30
Ich stand vor einer Hütte.
Es war fast zu einfach gewesen, meine Wellen, meine Magie auszustrecken und diesen hässlichen, giftgrünen Kern aufzuspüren, ihm zu folgen, bis ich hier stand, vor dieser kleinen, unscheinbaren Hütte im Wald.
Das Pulsieren seiner Macht war stark, jagte mir einen Schauder über den Rücken und ließ meine Übertragungsmagie schmerzerfüllt zischen, als die Wellen von seinem giftigen Talent verätzt wurden.
Daher rief ich sie schließlich zurück, verstaute das magentafarbene Licht in meinem Herzen, verbarg die Energie und die Kraft unter meiner Haut, sodass nichts mehr leuchtete, schimmerte oder pulsierte.
In diesem Moment war ich nicht mehr Aria, die unglaublich starke Meisterin, sondern wieder einfach Aria, das Mädchen mit dem ungewöhnlichen Talent.
Ich war schwach, fühlte mich verletzlich und hieß die wiederkehrende Furcht willkommen, die sich in meiner Brust breit machte, sobald ich die Hütte genauer betrachtete.
Meine Kehle schnürte sich zu und all meine Haare standen zu Berge.
Auf den ersten Blick war es nur ein einfaches kleines Häuschen aus Holz, das hier mitten im Wald, vor der ganzen Welt verborgen erbaut worden war.
Wenn man einmal von der Tatsache absah, dass kein einziger Weg hierher führte und man die Hütte deshalb nur durch das Dickicht erreichen konnte, durch welches ich mich soeben gekämpft hatte, war es eigentlich wirklich ganz normal.
Aber es hatte etwas an sich, dieses Haus. Etwas Gruseliges.
Eine hässliche, dunkle Aura, die nicht nur von dem Kern aus grüner Macht in seinem Inneren auszugehen schien.
Die Bretter, die das Fenster vernagelten.
Das dunkle Holz, in das hässliche Gesichter, riesige Krallen und scharfe Zähne geschnitzt worden waren.
Die einzige Tür, die im Gegensatz zur restlichen Hütte aus massivem Eisen bestand.
Ich schluckte, um die Trockenheit in meinem Hals loszuwerden.
Schließlich wiederholte ich den Versuch, als der erste kläglich scheiterte.
Erneut vergeblich.
Die Blätter der Bäume raschelten leicht, entweder aufgrund des Windes oder der Waldbewohner, die sich einen Unterschlupf vor dem anstehenden Sturm suchten.
Ein Sturm, der nicht nur aus Regen, Donner und Blitzen bestand.
Als ich einen Schritt auf die kleine Hütte zu machte, raschelte es zu meinen Füßen.
Ich blickte nicht nach unten, als es knackte.
Das Geräusch erinnerte mich viel zu sehr an das Brechen meiner eigenen Knochen.
Ein weiterer Schritt. Ein weiterer Atemzug. Ein weiterer Herzschlag.
Die Angst in mir wurde größer, wuchs fast ins Unendliche und ließ mich zittern.
Von wegen furchtlos.
Was auch immer mich in dieser Hütte, in diesem unscheinbaren kleinen Haus aus Holz erwartete...
Es konnte auf keinen Fall etwas Gutes sein.
Ich ballte die Hände zu Fäusten, grub meine Fingernägel in die Handflächen, nur um mir selbst bewusst zu machen, dass ich diesen Schmerz ertragen konnte und dass ich auch jenen Schmerz ertragen würde, der mich in diesem Häuschen erwartete.
Was auch immer es war, das darin lauerte. Welche Falle er mir auch stellen würde...
Ich wäre bereit dafür.
Ich überprüfte ein letztes Mal, ob alle Waffen an meinem Körper befestigt waren, die ich vor meinem Aufbruch dort angebracht hatte.
Schwerter.
Messer.
Pfeil und Bogen.
Wurfsterne.
Ich drückte meinen Daumen auf eine der Klingen, ließ mein rotes Blut, das im Mondlicht gräulich schimmerte, auf den Waldboden tropfen, um mich daran zu erinnern, was ich alles verlieren konnte, wenn ich heute versagte.
Ich war durch die Hölle gegangen, hatte meine Freunde vielleicht für immer verlassen und war von den Toten zurückgekehrt.
Das alles durfte jetzt nicht umsonst gewesen sein.
In diesem Moment schwor ich mir etwas.
Ich leistete einen Eid mit dem Blut, das auf den Boden tropfte, versprach es dem Wald, meinen Freunden und meiner pechschwarzen Seele.
Ich würde ihn töten.
Ich würde seine Magie für immer vernichten.
