28
Ich schluckte Wasser.
Der ekelhafte Geschmack in meinem Mund ließ mich würgen, brachte mich zum Husten, wodurch nur noch mehr Flüssigkeit in meinen Mund und meine Luftröhre strömte.
Ich schluckte nicht nur Wasser.
Die Exodis war ein dreckiger, brauner Fluss, der in einem Bett aus Schlamm und Erde lag, in dem vermutlich über drei Millionen verschiedene Bakterien wohnten und der als inoffizieller öffentlicher Mülleimer für die Stadtbewohner von Eyelas diente.
Ich schluckte Dreck und vermutlich auch diverse Fäkalien, wenn man der Farbe des Wassers Beachtung schenkte.
Irgendeine widerliche Mischung aus Braun, Grau und Gelb.
Ich hustete wieder, was nur dazu führte, dass ich erneut würgen musste, um mich davon abzuhalten, in den Fluten zu ertrinken.
Ich strampelte mit Händen und Füßen, versuchte irgendwie zu schwimmen, obwohl die Strömung der Exodis mich mitriss, mich unter die Wasseroberfläche zog, bis ich kaum noch Luft bekam.
Ich passte meine Bewegungen an die Strömung an, um zumindest irgendwie über Wasser bleiben zu können.
Ich hatte Dreck in den Ohren, in der Nase, in den Augen.
Meine Sicht war von Erde und Wasser getrübt und der einzige Sinn, auf den ich mich noch verlassen konnte, war mein Tastgefühl.
Ich erreichte mit den Füßen nicht den Boden tief unter mir, konnte mich mit den Händen nicht an einem Ufer festhalten, da beide Seiten zu weit entfernt waren, um auch nur an Hilfe von dort zu denken.
Die Masse des Wassers drückte mich nach unten, erschwerte meine Bewegungen, ließ meinen Körper schlaff werden wie Gummi, trübte meine Wahrnehmung bis ins Unendliche.
Bald schon erkannte ich am Rand meines verschwommenen Sichtfelds weiße Punkte, die die anstehende Ohnmacht ankündigten wie blinkende Warnschilder.
Ich musste aus diesem Fluss, bevor ich ohnmächtig wurde und in den endlosen Fluten, dem unbarmherzigen Reißen ertrank.
Ich konnte nicht den Wald, die Wölfe, den Sprung aus dem Fenster überlebt haben, um jetzt hier zu ertrinken.
Merilla und meine Eltern konnten nicht gestorben sein, nur damit ich jetzt hier in den Fluten ertrank.
Ich musste weg von hier, weg aus dem Fluss, weg aus diesem verdammten Königreich.
Mit aller Kraft, die ich nach diesem schrecklichen, schicksalhaften Abend noch in mir hatte, bewegte ich meine Füße, meine Hände, meinen gesamten Körper im Einklang mit den Wellen, um irgendetwas zu fassen zu bekommen.
Ich betete.
Ich betete zum ersten Mal in meinem Leben zu einem Gott, dessen Namen ich nicht einmal kannte.
Währenddessen hörte ich nie auf, meine Arme und Beine zu bewegen, in der winzig kleinen Hoffnung, dass ich mich doch noch irgendwie retten könnte.
Irgendjemand würde mein stilles Gebet hören.
Irgendjemand...
Bitte.
Dieser letzte Gedanke, dieses letzte Wort war alles, was ich zu geben hatte, war alles, was ich zu denken wagte, immer und immer wieder.
Bitte.
Aber niemand hörte mich.
Die Fluten erstickten meine Schreie, meine Hilferufe.
Meine Übertragungsmacht konnte mir nicht helfen, solange ich meine Hände nicht auf etwas Magisches legte.
Ich war hilflos ausgeliefert, in den Fluten der Exodis zu ertrinken.
Nein.
So durfte es nicht enden.
Nicht nach allem, was ich heute überlebt hatte.
Ich musste weiterkämpfen, durfte nicht aufgeben, nicht loslassen, nicht alles wegwerfen, was Merilla mir geschenkt hatte, als sie sich vor mich geworfen hatte.
Ich durfte nicht...
Da!
