27
Der Wald war ein dunkler, eiskalter Liebhaber.
Seine langen, verführerischen Finger glitten über mein Haar, ließen mich schaudern, ließen meine Schritte wackelig und unsicher werden.
Die beruhigende Dunkelheit seiner Worte, seiner Schatten, seiner Existenz verbarg das Zittern meiner Hände, die ich an meiner Seite zu Fäusten ballte. Sie verbarg das entschlossene Funkeln in meinen Augen, verbarg die finsteren Absichten in meinem Herzen.
Die Kälte strich über meine Wangen und ließ meinen Atem in kleinen, sichtbaren Wölkchen vor meinem Gesicht aufsteigen. Sie betäubte meine Finger, bis ich meine Fingernägel in meine Handflächen graben musste, um den Schmerz zu spüren, um nicht vollständig in der Kälte verloren zu gehen, um mich nicht selbst in ihrer zarten Berührung zu verlieren.
Die Bäume waren knochige, tote Finger, die nach dem Leben der Sterne über ihnen griffen, sich danach verzehrten und sogar dafür morden würden.
Das Rascheln des Unterholzes erinnerte an das Knistern eines Kaminfeuers, das Niederbrennen eines Holzscheites, bis schließlich nur noch Asche und Staub übrig war.
Das Zirpen der Insekten glich einem leisen, bedrohlichen Konzert. Einem letzten Lied, das angestimmt wurde, um einen Helden zu ehren, einen Freund zu betrauern oder eine verlorene Liebe für immer zu verabschieden.
Das spärliche Licht, das der sichelförmige Mond und die vielen leuchtenden Sterne von ihrem ewigen Bett im Himmel zu mir herunter schickten, reichte kaum aus, um die tiefen Schatten zu vertreiben, die mir zuzwinkerten wie alte Bekannte.
Ich atmete tief ein, hieß die Kälte, die Dunkelheit und den Wald willkommen, reinigte meinen Kopf von allen unnötigen Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen, die mir in diesem alles entscheidenden Moment nur zu einer Last werden würden.
Der Geruch erinnerte mich an Salz und Dreck, an Regen und Kiefernharz, an Erde und Wind.
Ich ließ ihn durch meine Adern gleiten, benutzte ihn, um all meine Sorgen und Ängste fortzuspülen, bis nichts mehr davon Platz in meinem wild schlagenden Herzen hatte.
Das stetige Poch-Poch-Poch in meiner Brust ertönte im Einklang zu dem Geräusch meiner Schritte auf dem Waldboden.
Ich bewegte mich langsam, versuchte die Ruhe der Dunkelheit in mich aufzusaugen und in mir zu bündeln, um mit ihr zu verschmelzen, bis ich selbst nicht mehr als ein Schatten war.
Ein Schritt nach dem anderen, jeder ein klein wenig schwieriger als der Vorherige, jeder ein klein wenig lauter, ein klein wenig unkontrollierter, als ich mich meinem Schicksal näherte.
Ich kontrollierte meine Atmung, ließ die eiskalte Luft beruhigend durch meinen Körper strömen, bis ich selbst schließlich kalt, entschlossen und tödlich war.
Eine Waffe, geschmiedet in der ewigen Kälte des Windes, der die Bäume zum Wiegen brachte, die Blätter zum Rascheln, die Luft zum Fließen.
Ich folgte dem Ruf des Waldes, hielt mich im Unterholz versteckt, auf der Hut, auf der Flucht, auf der Suche nach einem Zuhause, das es niemals geben würde und das es auch niemals gegeben hatte. Folgte der leisen, verführerischen Stimme, die mich zu sich rief und mich hypnotisierte.
Meine Augen wanderten über die Umgebung, beobachteten jede Bewegung, jeden Fleck Dunkelheit, der unnatürlich auffällig zu sein schien.
Ich spürte die Blicke der Waldbewohner auf mir, als ich an ihnen vorbei lief, obwohl ich keine Ahnung hatte, wo sie sich versteckten.
Das schimmernde Grau der Baumstämme, die im nächtlichen Schein ihre Brauntönung verloren hatten. Das tiefe Dunkelblau der Büsche und Sträucher, die auf dem finsteren Waldboden wuchsen. Das verschlingende Schwarz der Schatten.
Kein helles Licht, keine bunten Farben, kein fröhliches Geräusch.
Nur ich, der Wald und die Dunkelheit.
Ich erkannte die Stämme der Bäume, das Rascheln des Unterholzes, die Stille der Nacht.
Ich erkannte das beengende Gefühl in meiner Brust, das leise Wispern des Unbehagens in meinen Ohren und die Trockenheit in meiner Kehle, die von der aufsteigenden Angst verursacht wurde.