Niemand sollte dieses Talent, dieses grausame, grausame Talent besitzen, das er besaß.
Niemand.
Und wenn es das letzte war, was ich tat, dann wüsste ich wenigstens, dass mein Opfer es wert gewesen war.
Die Welt wäre ein besserer Ort ohne ihn.
Ohne mich.
Also nahm ich all die kleinen Bruchteile meines Mutes zusammen, in die er beim Anblick der Hütte zersprungen war, fügte sie erneut zu einem mit Flicken übersäten Symbol, das meine Angst in Grenzen halten sollte.
Ich formte meine Tapferkeit zu einem Spiegel.
Zu einem gebrochenen Spiegel, weil ich Kayas Worte in meinem Kopf hörte. Wenn du in den Spiegel siehst, hast du dann Angst, dass jeder Atemzug dein letzter sein könnte? Dass jeder Schritt in den Abgrund führen könnte? Dass jede noch so unwichtige Entscheidung das Leben deiner Freunde beenden könnte?
Ich zerschmettere einfach jeden Spiegel, hatte ich ihr geantwortet. Problem gelöst.
Ich hieß die Scherben, die Unvollständigkeit meines Mutes willkommen, erstach damit einen großen Teil meiner Furcht.
Spiegel aus Tapferkeit.
Scherben aus Zorn.
Herz aus Feuer.
Immer wieder ließ ich diese Worte erklingen, klammerte mich an der Wahrheit darin fest, umarmte sie stürmisch und liebevoll, bis ich endlich daran glaubte.
Spiegel aus Tapferkeit.
Spiegel aus Liebe und Freude, aus Trauer und Angst, aus Zukunft und Vergangenheit.
Scherben aus Zorn.
Scherben aus Wut und Hass, aus Leben und Tod, aus Schmerz und Blut.
Herz aus Feuer.
Herz aus Licht und Dunkelheit, aus Stille und Frieden, aus Gefühlen und Erinnerung.
Mit zitternder, zur Faust geballter, blutiger Hand klopfte ich an die Tür.
Poch.
Wie der Schlag meines Herzens.
Ein weiteres Mal.
Poch.
Wie das Tropfen meines Blutes auf den Boden.
Und ein letztes Mal.
Poch.
Wie das Hallen der Schritte auf der anderen Seite.
Stumm zählte ich in meinem Kopf die Sekunden, nicht zuletzt, um mich zu beruhigen.
Ich kam nicht weiter als vier, ehe sich die Tür auch schon mit einem Knarzen einen Spalt breit öffnete und ich erneut Schritte hörten, welche sich diesmal jedoch entfernten.
Mit hektischem Atem stieß ich die Tür auf, machte mich auf das Schlimmste gefasst, was ich je in meinem Leben sehen würde...
Da war nichts.
Es war eine Hütte aus Holz.
Es gab ein Doppelbett und einen kleinen Tisch mit vier Stühlen. An der Wand stand ein Schrank, aber das waren auch schon die einzigen Möbel.
Was auch immer ich erwartet hatte...
Das war es sicherlich nicht gewesen. Dieses... dieses nichts.
Mit wackeligen Knien trat ich ein, ließ meinen Blick über die Bretter vor den beiden Fenstern gleiten, über die Spinnweben in den Ecken und über die spärliche Einrichtung.
Es war...
Es war nur eine ganz normale Hütte aus Holz.
Nichts besonderes, außer...
Ich biss die Zähne so fest zusammen, dass sie knirschten.
Ryn saß auf einem der Stühle und hatte die Füße auf den Tisch gelegt. Seine Knöchel kreuzten sich, wodurch eine seltsam gelassene Eleganz von ihm ausging.
Er musste meine Verwunderung bemerkt haben, weil er das Glas in seiner Hand einmal schwenkte, um schließlich einen Schluck des Alkohols zu nehmen. Vermutlich Brandy.
„Was hast du erwartet?", murmelte er mit seiner seidigen, kalten Stimme. „Ein Kuchenbuffet?"
Ich antwortete nicht. Mein Gehirn war viel zu überfordert.
Was?
„Oh bitte", fuhr Ryn stattdessen fort und nahm anschließend einen weiteren Schluck von seinem Getränk. „Du solltest mich besser kennen."
Erneut knirschte ich mit den Zähnen, als er zum zweiten Mal an diesem Abend auf unser lang vergangenes Verhältnis anspielte.
Arschloch.
„Hat es dir die Sprache verschlagen, Ariadne?", provozierte er weiter. „Wie schade, das wollte eigentlich ich übernehmen."