War das etwa ein Baumstamm, den meine verdreckten, verklebten Augen dort auf dem Wasser treiben sahen?
Ich klammerte mich an die Hoffnung, musste mich daran klammern, weil sie das einzige war, was mir noch übrig blieb.
Das einzige, was mir noch nicht genommen worden war.
Ich hatte keine Freunde, keine Familie, kein Zuhause mehr.
Ich strampelte mit all meiner Kraft, all meiner Energie, all meinem Willen.
Ich strampelte und klammerte mich dabei immer fester an die Hoffnung, dass mir meine Augen vielleicht keinen Streich spielten, dass das vielleicht wirklich ein Baumstamm war, den ich dort hatte treiben sehen.
Ich hatte nicht einmal noch genug Leben in mir, um erleichtert zu seufzen, als ich meinen Körper auf den improvisierten Rettungsring hievte.
Sofort übermannte mich die Schwärze.
---
Das nächste, woran ich mich erinnerte, waren sanfte Hände, die mich wachrüttelten.
Ich stöhnte nur.
„Nein, Merilla, ich will jetzt noch nicht aufstehen, bitte lass mich schlafen!"
Sie war immer eine Frühaufsteherin gewesen und ich schon immer ein Morgenmuffel. Aber Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an, also machte unsere Freundschaft wohl irgendwie Sinn.
Ein leises Lachen. „Was auch immer du da träumst, wach endlich auf!"
Ich wollte nicht aufwachen.
Ich wollte, dass das alles, dass dieser Albtraum, den ich gestern Abend erlebt hatte... ich wollte, dass das nicht wahr war, dass ich das geträumt hatte...
Aber ich wusste, dass es stimmte.
Merilla war tot.
Meine Eltern waren tot.
Meine Heimat war keine Heimat mehr.
Aber ich hatte irgendwie, fast wie durch Zauberhand überlebt.
Ich schlug die Augen auf.
Schwarz lackiertes Holz, das im Morgenlicht, welches durch das große Fenster fiel, zart schimmerte, erwartete mich.
Schwarz wie sein Haar, schwarz wie sein Herz.
Mein Körper wurde von irgendetwas stark durchgerüttelt.
Ich spürte eine Unebenheit, eine Bewegung, welche mich darauf schließen ließ, dass ich mich in einer Kutsche befand, die allem Anschein nach über einen Schotterweg fuhr.
Das Rattern der Räder erinnerte mich an das Rauschen der Exodis und ich musste erneut schaudern.
Wie hatte ich überlebt?
Wie war das alles überhaupt möglich?
Hatte vielleicht doch ein längst vergessener Gott mein Gebet erhört und mich beschützt?
„Du siehst ziemlich gut aus für jemanden, der gerade halb in der Exodis ertrunken ist", sagte eine Stimme, die mir so... bekannt vorkam.
Das Mädchen, das mich gerettet hatte und dessen Gesicht ich vergessen würde.
Aber ihre Stimme...
Irgendetwas an dieser hellen, femininen Stimme kam mir so verdammt bekannt vor, auch wenn das Mädchen zu diesem Zeitpunkt höchstens vierzehn oder fünfzehn sein konnte.
Ihre Stimme...
Ich kannte ihre Stimme und trotzdem klang sie irgendwie fremd... anders als ich sie in Erinnerung hatte.
„Ist alles gut?", fragte das Mädchen mit der vertrauten Stimme, dessen Gesicht in dieser Erinnerung verschwommen war.
Ein Wirbel aus heller Haut, vermutlich braunen oder blonden Haaren und irgendeiner Augenfarbe, die sich jedoch in der Unschärfe verlor.
Ich erinnerte mich nicht an sie.
„Hallo?", fragte sie noch einmal.
Diese Stimme.
Ich kannte diese verdammte Stimme!
„Ist alles gut?", wiederholte das Mädchen ihre Frage.
Zögernd wollte ich nicken, wollte sie anlügen über alles, was geschehen war.
Ich schaffte es nicht.
Schaffte es nicht, meinen Kopf zu heben und ihr diese Lüge aufzutischen.