Ich erkannte den Wald, meinen dunklen, eiskalten Liebhaber.
Ich war schon einmal hier gewesen.
In jener Nacht, als meine beste Freundin ihr Blut für meines gegeben hatte. Ihr Leben für meines.
Ich versuchte mehrfach, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken, den Knoten in meiner Brust zu lösen.
Vergeblich.
Ein Schlüsselloch ohne Schlüssel. Eine Hand ohne Knochen. Ein Herz ohne Herzschlag.
Ich atmete schnell. Zitternd. Keuchend.
Ich setzte einen Fuß vor den anderen, brauchte dafür eine Konzentration wie niemals zuvor, ließ mich fallen in den ewigen Strudel aus Angst, Verzweiflung und noch mehr Angst.
Meine Gedanken ein Sturm aus Nebel und Dunst.
Meine Gefühle ein Schlachtfeld aus Liebe und Blut.
Meine Erinnerungen eine Kugel aus Glas und Schnee.
Ich war wie in Trance, bis...
Plötzlich bemerkte ich, dass die Dunkelheit finsterer wurde. Schwärzer.
Dass die Geräusche verblassten, die Tiere verstummten, die Bäume erstarrten, bis es still war im Wald. Viel zu still.
Dass die Kälte meine Haut und mein Gesicht mehr umspielte, mich zittern ließ und den Stoff meiner Tunika durchdrang wie Eis und Winter und Angst.
Angst.
Ich blieb stehen.
Hielt den Atem an.
Ich fühlte ihn jetzt ganz deutlich. Ganz nah.
Fühlte seine kalte, giftgrüne Aura, seine Anwesenheit, die mir eine Gänsehaut bereitete. Seine Macht der Albträume.
Langsam drehte ich mich im Kreis, heftete meine Augen auf die Bäume, die Büsche, die Schatten.
Alles schien normal, wenn da nicht diese zu dunkle Dunkelheit, diese zu stille Stille, diese zu kalte Kälte gewesen wäre.
Eine weitere Drehung.
Ein weiterer Herzschlag.
Mein Atem war immer noch angehalten, als ich endlich eine kleine Stelle im Unterholz ausmachen konnte, an der sich die Schatten zu bündeln schienen. An der die Lautlosigkeit ihren Ursprung nahm.
Ich richtete meinen Blick fest auf diese Stelle zwischen zwei Bäumen, wagte es nicht zu blinzeln oder zu schlucken.
Bewegungslos verharrte ich auf der Stelle, hielt meine Hände ruhig, meinen Atem gleichmäßig, kontrollierte meinen Herzschlag so gut es mir möglich war.
Es dauerte nicht lange, bis er das Spielchen leid wurde und sich endlich zeigte.
Ein leises, grauenhaft raues Lachen ertönte, das mir den kältesten Schauder über den Rücken jagte.
Dann trat er aus der Dunkelheit.
Schock durchfuhr mich, ließ das Blut in mir zu Eis erstarren und mein Herz einen Schlag aussetzen.
Ich taumelte einen Schritt zurück, brauchte mehrere wichtige Sekunden, um mich wieder zu fangen.
Ich hatte vergessen, wie es war, ihm gegenüberzustehen, hatte vergessen, welche Wirkung seine Macht auf mich hatte, sein Aussehen.
Ich hatte vergessen, dass ich ihn nicht umsonst vergessen hatte.
Es war viel schlimmer als in meinen Albträumen, in denen nur sein Gesicht auftauchte, sein Körper, seine Magie.
Aber ihn hier zu sehen, zu riechen, zu fühlen.
Es war etwas Beängstigendes an ihm, das mich unfassbar heftig zittern ließ. Mein Herz schlug schnell.
Etwas so Mächtiges, so Uraltes, dass ich nicht mehr machen konnte, als ihn anzustarren.
Er war zwei Jahre älter als ich, erinnerte ich mich.
Nur zwei Jahre. Nicht mehr.
Ich atmete einmal. Zweimal.
Dreimal.
Da war etwas Unmenschliches an ihm, etwas aus einer anderen Welt, die ich nie besuchen wollte.
Ein mörderisches, tödliches, bedrohliches etwas, das ich nicht näher bestimmen konnte, auch gar nicht näher bestimmen wollte.
Erneut zwang ich meinen Körper, tief Luft zu holen, den Schock zurückzudrängen, diese Panik zu ignorieren, die sein Anblick nach all den Jahren in mir auslöste.
Es war so verdammt anstrengend, auf beiden Beinen zu stehen und nicht zusammenzubrechen oder wegzulaufen, bis meine Füße wund waren.