Als ich meinen alten Namen, als ich diesen verdammten Namen aus seinem Mund hörte, fing etwas in mir an zu brodeln.
Er war schuld, dass Ariadne Skensnyper nicht mehr existierte.
Er hatte sie damals getötet, indem er all ihre Liebsten gefoltert hatte.
Er hatte sie diese Klippe hinunter gestoßen und hätte sie dort verrotten lassen.
Ich legte den Kopf schief. „Du schienst zu wissen, dass ich wiederkommen würde."
Er zuckte gelassen mit den Achseln, wodurch die Muskeln seiner Brust etwas mehr zur Geltung kamen.
Bei jedem anderen Mann wären sie attraktiv gewesen.
Bei jedem verdammten anderen Mann.
Aber nicht bei Ryn.
„Du hast irgendwie den Sturz in die Exodis überlebt. Ich wollte nur sichergehen, dass du diesmal wirklich stirbst."
Ich breitete die Arme aus. „Tja, Pech für dich würde ich sagen. Ich lebe noch."
Sein Lächeln war so kalt, so bestialisch, dass meine Haare zu Berge standen.
Was für ein Spiel war das? Was wusste er, das ich nicht wusste?
Und plötzlich traf mich die Erkenntnis.
Ich wusste es, weil es die einzige logische Erklärung für all das hier war.
Für diese Hütte mitten im Wald.
Für die zugenagelten Fenster.
Für die Eisentür, die wie durch Zauberhand hinter mir zugefallen war.
Sein Lächeln wurde breiter, als er den Schock auf meinem Gesicht erkannte.
„Du hast es erfasst", schnurrte er katzenhaft. „Das hier... dieses schöne kleine Haus... es ist eine Falle."
Ich fletschte die Zähne und warf mein Messer.
Es traf die Wand, vor der sich Ryns Kopf noch einen Moment zuvor befunden hatte.
Er verschwand in einem Strudel aus Grün und Grau, während er wie verrückt lachte.
„Viel Spaß mit deiner Angst, Ariadne", flüsterte seine Stimme in mein Ohr, als das Messer sich in das Holz der Hütte bohrte.
Ich war gefangen. War für immer gefangen.
Ich konnte nicht entkommen. Konnte ihm nie mehr entkommen.
In diesem Moment begann jemand, an die Tür zu klopfen.
Meine größte Angst, wie auch immer sie aussehen mochte, wurde endlich wahr.
Mein Albtraum...
Ich war ausgeliefert.
---
Das Klopfen hörte nicht auf, egal wie lange ich mich auch abzulenken versuchte.
Ich durchstöberte den Schrank nach irgendetwas Brauchbarem, suchte nach Essen, weiteren Waffen, nach irgendetwas, das mir helfen könnte, hier zu überleben, bis meine Angst ausgeschöpft war, bis ich seine Magie überlebt hatte.
Bald, versprach ich mir.
Bald wäre alles vorbei. Bald könnte ich die Augen zumachen und für immer schlafen.
Ich wusste nicht, wie lange es dauerte, bis die Schreie kamen.
„Aria? Aria bist du da drin?"
So fing es an.
So harmlos, mit diesen sechs Worten aus einem Mund, von dem ich wusste, dass er nicht wirklich Cassandra gehören konnte.
Aber es war ihre Stimme.
Es war eindeutig ihre Stimme.
Leicht rauchig und angenehm, so vertraut wie meine eigene.
„Aria!", rief sie. „Aria mach die Tür auf!"
Ich presste Finger auf meine Ohren, um die Schreie auszuschließen, um mich davon abzuhalten, ihrer Bitte nachzugehen.
Was auch immer da draußen lauerte, es war auf keinen Fall Cassandra.
„Aria!", rief die Stimme. „Aria, lass mich rein! Bitte, Aria! Es ist hier draußen und es wird mich fressen!"
Es half nichts. Die Stimme hatte immer noch dieselbe Lautstärke, fast als wäre sie nur in meinem Kopf...
Sie ist nur in deinem Kopf, erinnerte mich eine leise Stimme.
Mein Gewissen oder mein Schutzengel oder vielleicht auch einfach nur mein gesunder Menschenverstand.
Die Stimme schrie jetzt.
Vor Verzweiflung, vor Angst, vor Grauen.
„Aria! Aria mach die Tür auf! Es ist hier draußen! Es will mich fressen!", schrie sie.
Ich höre nicht hin.
Nicht-Cassandra fing an zu weinen, kreischte immer wieder meinen Namen, flehte um Gnade und riss damit ein Stück nach dem anderen aus meinem Herzen.
Nach etwa zehn Minuten stoppten die Schreie.