Nicht ihr, wo sie doch diejenige gewesen war, der ich jetzt mein Leben verdankte.
Seufzend schüttelte ich den Kopf.
Sie sagte nichts, aber ich spürte ihre neugierigen Augen auf mir, deren Farbe ich immer noch nicht erkennen konnte.
Ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren.
Ich wusste sofort, dass ich nur ihre Augenfarbe brauchte, um ihren Namen zu kennen.
Ihre Augenfarbe...
„Mal abgesehen davon, dass ich gerade fast ersoffen wäre, geht es mir psychisch auch noch ziemlich beschissen", erklärte ich, zu erschöpft, eine schönere Formulierung zu finden, eine glaubwürdige Lüge aufzutischen. „Die Nacht war... heftig für mich."
Ich wusste nicht, weshalb ich mich ihr anvertraute.
Vielleicht einfach deshalb, weil ich niemand anderen mehr hatte.
Keine beste Freundin, keine Eltern.
Ich war vollkommen allein.
Ich hätte schwören können, dass die Fremde mich anlächelte, auch wenn dieses Lächeln nur ein kurzes Aufblitzen von weiß in ihrem verschwommenen Gesicht war.
Ihre Augenfarbe... ich musste nur ihre Augenfarbe sehen...
Ich wusste, dass ich sie irgendwoher kannte.
Dass ich sie nach diesem Tag in der Kutsche noch einmal gesehen hatte.
„Es tut mir leid... ehrlich", murmelte sie und legte ihre Hand auf meinen Oberschenkel.
Ich hasste sie dafür, dass sie nicht meinen Arm berührte, sodass ich ihre Magie spüren konnte, ihre Macht zuordnen.
Ich hasste sie dafür, dass der Stoff meiner durchnässten Hose ihre Haut von meiner trennte.
Meine Mundwinkel verzogen sich zu einer leichten Grimasse. „Ich will dein Mitleid nicht. Es ändert nichts."
Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Es teilt den Schmerz und macht ihn kleiner."
Diese Worte...
Diese Worte passten nicht zu der Stimme.
Dennoch merkte ich, dass sie irgendwie recht hatte.
Mein Herz... mein zersprungenes Herz...
Es tat ein kleines bisschen weniger weh.
Ich hatte überlebt.
Ihr Opfer war etwas wert gewesen.
Ich war es wert gewesen und nur das zählte.
„Danke", brachte ich mit schwacher Stimme hervor. „Danke, dass du das alles für mich getan hast."
Sie lachte leise.
Es war ein reines, schönes, ehrliches Lachen.
Auch das klang falsch.
„Kein Problem", antwortete sie. „Hätte ich dich etwa einfach so ertrinken lassen sollen? Wäre das, was ein guter Mensch machen würde?"
Ein guter Mensch.
Irgendetwas in meinem Inneren sagte mir, dass auch diese Worte nicht zu der Stimme passten, die mir nach wie vor viel zu bekannt vorkam.
„Vermutlich nicht", entgegnete ich nur und ließ mich schließlich gegen die Lehne der hölzernen Bank gleiten, die sich in meinen Rücken bohrte, mich daran erinnerte, dass ich am Leben war.
Ich lebte.
Ich hatte die Wölfe überlebt, hatte Ryn überlebt, hatte die Exodis überlebt.
Ich war hier und ich war lebendig.
„Mein Begleiter ist ein Wassermagier", fügte sie hinzu. „Derjenige, der gerade die Kutsche lenkt, weißt du?"
Ich nickte schwach.
„Es war kein großer Aufwand, ihn dazu zu überreden, dich aus den grausamen Fluten dieses Flusses zu retten. Ich habe mir nicht einmal mein Kleid ruiniert!", meinte sie, vermutlich grinsend. „Auch, wenn ich das natürlich getan hätte, wenn es nicht auch anders gegangen wäre."
Ich spürte ihr Zwinkern, obwohl ich ihre Augen nicht sah
Ich wusste, dass dieses Zwinkern der Grund war, weshalb meine Mundwinkel sich hoben. Für ein sehr sehr schwaches Lächeln.
„Na siehst du?", fragte sie. „Tut es nicht gut, wieder zu lachen?"