Es war anstrengend, nicht an unsere letzte Begegnung zu denken, nicht die Leichen meiner Eltern vor mir zu sehen, nicht zu zittern und nie mehr damit aufzuhören.
Es war anstrengend, die Schultern zu straffen, den Kopf zu heben, die Hände zu Fäusten zu ballen.
Aber ich schaffte es.
Ich schaffte es, das Kinn zu heben, den Blick auf sein Gesicht zu richten, das Zittern für einen kurzen Moment zu stoppen.
Ich verdrängte den Schock, besiegte die Angst, bändigte das wilde Schlagen meines Herzens, bis ich mit entschlossenem Blick vor ihm stand, bis ich keinen Platz mehr für Spielchen ließ, für Einschüchterungen.
Ein Herz aus Stein, ein Wille aus Eisen, ein Blick aus Frost, in dem sich das silberne Mondlicht spiegelte, bis meine Augen leuchteten.
Ein kleiner Schimmer der Hoffnung flammte in mir auf.
Klein, klein und noch so viel kleiner. Aber vorhanden.
Hoffnung.
Hoffnung.
Ich wiederholte das Wort, bis es ein Teil von mir war, ein Teil meiner Magie, ein Teil meiner Existenz, ein Teil meines steinernen Herzens.
Hoffnung.
Und ich wusste, dass ich ihn mit diesem Gefühl besiegen konnte. Dass ich ihn schlagen konnte, wenn ich nur die Hoffnung niemals aufgab.
Schach.
Ryn lächelte.
Ein kaltes, giftiges, tödliches Lächeln.
Und all meine Hoffnung war wie weggeblasen.
Niemals.
Niemals könnte ich ihn besiegen.
Diesen Mann, dessen Magie Cassandra seit Wochen in ihren Visionen spürte, der meine Freunde gefoltert und getötet hatte.
Niemals.
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag ins Gesicht, aber ich wusste, dass es die Wahrheit war.
Er war ein König. Ein Herrscher.
Ich war nichts weiter als eine einfache Meisterdiebin. Eine Wache.
Er war der König der Albträume und ich...
Ich war nichts.
Niemand.
Ich war nichts und das wusste er.
Er hatte schon gewonnen. Er hatte gewonnen und ich hatte verloren.
Ich würde heute hier sterben.
Ich wusste nicht, wieso ich mir so sicher war, aber ich wusste einfach, dass es stimmte.
Er würde mich nicht gehen lassen und ich würde ihn nicht besiegen können, würde ihm nicht noch einmal entkommen.
Nicht ihm.
Ich würde diesen Wald nicht lebend verlassen.
Also konnte ich genau so gut würdig sterben, statt um Gnade zu winseln, statt davonzulaufen, statt zu zittern und zu weinen und zu schreien.
Ich mochte zwar sterben, aber ich wusste, dass ich niemals aufgeben würde.
Ich war vielleicht nur Aria Pencur, die Meisterdiebin, die Straßenratte, die Möchtegern-Wachtmeisterin.
Aber für mich war das genug.
Für mich war es immer genug gewesen, ich selbst zu sein.
Meiner würdig zu bleiben und mein Leben zu leben als wäre es morgen vorbei.
Oder heute.
Also lächelte ich kalt, als ich mein unausweichliches Schicksal akzeptierte.
Vielleicht hatte es immer so kommen müssen.
Vielleicht war ich vor all den Jahren entkommen, aber ich hatte trotzdem gewusst, dass das hier meine Bestimmung war.
Mein Ende durch seine Hand.
Durch die Hand des Mörders meiner Eltern, des Mörders meiner besten Freundin.
„Ryn", sagte ich kalt. „Was willst du?"
Ein kurzes Auflachen. „Ist das dein Ernst?", fragte er. „Was willst du? Nach all den Jahren begrüßt du mich mit diesen Worten? Kein Ich habe dich vermisst, alter Freund oder wenigstens ein Verpiss dich, du Hurensohn?"
Eine seiner definierten, schwarzen Augenbrauen wanderte nach oben, um seine Missbilligung noch stärker zum Ausdruck zu bringen.
Ich zuckte mit den Achseln und lehnte mich möglichst gleichgültig an einen nahen Baumstamm. „Verpiss dich, du Hurensohn."
Ryns giftgrüne Augen, die im spärlichen, silbernen Licht der Nacht leuchteten wie die einer Katze, funkelten amüsiert. „Wie... originell", murmelte er und warf einen Blick auf seine imaginäre Uhr. „Hast du noch bessere Sprüche drauf oder können wir dann endlich wie zwei vernünftige Erwachsene reden?"
„Hast du es eilig?", fragte ich provokant. „Bettgesellschaft?"