Entweder, weil Ryn zufrieden damit war, dass mein Herz in Stücke gerissen war, sobald ich Cassandras Stimme dort draußen schreien gehört hatte.
Oder weil er es leid war, dass ich immer noch in einer Ecke stand, den Kopf von der Tür weggedreht und die Finger in den Ohren, ohne mich zu bewegen.
Weil er das alte Spielchen leid war und jetzt ein neues beginnen wollte.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis schließlich auch das Klopfen an der Tür verschwand.
Alles, was mir dann noch blieb, war eine unerträgliche Stille, die anzudauern schien wie eine Ewigkeit.
Sie drückte auf meinen Kopf, presste meine Gedanken und Gefühle zusammen und verursachte mir so die schlimmsten Kopfschmerzen, die ich je gehabt hatte.
Da war kein Wind, der die Bäume zum Rascheln brachte, keine Schreie einer Eule oder irgendeines anderen Waldbewohners.
Vielleicht wären mir sogar das Klopfen und Kreischen von Nicht-Cassandra lieber, auch wenn sie mir meine Menschlichkeit geraubt hatte.
Diese Stille raubte mir stattdessen meinen Verstand.
Ich ging in der Hütte auf und ab, nur um irgendwelche Geräusche zu verursachen, damit ich nicht weiterhin diese Ruhe, diese Lautlosigkeit ertragen musste.
Meine Schritte hallten nicht von den Wänden wider, erreichten nicht meine Ohren und vertrieben auch nicht den kleinsten Funken dieses erdrückenden Gefühls in meinem Kopf.
Mein Atem ging stoßweise, was ich nur daran erkennen konnte, dass meine Brust sich unregelmäßig hob und senkte.
Kein Geräusch, kein Ton.
Das Schlimmste war nicht einmal diese Stille, die mir Kopfschmerzen verursachte, die meinen Verstand erdrückte wie ein schweres Gewicht, das ich nicht anheben konnte.
Nein, das Schlimmste waren meine Gedanken, mit denen ich mich irgendwie davon ablenken musste, um nicht vollkommen zu krepieren, um nicht vollkommen zusammenzubrechen, sobald ich nur wenige Augenblicke stillstand.
Ich konnte sie nicht kontrollieren, schaffte es nicht, sie fröhlich, sie aufheiternd, sie realistisch zu halten.
Es war einfach nur eine Flut aus schlechten, deprimierenden Gedanken, die ich in diesem Moment dazu benutzte, meinen Kopf irgendwie reinzuwaschen und vor dem Zerspringen zu bewahren.
Ich dachte darüber nach, ob es vielleicht besser gewesen wäre, wenn ich einfach auf dem Grund dieser Schlucht verrottet wäre.
Einfacher für meine Freunde.
Einfacher für Dominic und Chandra.
Einfacher für alle.
Ich dachte darüber nach, wie dumm ich war, weil ich Gefühle für zwei verschiedene Männer entwickelt hatte, die nun gleich stark in meinem Herzen brannten.
Vielleicht wäre es am leichtesten, einfach keinen von beiden mehr zu sehen.
Vielleicht wäre es am leichtesten, einfach davonzulaufen und nie zurückzukehren.
Vielleicht wäre es am leichtesten, einfach aufzugeben, einfach zusammenzubrechen, einfach zu verlieren.
Ich hatte eh nie eine Chance gehabt.
Wieso hatte ich jemals auch nur gehofft, dass ich eine Chance gegen Ryn Arschloch Psychopath Toxxalver hatte?
Wieso?
Ich hatte nie eine gehabt, hatte jetzt keine und würde niemals eine haben.
Dieser Gedanke ließ das Gewicht von meinen Gedanken verschwinden, ließ die Wand, die ich um mein Herz, um meinen Kopf errichtet hatte...
Sie zersprang einfach.
Dieser Schutzwall, dieser mentale Schild, den ich vor all den Jahren um mich herum aufgebaut hatte, mit dem ich mein Herz, meinen Verstand vor ihm verborgen hatte, mit dem ich seine Macht aus mir heraus gehalten hatte...
Er zersprang.
In tausend kleine Stücke.
Ich wusste nicht wieso, wusste nicht wie, aber plötzlich war ich nicht mehr ich, plötzlich war mein Gehirn nicht mehr mein Gehirn, nicht mehr Teil meines Körpers.
Da war eine schwarze Hand.
Eine schwarze, gekrümmte Hand mit Krallen und gebogenen Fingern und giftgrünen Warzen, die mit jedem Atemzug pulsierten.
Da war ein leises, düsteres, hässliches Lachen.