Ich nickte und mein Lächeln wurde breiter.
Mir fiel auf, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern konnte, in letzter Zeit wirklich gelächelt zu haben.
Wirklich, ehrlich gelächelt.
Dieser Gedanke wischte das Grinsen aus meinem Gesicht.
„Wo sind wir?", fragte ich stattdessen. „Bitte sag mir, dass wir nicht in Eyelas sind. Bitte bitte nicht!"
Die Fremde legte den Kopf schief. „Eyelas? Wie kommst du denn darauf? Wie lange warst du denn bitte in diesem Fluss!?"
Ich zuckte merklich zusammen. „Ihr habt mich nicht in Eyelas gerettet?"
Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Nein... wir haben dich aus der Exodis gezogen, als du Eyelas gerade verlassen hattest. Seither warst du bewusstlos, also dachten wir, wir würden dich einfach mal mitnehmen und dann-"
Ich stieß ein harsches, bitteres Lachen aus, das die Fremde zusammenzucken ließ. „Ihr dachtet, ihr würdet mich einfach mal so mitnehmen? Und dann was? Dann werde ich bei euch leben wie ein Haustier?"
Ich wusste, was für schreckliche Dinge auf den Straßen von Eyelas geschahen. Und ich hatte den Verdacht, dass wo auch immer sie mich hinbringen würden... dass es dort genau so schlimm war.
„Nein", antwortete sie. „Nein, wir würden dir anbieten, bei uns zu leben... wenn du das willst, natürlich. Wir könnten dich ausbilden, dich zu einer Kriegerin machen, damit du dich selbst verteidigen kannst, wenn es einmal mehr darauf ankommt"
„Also seid ihr Assassinen?"
Sie lachte.
Dieses reine, perlende Lachen, das so verdammt falsch klang, dass ich ihr verschwommenes Gesicht mit meinen Fingernägeln zerkratzen wollte, bis nichts mehr außer Blut und Knochen übrig war.
„Viel schlimmer", entgegnete sie schließlich.
Ich schluckte.
Ich wusste, dass sie nur darauf wartete, dass ich die unausweichliche Frage stellte.
Nach etwa einer halben Minute hielt ich das Schweigen nicht mehr aus.
Meine Geduld war definitiv das erste, was ich trainieren würde, wenn ich jemals die Chance dazu bekäme.
„Was ist die Alternative?", flüsterte ich.
Das Mädchen verzog das Gesicht und deutete aus dem Fenster, wo ich eine Stadt erkennen konnte, die nicht zwischen Bergen erbaut worden war, durch die kein reißender Fluss strömte und in der es keinen König mit einer Onyxkrone gab.
Eine Stadt, in der für mich eine Zukunft existierte.
„Die Alternative", antwortete sie. „Ein Leben auf den Straßen der Stadt. Ein Leben in den Schatten, in Verborgenheit. Dort wirst du ebenfalls lernen, dich selbst zu verteidigen. Hoffentlich nicht zu spät."
Ich wusste sofort, dass es dumm war.
Ich wusste, dass ich ihr Angebot annehmen sollte, mit ihr zu ihrem Zuhause zu reisen und dort zu trainieren, mich dort ausbilden zu lassen.
Aber irgendetwas an ihrer Aussage, hatte mich wohl zu dieser anderen Möglichkeit, zu dieser tödlichen Alternative geleitet, vor der sie mich hatte warnen wollen.
Verborgenheit.
Auf den Straßen wäre ich verborgen. Versteckt und unsichtbar.
Er würde mich niemals finden, wenn ich auf den Straßen dieser Stadt lebte, wenn ich mich unauffällig verhielt und in den Schatten verschwand, bis ich bereit war, mich ihm zu stellen.
Dann könnte ich ihm einen kleinen Hinweis hinterlassen, der ihn direkt zu mir führen würde.
Aber erst, wenn ich gelernt hatte, mich selbst zu verteidigen. In den Straßen zu überleben.
Wenn ich kämpfen konnte, wenn ich überleben konnte, wenn ich unsichtbar werden konnte.
Verborgenheit.
Ein Leben in Verborgenheit, auch wenn es noch so tödlich war.
