Decke, die uns schützte.
Es zählten nur die Gefühle in seinen Augen und diese seltsame Anziehung, die zwischen uns herrschte, seit wir uns das erste Mal gesehen hatten.
Es zählte nur er.
Ich trat näher an ihn heran, legte sanft meine Arme um seinen Hals und küsste ihn.
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