Ein raues, ekelhaftes Lachen, aus einem Mund mit spitzen, rasiermesserscharfen Zähnen, das mir einen eisigen Schauder über den Rücken jagte.
Und da war eine Erinnerung.
Eine kleine, schreckliche Erinnerung an einen schrecklichen Tag, die sich in meinem Kopf vor ihm versteckt hatte, die ich vor ihm beschützt hatte.
Meine größte Angst.
Die klauenbesetzte Hand griff in meinen Kopf, überwand diesen unsichtbaren Wall, die Grenze zu meinem Verstand, meinen Emotionen, meiner Existenz und umgriff diese Erinnerung.
Die viel zu langen Finger schlossen sich um den schwarzen Faden, die blutige Schwade, die gläserne Kugel und zerbrachen sie mit einer Kraft, einer Bosheit, aus der das Lachen seine Energie zu ziehen schien.
Ich wusste, dass ich schrie.
Ich schrie, als der Schmerz mich durchzuckte, sobald er das Gefäß der Erinnerung mit seiner Magie zerdrückt, mit seiner Macht vernichtet hatte, nur um sie freizusetzen, ihre Bilder in sich aufzunehmen und meine wahre Angst, meine größte Furcht zu kennen.
Mit einem dieser gekrümmten Finger, mit dieser gebogenen Kralle stocherte er in den Scherben meines Herzens herum, holte sich Bruchstücke meines Inneren, meiner Emotionen und meiner Gedanken, verleibte sie sich ein und nährte sich davon.
Ich sah eine lange, gespaltene Zunge, die sich über die blutigen Lippen, die spitzen Zähne leckte.
Er labte sich an meiner Angst, an meinem Schmerz, an meinem Blut, genoss es wie ein Festmahl, seine Leibspeise, und zog meine Erinnerung in seine Hände, in den grünen Kern, der in ihm erwacht war, in seinen wartenden, offenen Mund, Rachen, Schlund.
Dann explodierte alles in grünem Licht.
Ich spürte eine ungeheure Welle der Magie, eine riesige Macht, die über meine Haut glitt wie ein eisiger, tödlicher Freund.
Ein leises, geflüstertes Schlaflied aus Knochen und Dunkelheit.
Ein Pulsieren, das stärker war als ich es mir in meinen schlimmsten Albträumen ausgemalt hatte.
Stärker als Chandra.
Stärker als ich.
Ich erinnerte mich nur noch an diese Welle, diese Flut aus Angst und Furcht, aus Verzweiflung und Schmerz, aus Hoffnungslosigkeit und Schwärze.
Dann war da ein Blitz, ein grausames Lachen und ein lauter Knall, der mein Trommelfell beben ließ.
Mein Kopf drehte sich, drehte sich und drehte sich, als ich mich langsam von der seltsamen Macht, der mentalen Berührung erholte, die meine Gedanken verdreht hatte.
Ich legte eine Hand an die Wand der hölzernen Hütte, ließ die davon ausgehende Kälte durch meine Adern, durch mein Bewusstsein strömen, um in die Realität zurückzukehren, die ich vermutlich gar nicht sehen wollte.
Meine größte Angst.
Ich wusste, was mich erwartete und ich wollte es nicht ansehen, wollte diesen Geruch nie wieder riechen, dieses ganze Blut, die Organe...
Dreh dich um, flüsterte mir jemand ins Ohr.
Diese kalte, raue, verführerische Stimme, die ich so sehr hasste.
Ich musste gehorchen, musste mich umdrehen.
Ich hatte keine Kontrolle über meinen Körper, konnte nicht verhindern, dass meine Füße sich bewegten, dass mein Körper das Gewicht verlagerte, als ich mich wie eine Marionette umdrehte.
Blitzschnell kniff ich die Augen zusammen, bevor ich all das Blut, all die Knochen und die Innereien genauer ansehen konnte.
Ich presste die Lider zusammen, bildete mit den Lippen einen festen, entschlossenen Strich und hielt den Atem an, um so irgendwie dem Geruch zu entkommen, der in meiner Nase tanzte.
Sieh hin, flüsterte die Stimme. Mach die Augen auf.
Nein.
Nein, nein, nein, nein, nein.
Mach die Augen auf, Ariadne.
Etwas kitzelte meine Lippen, kitzelte meine Nase, kitzelte meine Augenlider, damit ich sie öffnete, damit ich atmete und diesen grauenhaften, grauenhaften Geruch in mich aufnahm.
Nein.
Sieh hin. Mach die Augen auf.
Nein.
Sieh hin.
Nein.
Mach die Augen auf.
Ich konnte nicht länger dagegen ankämpfen.