Ich erkannte, dass ein Muskel an seinem Kiefer zuckte und musste mir ein breites Grinsen verkneifen.
„Nicht, dass dich das irgendetwas angehen würde", antwortete er. „Aber nein. Tatsächlich nicht."
Jetzt war ich diejenige, die zweifelnd eine Augenbraue hob.
Er lächelte nur hinterhältig und schnippte ein nicht vorhandenes Staubkorn vom Ärmel seines schwarzen Anzugs. Die grüne Krawatte passte farblich perfekt zu seinen Augen und wüsste ich es nicht besser, würde ich ihn als ziemlich gut aussehend bezeichnen.
Seine blasse Haut wirkte in der Dunkelheit weiß wie Porzellan, was seine tiefschwarzen Haare bei Tageslicht jedoch nur noch mehr hervorstechen ließ.
Die giftgrünen Augen leuchteten immer noch amüsiert und der Anzug umschmeichelte seine muskulöse Brust, die schmale Hüfte und die langen Beine perfekt.
Zum Glück wusste ich es besser.
„Ich bin eben ein viel beschäftigter Mann", ging er auf die stumme Frage ein, die er in meinem Gesicht lesen konnte.
„Zu schade", erwiderte ich kühl. „Ich wette, die Damen stehen vor deinem Schlafzimmer Schlange, jetzt wo Kaya aus dem Weg ist."
Er legte den Kopf schief, konnte den leichten Anflug an Wut, den ich in seinen Augen erkannte, jedoch nicht ganz überspielen. „Und erneut wüsste ich nicht, was dich mein Bettleben angeht."
Ich zuckte mit den Achseln, als wäre es mir völlig gleichgültig. Als würde ich nicht versuchen, Zeit zu schinden, um mir einen Ausweg aus dieser Situation zu suchen.
„Vielleicht interessiert es mich einfach", gab ich zurück.
Er lächelte erneut, zeigte mir seine viel zu weißen Zähne und gewährte mir somit einen weiteren Blick auf seine kalte, spielerische Maske, die ich nicht brechen konnte.
Diese Maske, unter der sich der Psychopath versteckte, der meine Freunde die letzten Wochen über gequält hatte, nur um mir wehzutun.
„Ich lasse für gewöhnlich nur besondere Frauen meine Gesellschaft genießen, weißt du?", meinte er und lehnte sich nun ebenfalls mit verschränkten Armen an einen Baum.
Seine Bewegungen waren flüssig wie die der Schatten um uns herum, leicht und lautlos wie die einer Katze.
Die Krone aus Onyx, die auf seinem Kopf thronte, funkelte bei der Bewegung leicht im Licht des Mondes, das sich endlich seinen Weg durch das Blätterdach bahnte.
Die künstliche Dunkelheit war verschwunden.
Es war Frühling und die Bäume begannen langsam wieder zu atmen, zu leben.
Zu dumm, dass ich bald damit aufhören würde.
„Ah, der König von Synth ist also nicht nur ein Arschloch, sondern dazu auch noch ein wählerisches", entgegnete ich kühl.
„Tu nicht so, als hättest du das nicht schon längst gewusst."
Meine Mundwinkel hoben sich leicht, während ich einen meiner Fingernägel betrachtete, als wäre er viel interessanter als mein Gegenüber. „Ich weiß viel über dich."
Er zuckte mit den Schultern und richtete seine giftgrünen Augen auf etwas weit Entferntes, das ich nicht sehen konnte. „Ich weiß auch ziemlich viel über dich, Ariadne Skensnyper."
Als er meinen echten Namen aussprach, musste ich ein Schaudern unterdrücken.
Dieser Name hatte immer noch so viel Macht über mich, so viel Kraft, die mich erdrücken konnte.
Dieser Name...
„Ich heiße Aria Pencur", korrigierte ich ihn mir kalter Stimme. „Ariadne Skensnyper gibt es schon lange nicht mehr."
Ryn drehte sich so, dass er mir wieder in die Augen sehen konnte.
Giftgrün auf Magenta.
König auf Diebin.
Angst auf Angst, in einer seltsamen Art und Weise.
Er zog die Lippen zurück und musterte mich mit einem eisigen Blick, von meinem Haaransatz zu meinen Zehenspitzen und wieder zurück.
Dann schüttelte er den Kopf. „Vielleicht nennst du dich heute anders. Vielleicht sprechen deine Freunde dich mit diesem falschen Namen an, den du dir damals selbst gegeben hast", sagte er mit dieser leisen, rauen Stimme, die mir solche Gänsehaut bereitete. „Aber tief in deinem Inneren weißt du, dass ich Recht habe. Dass ich immer Recht hatte, Ariadne."