Es war wie eine Stimme, die mich zu sich rief.
Ein Schicksal, das mich zu sich holte.
Ein Ruf, den ich erhören musste.
Ich hatte mich entschieden, noch bevor ich die Worte aussprach.
„Ich möchte auf den Straßen leben... Bitte", sagte ich. „Ich möchte im Verborgenen leben, wo meine Feinde mich nicht finden können, außer wenn ich es will."
Die Fremde zuckte mit den Achseln, doch ich hörte ihre Enttäuschung aus ihrer Stimme, als die Kutsche anhielt und sie die Türe öffnete.
„Ich habe damit gerechnet, dass du nicht mitkommen willst", seufzte sie und gestikulierte ausladend auf die Straße, auf der wir gehalten hatten.
Ich schluckte schwer und sah sie ein letztes Mal an.
Nahm ein letztes Mal dieses verschwommene Gesicht in mich auf, das mir so verdammt bekannt vorkam.
„Wir wären gute Freundinnen geworden", versicherte sie mir, als ich langsam und mit zitternden Beinen aus der Kutsche trat.
Der Boden unter mir fühlte sich weich und warm und einladend an.
So... richtig.
Ich wusste, dass ich zuhause war.
Eine Drehung um die eigene Achse reichte aus, um die Häuser zu sehen, deren rote Dächer in der Morgensonne schimmerten.
Ein Atemzug war genug, um diesen unglaublichen Geruch einzuatmen. Nach Stadt, nach Regen, nach Alkohol, nach Rosen, nach Schokolade, nach Zitrone, nach Minze, nach Lavendel, nach Vanille, nach...
Nach allem, was ich mir je erträumt hatte.
Nach Heimat.
Ein Moment war genug, um den Frieden willkommen zu heißen, der nur eine Illusion sein konnte.
„Danke", sagte ich, als ich die Fremde wieder ansah. „Danke für alles."
Ich hätte schwören können, dass sie lächelte. „Kein Problem", erwiderte sie und griff hinter sich in die Kutsche.
Ich fing die trockene Kleidung auf, die sich weich und warm in meinen Händen anfühlte.
Erneut erfüllte Dankbarkeit mich, aber ich war so überwältigt von dem Gefühl, dass ich keine Worte hervorbrachte.
Sprachlos.
Ich war einfach sprachlos.
Das Mädchen machte die Tür der Kutsche zu und winkte mir zum Abschied aus dem kleinen Fenster darin zu.
„Willkommen in Akar... ähm..."
Mir fiel auf, dass sie meinen Namen noch gar nicht kannte.
Ich grinste sie an. „Ariad-"
Mitten im Wort brach ich ab.
Vielleicht war es besser, wenn sie nicht wusste, wer ich wirklich war oder wo ich herkam.
Vielleicht war es besser, wenn niemand diese Sachen über mich wusste.
Vielleicht war es besser, sie in diesem einen Punkt anzulügen.
„Aria", verbesserte mich. „Ich bin Aria."
Sie lächelte. „Na dann, willkommen in Akar, Aria."
Die Kutsche fuhr weiter und ich sah ihr noch lange hinterher, beobachtete, wie sie die Straße entlang ratterte und den Staub hinter sich aufwirbelte.
Als sie um eine Ecke verschwand und ich sie schließlich nicht mehr sehen konnte, drehte ich mich ein weiteres Mal, nahm meine Umgebung in mich auf, atmete sie ein, spürte sie in meinem Gesicht, auf meiner Haut, in meiner Brust und in meinem Herzen.
Akar.
Die Stadt der Rosen und der Wiesen und der Hoffnung, die ich vor vielen Jahren einmal mit meinen Eltern besucht hatte.
Mavar.
Das Land der Felder und der Wälder und der Träume.
Akar.
Nicht Eyelas.
Akar.
Weit weg von Synth.
Weit weg von Ryn.
Weit weg von meiner Vergangenheit.
Vielleicht war es feige.
Vielleicht war es schwach.
Vielleicht war es sogar idiotisch.
Aber als ich die Straße entlanglief, als die Geräusche der Stadt in meinen Ohren widerhallten, als ich die ersten Menschen sah, die hier lebten...