Meine Augen öffneten sich fast automatisch.
Ich versuchte noch, mich zu kontrollieren, aber ich schaffte es nicht, den gellenden Schrei zurückzuhalten, der in meiner Kehle aufstieg und durch die Hütte hallte, hell und klar wie der Sternenhimmel.
So viel Schmerz lag in diesem Geräusch, so viel Furcht und Trauer, die nie verschwinden würden.
Ich wollte mich übergeben, wollte zitternd zusammenbrechen und einfach nur weinen, bis ich kein Wasser mehr in mir übrig hatte, aus dem Tränen entstehen konnten.
Es war schlimmer.
Es war so viel schlimmer als alles, was ich erwartet hatte.
Meine Beine gaben nach, als ich auf die Knie sackte, als mir Tränen über die Wangen liefen und als mein Schrei zu einem Schluchzen wurde.
Mir war eiskalt.
Ich schwitzte.
Die Gänsehaut kribbelte an meinem Körper wie hunderte kleiner Ameisen.
Die Hütte...
Das Bett...
Alles...
Alles war ein Blutbad.
Ich musste hinsehen. Ich musste es mir einfach ansehen.
Ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Ich konnte es einfach nicht.
Da war so viel Blut.
So viel Blut...
Die Tränen wollten nicht aufhören, rannen eiskalt weiter über meine Wangen, bis sie mein Kinn erreichten und auf den Boden tropften, der ebenfalls voller Blut und Fleisch war.
Die Körper, sie... sie waren in Fetzen gerissen.
Es war schlimmer als in meinen Albträumen, so viel schlimmer.
Es war... es war...
Ich übergab mich auf den Boden, vermischte das Fleisch, das Blut und all die herausgeschnittenen Organe mit meiner bitteren Galle.
Ich würgte weiter, versuchte währenddessen so gut wie möglich, nicht durch die Nase zu atmen, auch wenn es aufgrund der Umstände nicht anders funktionierte.
Der Geruch nach Erbrochenem, nach Blut, nach Verwesung und Tod lag in der Luft wie ein seidiges Tuch, das mir die Luft abschnürte.
Atmen war schwer.
Die Leichen...
All die Leichen...
Es war wie in einem Schlachthof.
Die Reste der Körper hingen von der Decke, lagen auf dem blutbesudelten Bett, auf dem kleinen Tisch oder waren mit rostigen Eisenketten an die Wand der Hütte gefesselt.
Mein Vater, dessen Kehle aufgeschlitzt war wie die eines gemästeten Schafes, lag neben dem Bett. Schnitte verzierten seine gebrochenen Arme und verstümmelten Beine..
Ich schluchzte.
Meine Mutter hing von der Decke, der Länge nach brutal aufgeschlitzt, alle Organe auf dem Bett verteilt wie eine grausame, schreckliche Antiquitätenausstellung. Ihre magentafarbenen Augen hatte jemand aus ihrem hübschen Gesicht entfernt.
Ich würgte erneut, wurde einen weiteren Teil meines Mageninhalts los.
Es war genau wie vor all den Jahren.
Es war genau wie in jener Nacht, als er sie gefoltert, aufgeschnitten und getötet hatte, nur um mir damit zu schaden, nur um sich an mir zu rächen.
Und doch war es so viel schlimmer.
Es war so viel schlimmer als in jener Nacht, in jenem Schlafzimmer im Palast von Synth, in welchem sie so friedlich geschlafen hatten, als er sie aufgeschlitzt hatte.
Es war so viel schlimmer, weil die Leichen meiner Eltern nicht die einzigen waren.
Jasmine... Jasmines Körper war an die Wand gefesselt, ihr Schienbein von spitzen Zähnen angefressen, ihre Arme und Hände von Bisswunden verunstaltet, während an den Knöcheln und Handgelenken deutliche Schnitte von den eisernen Ketten zu sehen waren. Ihre Nase war ebenfalls abgefressen, genau wie eine ihrer Augenbrauen und...
Und...
Ich wimmerte, als ich die Knochen sah, die jemand in ihre Haut gesteckt hatte wie Messer, bis sie verblutet war. Gestorben durch die Hand dieses schrecklichen, schrecklichen Clowns
Dann war da Cassandra oder besser gesagt ihr Kopf, der auf einem Silbertablett auf dem Tisch lag. Ihre violetten Haare waren blutverkrustet und ihre leeren Augen starrten mich anklagend an.
Schaudernd musste ich mich ein weiteres Mal übergeben.
Es war Folter.
Es war reine, psychische Folter, was er hier mit mir machte, mich anzusehen zwang.