Ich schüttelte den Kopf, versuchte meine Gedanken zu sortieren, zu reinigen.
Er lag falsch. Er konnte nicht Recht haben.
Ich war Aria Pencur.
Das war meine Identität, mein Zuhause, mein Name, meine Gegenwart und Zukunft.
Oder?
Ryn trat einen Schritt auf mich zu und ich spürte die Kälte, die Dunkelheit, die von ihm ausging.
Seine Macht glitt über meine Haut, ließ mich schaudern, brachte mich zum Zittern.
„Du magst deinen Namen geändert haben, aber du bist tief in deinem Inneren immer noch Ariadne Skensnyper, die Tochter von Lord Skensnyper und seiner Frau. Wieso wärst du sonst heute hier erschienen, wenn nicht um der alten Zeiten willen, meine Liebe?"
Ich trat einen Schritt von ihm zurück.
Die Wahrheit...
Die Wahrheit in seinen Worten jagte mir eintausend heiße Nadeln in den Körper, durchlöcherte mich mit Millionen von Messerstichen, verbrannte meine Haut und mein Herz und meine Seele.
Wieso wäre ich hier, wenn ich wirklich über meine Vergangenheit hinweg gewachsen war? Wieso wäre ich überhaupt vor all den Jahren auf dem Kontinent geblieben, wenn nicht deshalb?
„Ich-Ich", stotterte ich leise, völlig aus dem Konzept gebracht, völlig überfordert von der schrecklichen, schrecklichen Erkenntnis, dass ich niemals richtig loslassen konnte.
Ryn trat einen weiteren Schritt auf mich zu. „Ich habe es immer gewusst", murmelte er.
Seine Stimme war so kalt.
So so kalt...
„Du hast nie damit abgeschlossen, dass du vielleicht doch an ihrem Tod schuld bist. Dass es vielleicht deine Taten waren, die mich dazu veranlasst haben, dich zu hassen. Dass du es warst, die mich dazu gebracht hat, diesen Bären zu rufen, um dich zu erschrecken, damit du am besten tot umfällst", fuhr er fort und kam langsam immer näher wie eine Schlange, die sich ihrer Beute nähert.
Ich konnte nicht sprechen, konnte mich nicht bewegen.
Ich konnte kaum atmen.
Nein, dachte ich. Nein. Nein. Nein.
Das konnte nicht wahr sein.
Das durfte nicht wahr sein.
„Vielleicht hättest du einfach niemals ja sagen dürfen. Dann hätten wir beide uns niemals so sehr gehasst", redete er weiter auf mich ein.
Mein Herz war kurz vor dem Zerbrechen, kurz vor dem Explodieren.
Er konnte nicht richtig liegen.
Aber ich wusste, dass alles stimmte, was er sagte.
Alles.
Ich hatte es immer gewusst.
Vielleicht war das der einzige Grund, weshalb ich mich heute so willig ausgeliefert hatte, ohne auch nur eine Sekunde über eine Alternative nachzudenken.
Vielleicht war das der einzige Grund, weshalb ich den Tod endlich akzeptierte.
Ryn war jetzt ganz nah.
So nah, dass ich seinen heißen Atem auf meiner Haut spüren konnte, die eisige Kälte seines Körpers.
Seine grünen Augen glitzerten boshaft.
Ich wollte zurückweichen. Mit jeder Faser, die ich in mir hatte, wollte ich zurückweichen.
Doch mein Körper wollte nicht gehorchen.
Die Mörderin ihrer besten Freundin.
Die Mörderin ihrer eigenen Eltern.
Ariadne Skensnyper.
„Ich persönlich fand tatsächlich, dass wir ein wundervolles Paar abgegeben haben, auch wenn es natürlich nicht die wahre Liebe sein konnte mit siebzehn, geschweige denn fünfzehn", flüsterte Ryn in mein Ohr und ich versteifte mich, als er unsere lang vergangene Liebesbeziehung endlich ansprach.
Hätte ich doch nur nie Schluss gemacht...
Wäre ich doch nur niemals überhaupt mit ihm zusammengekommen!
Dann wäre Merilla jetzt noch am Leben.
Ryn strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst hatte, und fuhr mit der Hand über meine Wange wie der alte Liebhaber, der er auf eine bizarre, schrecklich verdrehte Art und Weise wirklich war.
Ich zuckte bei der Berührung merklich zusammen, konnte mich ansonsten jedoch nicht bewegen, konnte mich seiner eisigen Berührung nicht entziehen, konnte nicht entkommen.
Unausweichlich.
Ich fühlte den Tod in seiner Berührung, die Leblosigkeit, die aus seiner Hand in mein Gesicht strömen wollte.