In diesem Moment war ich wirklich frei.
Wirklich glücklich.
Aria.
Ich bin Aria.
Immer wieder hörte ich mich, wie ich diesen Namen aussprach, wie er über meine Lippen floss wie süßer Honig.
Aria. Ich bin Aria.
Ich lächelte, als ich Akar umarmte, als ich die Stadt mit offenen Armen willkommen hieß.
Aria. Ich bin Aria.
Und ich wusste, dass es stimmte.
Ich war Aria.
Aria.
Aria.
Der Name fühlte sich an wie die Melodie, die ich mein Leben lang gesucht hatte.
Aria.
---
Es war etwa ein halbes Jahr später, als mir die schreckliche Nachricht zu Ohren kam.
Der König von Synth war tot.
Der Prinz würde noch in diesem Monat gekrönt werden und schließlich die Herrschaft über sein neues Königreich übernehmen.
Es war der zweitschlimmste Tag meines Lebens.
Ryn war jetzt König von Synth.
Er hatte jetzt eine ganze Armee, die ihm folgte und die er nach mir ausschicken konnte, wann immer es ihm gefiel.
Eine ganze verdammte Armee!
Ich musste nicht weiter darüber nachdenken, um zu wissen, was das für mich bedeutete.
Entweder ich würde unsichtbar bleiben, würde mein Leben in den Schatten, in der Dunkelheit und der Sicherheit fortsetzten wie bisher und dabei alles perfektionieren, jeden Schritt noch mehr kontrollieren und jeden Atemzug überdenken.
Oder er würde mich finden. Foltern. Und schließlich töten.
Ein eiskalter Schauder lief mir über den Rücken, als ich mich für die erste der beiden Möglichkeiten entschied.
Für mein Leben.
Und all meine Haare standen plötzlich zu Berge, als mir bewusst wurde, dass er mich trotzdem irgendwann finden würde.
Später, versprach ich mir.
Darüber würde ich mir später Gedanken machen.
Jetzt musste ich mich erst einmal darauf konzentrieren, den ewigen Hunger in meinem Bauch zu stillen.
Das Leben auf den Straßen war verdammt anstrengend.
Es bestand nur aus Stehlen, Hungern und Verstecken.
Aber ich wusste trotzdem, wusste tief in meinem Herzen, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, dieses Leben zu wählen.
Dieses anstrengende, tödliche Leben, das mir so viel gezeigt hatte, mich so viel gelehrt hatte, wie die sechzehn Jahre in Mendyr, dem Palast von Synth es niemals auch nur annähernd hätten schaffen können.
Mein Gesicht war kantiger, knochiger, eingefallener.
Mein Körper war leichter, dünner, zerbrechlicher.
Meine Augen waren leerer, lebloser, hungriger.
Die Mülltonne war so einladend.
Diese riesige, riesige Mülltonne, in der so viel Essbares war, das die Adeligen im Palast immer wegwarfen, weil sie niemals in ihrem Leben so viel Hunger haben könnten, um das alles aufzuessen, was täglich in dieser Tonne landete.
Es war zu einfach, aus den Schatten zu schlüpfen, über die Straße zu eilen und den Deckel zu öffnen, um darin nach einem Sandwich zu graben.
Nach irgendetwas, das ich essen konnte.
Sogar ein einziger Apfel wäre genug!
In letzter Zeit war ich oft hier gewesen.
Einmal in der Woche wagte ich es, zu der großen Mülltonne am äußeren Rand der Palastmauer zu sprinten und mir eine Kleinigkeit daraus zu nehmen und zu essen.
Mehr als dreimal in der Woche aß ich nicht.
Ich hatte kein Geld, keine Arbeit und nicht den Nerv dazu, jeden Tag etwas aus den Mülltonnen anderer Leute zu stehlen.
Ich hatte schlechte Erfahrungen gemacht.
Mit verfaultem Essen, angriffslustigen Ratten und geizigen Menschen, die einem verhungernden Mädchen nicht einmal ihre Abfälle überlassen wollten.
Zu spät bemerkte ich den Wachmann auf der Mauer.