Ich hörte sein grausames, psychopathisches Lachen in meinen Ohren, als ich mir mit dem Handrücken den Speichel von den Mundwinkeln wischte.
Ich begann zu zittern, wobei weitere Tränen über mein Gesicht liefen.
Sie waren hier.
Sie waren alle hier, sogar Finn und Tray und Merilla.
Alle meine Freunde, alle meine Liebsten...
Zerstückelt, gefoltert, ausgenommen wie tote Tiere auf dem Schlachthof.
Ryn hatte sich für jeden von ihnen etwas Schlimmeres einfallen lassen als für einen anderen und so sah ich mich tausend Albträumen, tausend Ängsten gegenüber, die mein Herz einfach nicht verkraftete.
Spencer, in viele kleine Stücke gesägt und neu zusammengesetzt.
Ivory, in Gestalt eines gerupften Vogels, der ausgestopft an einer der Wände hing und dort als Kleiderhalter diente.
Finn, von dem nicht mehr wirklich etwas übrig war.
Ich...
Ich hatte ihnen das angetan.
Ich war es gewesen, weil ich sie nicht hatte retten können.
Lyane, deren schönes, ernstes Gesicht genau wie der Rest ihres Körpers ebenfalls gefoltert und verstümmelt worden war.
Tray, die über und über verbrannt war, ein verkohlter Kopf das einzige, was ich von diesem schönen, freundlichen Gesicht noch erkennen konnte.
Chandra, die ebenfalls aufgeschnitten und zerstückelt worden war, bis ihre Schreie schließlich verstummt waren.
Ich war das gewesen.
Ich hatte sie nicht gerettet, hatte sie nicht beschützen können, weil ich so ein verdammter Feigling gewesen war.
Ich allein war schuld daran, dass er das mit ihnen gemacht hatte.
Dominic, dessen Gesicht so verunstaltet war, dass ich es nicht einmal beschreiben konnte. Schnitte, Brandzeichen und Blutergüsse, deren Farbe zwischen blau, grün und gelb variierte, überzogen seinen geschundenen Körper.
Und schließlich Calin, dessen Körper mit einer Art Mistgabel für ewig an der Wand festgenagelt war. Nackt und ohne weitere Verletzungen, bis auf die Einstichstellen der Heugabel und der blutigen, zerfransten Stelle zwischen seinen Beinen, wo...
Ich wimmerte erneut und brach auf dem Boden zusammen.
Meine Tunika saugte sich mit Blut und Erbrochenem voll, meine Waffen bohrten sich in meine Seiten wie scharfe Nadeln und auch mein Gesicht konnte nicht entkommen, sondern schlug mit voller Wucht auf den Boden, welcher immer noch mit diversen Sekreten überzogen war.
Meine Nase brach mit einem schmerzhaften Knirsch, das durch meinen Körper hallte wie eine Explosion.
Ich war schuld.
Ich... ich hatte sie nicht gerettet, ich hatte sie nicht beschützt.
Was war ich nur für eine schlechte Freundin? Für eine Versagerin, die nichts auf die Reihe brachte?
Da war wieder dieses Lachen. Dieses leise, raue Versprechen, dass ich bald auch so enden würde wie meine Freunde.
Tot.
In Stücke gehackt, von Nägeln durchbohrt und brutal ausgenommen.
Ich hieß es willkommen, umarmte die Dunkelheit und das Blut in diesem Versprechen, das mich für immer von Schmerz und Qual erlösen würde.
Ich umarmte die Worte, die ich in meinem Kopf hörte, die mir drohten und mich auffraßen wie ein serviertes Gericht.
Diese Worte in meinem Kopf, die ich so sehr verabscheute, dass ich einfach nur eine Säge nehmen und jeden Ton in dreitausend Teile zerlegen wollte.
Diese Stimme, die...
Diese sanfte, weiche Stimme voller Vertrauen, voller Wärme, die mir so bekannt vorkam.
Ich denke, du bist zu weitaus mehr fähig als du weißt, Aria Pencur.
Das war Chandra.
Chandra.
Chandra war tot.
Ich konnte ihre Stimme nicht hören, weil sie tot war.
Meinetwegen.
Ich spüre nur diese Kraft. Diese unglaublich große, unglaublich mächtige magische Kraft, die mein Körper mich fühlen lässt, die meine Magie mir zeigt.
Cassandra, die mir von ihren Visionen erzählte.
Es war Ryns Macht, die sie fühlte.
Es war diese magentafarbene Macht des synthischen Königs, die die Hütte zum Strahlen brachte.
Es war... es war...
Das ist mein Albtraum. Du bist mein Albtraum.