Was war nur aus mir geworden, dass ich einfach nur noch eine leere Hülle war? Ein Körper ohne Herz, ohne Seele, ohne Gefühle?
Ich spürte keine Trauer, keine Wut, keine Liebe, als seine Hand meinen Hals entlangstrich, mich mit unendlicher Kälte dort verbrannte.
Ich war wie eingefroren. In einer Starre. Ohne Erinnerungen an ein Leben.
Das einzige, was ich sah, waren diese unglaublichen, giftgrünen Augen, die zufrieden funkelten, als Ryns Finger meinen Arm entlangglitten und diese betäubende Kälte sich immer mehr in mir ausbreitete.
„Du hast nie aufgehört, mich zu lieben", flüsterte er mir ins Ohr, seine Stimme eisig, rau und absolut tödlich. „Du liebst mich immer noch, aber ich will dich nicht mehr. Du hast deine Chance vertan."
Wie hypnotisiert glaubte ich ihm seine Worte, glaubte sie aus tiefstem Herzen.
„Ich liebe dich immer noch", murmelte ich leise, als er seine kalte Hand an meine Kehle legte. Eine sanfte Berührung, die mich jedoch so verletzlich machte wie nie zuvor.
Ich ließ ihn gewähren, konnte mich nicht wehren, konnte gar nichts tun, außer in seine leuchtenden Augen zu sehen.
„Ich liebe dich immer noch", wiederholte ich mit leiser, gebrochener Stimme. „Ich liebe dich immer noch, aber du willst mich nicht mehr. Ich habe meine Chance vertan."
Mein ganzer Körper schrie mich jetzt an, endlich aufzuhören, aufzuwachen, mich verdammt nochmal zu wehren.
Aber ich war wie hypnotisiert von der giftgrünen Magie, die in seinen Augen leuchtete.
Es war nicht meine Angst.
Es konnte nicht meine Angst sein, die er jetzt gegen mich verwendete.
Es war die Angst irgendeines anderen.
Irgendeines Menschen, der mir nahe stand.
Ich wusste es, konnte jedoch nichts machen, als mich mental gegen diesen Griff, gegen diese Leere zu wehren, die sich in mir ausbreitete.
Ich war nicht schuld.
Ich war nicht schuld. Ich war nicht schuld. Ich war nicht schuld.
Die Worte hallten in meinem Kopf wider, bis ich sie glaubte, bis ich wusste, dass ich niemals auch nur kurz daran hätte zweifeln dürfen.
Ich glaubte mir, glaubte meinen Worten, glaubte, dass ich nichts an Merillas Schicksal hätte ändern können, selbst wenn ich mich nicht von Ryn getrennt hätte.
Aber mein Körper konnte sich trotzdem nicht bewegen.
Meine Muskeln, meine Glieder, meine Instinkte. Alles war wie gelähmt, während Ryn seine Magie einsetzte, um mich zu brechen.
Ich wusste nicht, wessen Angst es war, wusste nicht, wessen Angst der König benutzt hatte, um mich geistig zu foltern und zu zerbrechen, bis nur noch diese emotionslose Hülle übrig geblieben war.
Aber ich wusste, dass er nicht gewonnen hatte.
Irgendwie... irgendwie war es mir gelungen, seine Angstmagie zu brechen, meinen Geist aus seinem eisernen Griff zu befreien.
Irgendwie hatte ich es geschafft, dieser leeren Hülle meines Körpers zu entkommen, auch wenn ich nicht wusste, wie ich das gemacht hatte.
Irgendwie hatte ich diese Runde gewonnen.
Jetzt musste ich nur noch diese Barriere brechen, die mich davon abhielt, mich zu wehren, mich zu bewegen.
Ich musste es schaffen, meine Emotionen wieder zu entfachen, meinen Körper wieder für mich zu gewinnen.
Die tote Hülle wieder lebendig werden zu lassen.
Um mich herum nahm alles diesen hässlichen Grünton von Ryns Magie an, wurde kalt und leblos, bis wir beide schließlich in einem Strudel aus Angst und Verzweiflung gefangen waren.
Er lächelte und ich wollte ihm dieses arrogante Lächeln aus dem Gesicht wischen, wollte ihm ins Gesicht spucken, ihm in die Eier treten, bis er heulend am Boden lag und nie wieder aufstehen würde
Die Hand, die er an meine Kehle gelegt hatte, jagte eiskalte Schauder über meine Haut, verursachte eine Gänsehaut, wie ich sie noch niemals zuvor gespürt hatte.
Grüne Schwaden aus Magie, Fetzen aus Angst, Wirbel aus Verzweiflung umgaben mich, rissen mich und Ryn mit sich, bis die Schwerkraft ihre Wirkung verlor, bis wir in diesem Strudel untergingen und schwebten wie zwei Engel des Todes.