Zu spät sah ich das Aufblitzen seines Bogens, seiner Pfeile.
Zu früh hatte sich die eiserne Spitze in meine Schulter gebohrt.
Ich zuckte zurück, fletschte die Zähne und zischte schmerzerfüllt.
Ich gönnte ihm nicht die Genugtuung, zu schreien. Wollte sie ihm nicht geben.
Er lachte nur, als er mich so sah, mit blutender Schulter, abgemagertem Körper und hungrigen, so hungrigen Augen.
„Verschwinde dahin, wo du hergekommen bist, Straßenratte!", schrie er von seinem Posten zu mir herunter.
Flehend hob ich den Kopf. „Bitte. Ich habe nichts zu essen!", rief ich ihm zu.
Er war wie aus Eis.
Ich erkannte keine Gefühlsregung in seinem Gesicht, keine Änderung seiner Körperhaltung.
Es war ihm egal.
Ich verhungerte und es war ihm einfach egal.
„Verschwinde!", rief er erneut und legte den nächsten Pfeil in die Sehne.
Als ich mir sicher war, dass er nicht nur bluffte, sondern wirklich erneut schießen würde, drehte ich mich um und rannte erneut über die Straße.
Er war schneller.
Der zweite verdammte Pfeil war schneller.
Der Schmerz, der in meinem Bein explodierte, war nichts im Vergleich zu der unendlichen, unendlichen Wut in meinem Herzen, die all meine Adern zu verbrennen schien.
Er lachte.
Der Mistkerl lachte, weil er mich mit dem Pfeil getroffen hatte und ich jetzt humpelte.
Er lachte.
Genau so wie das Feuer in meiner Brust, als ich die bittere Wahrheit erkannte.
Die Menschen, die nie hatten hungern müssen, die in Luxus lebten und badeten, die sich niemals Sorgen um ihr Überleben machen mussten...
All diese Menschen wussten nicht, wie es war.
Wie es war, auf den Straßen zu leben.
Wie es war, jeden Tag um ihr Überleben kämpfen zu müssen.
Und in diesem Moment wurde mir klar, dass ich sie hasste.
Ich hasste diesen Wachmann für das, was er getan hatte.
Ich hasste den Palast, weil er ein Zuhause war, wie ich keines mehr hatte.
Und ich hasste alle seine Bewohner, weil sie nicht wussten, wie es war, wenn man nichts mehr hatte, für das es sich zu leben lohnt.
Ich umarmte diesen Hass, diesen Zorn, diese Wut, die ich nie mehr loslassen würde.
Sie gab mir Kraft, gab mir Stärke, gab mir Ausdauer für das, was kommen würde.
Für den Kampf, den ich nicht verhindern konnte.
Ich sackte an einer Backsteinmauer zusammen, vergrub den Kopf in den Armen und begann zu weinen.
Ich weinte.
Endlich.
Ich weinte über Merilla, über meine Eltern, über mein Zuhause.
Über all das, was ich verloren hatte.
Ließ es endlich los.
Ich konnte mich nicht erinnern, wie lange ich dort gesessen und geweint hatte.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, wie viele Leute mich angestarrt und an mir vorbeigelaufen waren, als wäre ich ein Haufen Dreck.
Aber ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie ich irgendwann eine Hand auf meiner Schulter gespürt hatte, einen Körper neben mir, der mich getröstet hatte.
Ich konnte mich an das Gesicht der Frau erinnern, an ihre Stimme, an ihre Wärme.
Tray.
Sie hieß Tray.
Und die andere Frau, der ich mein Leben verdankte.
Dieses Mädchen, in dessen Kutsche ich aufgewacht war, deren Angebot ich so dreist ausgeschlagen hatte und an deren Gesicht ich mich plötzlich wieder erinnerte.
Diese Fremde mit den blonden Haaren und...
Und den grauen Augen.
Sie hatte sich nie vorgestellt, hatte mir nie ihren Namen genannt, aber dennoch wusste ich es.
Ich wusste es, als wäre es in meinen Kopf eingemeißelt.
Sie hieß Blair.
Ihr Name war Blair.
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