Dominic, nachdem er mich geküsst hatte.
Sein Albtraum...
Ich war sein Albtraum.
Wir werden ihn besiegen.
Calin.
Wir werden es irgendwie schaffen, seine Macht zu brechen, Aria. Jede Magie hat einen Schwachpunkt und wir werden ihn finden. Zusammen.
Auch Calin.
Seine Worte hallten in meinem Kopf wider wie ein Fluch, wie diese magentafarbene Macht, die die Hütte flutete, sie zum Strahlen brachte, sie leuchten ließ wie einen Stern und noch heller.
Jede Magie hat einen Schwachpunkt.
Du bist mein Albtraum.
Diese unglaublich große, unglaublich mächtige magische Kraft.
Ich schaffte es, die Augen zu öffnen.
Ich sah nichts außer pinkem Licht, pinker Macht, die durch den Raum floss wie ein beruhigender Atem, der mir wieder Leben einhauchen wollte.
Das war ich.
Das war meine Farbe, meine Magie.
Diese unglaublich große, unglaublich mächtige magische Kraft.
Ich holte zitternd Luft, als mir klar wurde, wie ich vor meinem Tod aus diesem psychischen Gefängnis für meinen Geist, aus diesem magischen Käfig entkommen war.
Durch meine Magie, die auch jetzt seiner Macht alle Kraft, alle Intensität raubte.
Kein Grün.
Keine Furcht.
Magenta.
Nur Wut.
So viel Wut.
Und in diesem Moment wusste ich es plötzlich.
Ich wusste, dass er nie eine Chance gegen mich gehabt hatte, dass er mich nie mit seiner Macht hätte besiegen können und dass ich schon gewonnen hatte, auch wenn er das noch nicht begriffen hatte.
Er hatte sich vor all den Jahren sein eigenes Grab geschaufelt, als er meine Eltern gefoltert und getötet hatte, als er mich verfolgt und geächtet hatte wie ein Irrer.
Als meine größte Angst geboren worden war, die nicht diese Hütte, nicht diese Leichen war.
Du bist mein Albtraum.
Jede Magie hat einen Schwachpunkt.
Vielleicht war ich dieser Schwachpunkt, vielleicht war ich dieses Loch in der unendlichen grünen Macht.
In jedem von uns steckt eine Prinzessin, ein König, ein Feldherr. Man braucht dafür keine Krone, kein Reich, kein Heer, hallte Chandras Stimme in meinem Kopf wieder.
Sie hatte Recht.
Sie hatte die ganze Zeit über Recht gehabt und ich hasste und liebte sie dafür, dass sie meine Freundin war.
Chandra, Prinzessin der Wüsten.
Kaya, Schlächterin eines Königreichs.
Sie wurden mit diesen Titeln nicht geboren, wurden mit diesen Taten, die sie beide vollbracht hatten nicht geboren.
Ich atmete zitternd aus.
Ryn, König der Albträume.
Auch das war nur ein Titel.
Ein Titel, den ich übertreffen könnte, wenn ich nur wollte.
Ich holte tief Luft, als die Wut in mir noch heller, noch heißer, noch verheerender aufflammte.
Ryn.
Er war ein König, aber ich...
Ich war mehr.
Ich war so viel mehr als er, hatte so viel mehr durchgestanden, so viel mehr ertragen.
Ich hatte mehr Wut in mir, mehr Liebe, mehr Furcht.
Und wenn er ein König war, dann musste ich eben mehr werden als das, musste mehr werden als er es jemals sein könnte.
In diesem Moment war ich nicht Aria, die Meisterdiebin oder Aria, Hauptwachtmeisterin der königlichen Garde.
In diesem einen, entscheidenden Moment war ich mehr als er, war ich mehr als eine Königin.
Ich war Aria, Kaiserin.
Kaiserin der Diebe.
Kaiserin der Wut.
Ich würde nicht vor einem König knien. Nie mehr.
Mein Körper wurde in magisches Licht getaucht, als die Magie um mich herum sich bündelte und zu einer magentafarbenen Krone auf meinem Kopf wurde, die heller leuchtete als jeder Stern, als jede Sonne.
Meine Augen strahlten in demselben hellen Licht, funkelten mit derselben Wut, derselben Kraft, die ich nun endlich voll und ganz akzeptierte.
Ich war Aria Pencur, Kaiserin der Diebe und der Wut.
Ich trug eine Krone aus Blut, Schmerz und Nebel.
Ich hatte ein Herz aus Feuer und Eis, aus Frost und Glut.
Ich würde nie mehr knien, nie mehr davonlaufen.
Zitternd stand ich auf.
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