Ich fragte mich kurz, ob ich mir all das nur einbildete. Ob seine Magie mich mittlerweile so sehr durchflutete, dass ich nur noch ihn und diese ungeheure Macht fühlte, die sich mit jedem meiner Atemzüge in mir auszubreiten schien.
Mehr Kälte, mehr Dunkelheit, mehr Angst.
Giftgrüne Augen, die sich in meine bohrten, bis sie in meinen Kopf hineinsehen konnten, bis sie meine geheimsten Wünsche, meine tiefsten Sehnsüchte kannten.
Ich meinte ganz am äußersten Rand meines Bewusstseins ein leichtes Funkeln wahrzunehmen.
Ein pinkes Funkeln, ein magentafarbenes Funkeln.
Meine Magie?
Was machte ich mit meiner Magie?
Ich benutzte sie im Moment doch gar nicht, konnte sie in diesem Trance-Zustand überhaupt nicht benutzen, da ich meinen Körper, meinen inneren Kern überhaupt nicht spürte.
Und dennoch...
Schlagartig war der Wirbelsturm aus unendlichem Grün verschwunden, das Gefühl der Macht um mich herum verblasst und die Welt zurückgekehrt.
Mein Magen drehte sich um, als mir klar wurde, was gerade geschehen war.
Wir waren noch immer auf Iliris, noch immer in Synth, noch immer in demselben Wald wie vor wenigen Augenblicken.
Ryns kalte Hand lag noch immer an meiner Kehle, sein Atem strich über mein Gesicht wie ein eisiger, tödlicher Kuss.
Mein Körper war immer noch eine Hülle, ein emotionsloses Wrack, das sich nicht bewegen konnte, solange er mich mithilfe seiner Magie fest im Griff hielt.
Aber es gab eine entscheidende Änderung.
Wir standen am Rand einer tiefen Schlucht.
Er hielt mich mit seiner Hand an meinem Hals fest, doch sobald er mich auch nur ganz leicht stoßen würde, wäre ich tot.
Mein Körper würde unten auf den Steinen aufkommen und dann...
„Irgendwelche letzten Worte?", zischte Ryn in mein Ohr, sein eiskalter Körper war immer noch so nah, dass ich ihn durch meine Tunika spüren konnte.
Die Waffen hingen noch an meinem Gürtel und ich kam mir dumm vor, sie nicht eingesetzt zu haben, obwohl ich wusste, dass er sie mit einem Fingerschnippen hätte beseitigen können.
Niemand sollte mit solch einer großen Macht gesegnet sein, die jede beliebige Angst eines anderen wahr machen konnte.
Niemand.
Ich wollte den Mund öffnen, um etwas zu erwidern.
Ich dachte an Fick dich ins Knie, du Arschloch.
Aber ich konnte meine Lippen nicht voneinander lösen, erlangte die Kontrolle über meinen Körper nicht einmal für diese kleine Bewegung zurück.
Ich musste diese Leere durchbrechen. Diese Emotionslosigkeit.
Jetzt.
Leere...
Diese Leere...
Plötzlich sah ich etwas vor mir.
Da war ein Auge.
Ein einzelnes, graues Auge, durchzogen von etlichen fast weißen Sprenkeln, die mich schelmisch anfunkelten.
Ein Auge voller Leere, voller Charisma, voller Liebe.
Und dann sah ich ein zweites Auge vor mir.
Ein blaues Auge, in dem ich Sterne und Kampfgeist erkannte. Und Liebe.
In beiden Augen schimmerte so viel dieser Liebe, so viel Vertrauen, dass mir warm ums Herz wurde, dass die steinerne Mauer zu bröckeln begann, die alle Emotionen verdrängt hatte.
Calin.
Der bloße Gedanke an seinen Namen, die bloße Vision dieser beiden Augen, des hinterlistigen Funkelns darin...
Emotionen fluteten mich.
Trauer.
Wut.
Liebe.
Mein Körper wurde wieder zu meinem Körper, meine Magie zu meiner Magie, mein Leben zu meinem Leben.
Ich stand am Rand der Klippe, spürte wieder den Wind, der mein Gesicht sanft umspielte, spürte das Kribbeln des Adrenalins in meinem Bauch, spürte das Feuer, das in meiner Brust aufflammte, heißer als die Sonne.
Weil es funktioniert hat, hörte ich Chandras Stimme in meinem Kopf, nachdem sie meine Wut so weit angestachelt hatte, dass ich sie im Duell schlagen konnte.
Meine Adern brannten, während sie von Gefühlen, von Leben und noch mehr Leben durchflutet wurden.
Tränen traten mir in die Augen und liefen mir über die Wangen, als ich endlich wieder meinen Körper spürte, meinen Herzschlag.
Ich schlug so schnell zu wie der Wind und noch schneller.
Ich griff nach einem der Messer an meinem Gürtel, zog es aus seiner Scheide und stach damit auf Ryns Mitte ein.
Die Hand an meiner Kehle war mir egal.
Die Schlucht hinter meinem Rücken war mir egal.
Den Schock in seinen Augen zu sehen, als er meine Bewegung spürte...
Das war es wert.
Obwohl er auswich.
Obwohl er mich über die Kante schubste.
Obwohl mich nichts vor dem Fall in die Tiefe bewahren konnte.
Dieses kurze Aufblitzen von Verwundbarkeit war es wert.
Als ich fiel, hielt ich das Feuer in mir nicht mehr zurück.
Ich schrie und schrie und schrie, als der Wind an meinem Körper zerrte und die Schwerkraft mich voll und ganz für sich beanspruchte.
Dreißig Meter unter mir warteten die Steine. Warteten darauf, mich endlich dem Tod auszuliefern, sobald mein Körper zerbrach.
Immer wieder hallten dieselben Worte in meinem Kopf wider, gaben mir ein kleines bisschen Frieden in diesem Moment des freien Falles, in diesem letzten Moment meines Lebens.
Er hatte nicht gewonnen.
Er hatte nicht gewonnen.
Er hatte nicht gewonnen.
Ich entfesselte meine Emotionen, durchbrach die Hülle meines Körpers und ließ jedem Gefühl in meinem Inneren freien Lauf.
Er hatte mich nicht gebrochen.
Er hatte verloren.
Er hatte nicht gewonnen.
Meine Trauer strömte aus mir heraus, erfüllte die Luft um mich herum wie ein Schleier aus Tränen, Nebel und Blut.
Meine Liebe verließ meinen Körper, umgarnte mein Gesicht wie ein Lied, ein Gedicht, ein Gebet.
Und schließlich schloss sich auch die Wut an.
Ryn trat von der Kante zum Abgrund zurück, doch ich sah seine schwarzen Haare, seine blasse Haut, seine giftgrünen Augen noch immer vor mir, als dieser Zorn, dieser Hass, dieses Feuer aus meinem Körper explodierte.
Meine Wut erhitzte die Luft um mich herum, verdrängte die letzten Reste der kalten Berührung an meinem Hals und hieß mich willkommen wie eine Mutter, eine Schwester, eine Tochter.
Die Wut und ich.
Dieser Hass, dieser Zorn, dieses heiße Feuer.
Wir waren eins.
Mit all meiner Kraft, mit all der verbliebenen Energie in mir setzte ich meine Magie frei.
Ich wusste nicht, wie ich es tat oder was ich tat, aber plötzlich explodierte mein Körper, explodierte meine Magie, bis die gesamte Schlucht in meiner Farbe leuchtete.
Ein Fluss aus Magenta, ein Kuss aus Macht umgab mich und verließ meinen Körper.
Da war nichts auf der Welt.
Nichts außer mir.
Und plötzlich fragte ich mich, ob Chandra Recht hatte.
Plötzlich fragte ich mich, ob es überhaupt Ryns Magie gewesen war, die Cassandra in ihren Visionen gespürt hatte.
Plötzlich fragte ich mich, wie groß meine Macht tatsächlich war und was ich alles damit erreichen konnte, wenn ich nur wollte.
Konnte ich vielleicht viel mehr, als Magie stehlen und vereinen?
Konnte ich sie vielleicht auch für immer vernichten?
War es möglich, dass meine Übertragungsmagie, meine zarten, magentafarbenen Wellen...
War es möglich, dass sie mächtiger waren als Chandra?
Als Ryn?
Ich wusste es nicht und es spielte auch keine Rolle mehr.
Der Boden, die Steine und der Tod kamen immer näher, ließen mich lächeln, weil meine Bestimmung endlich erfüllt wurde.
Ich ließ mich fallen, ergab mich ganz meiner Macht, meiner Wut, meiner ewigen Freiheit, die ich nie wieder verlieren würde.
Ich lächelte immer noch, als mein Körper auf dem Boden aufschlug.
Ich spürte den Schmerz nicht, als all meine Knochen brachen.
Spürte ihn nicht, als mein Schädel auf den glänzenden Steinen zerschellte wie ein brechendes Glas.
Spürte ihn nicht, als ich meinen letzten Atemzug tat und für immer aus der Welt schied.
Etwas zerbrach in mir und ich ließ mein Leben los.
Ich starb.
Endlich.
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