25
Drei Stunden.
Genau drei Stunden und keine Sekunde mehr.
Ich hatte den verstörten Mann, der ziemlich unbeholfen dabei zugesehen hatte, wie ich mich in den Flur übergab, mit einem Handwedeln weggeschickt und war anschließend sofort hinter den Wandteppich geschlüpft.
Ich hatte keine Zeit zu verschwenden, wenn ich nur drei Stunden hatte, von denen der Stadtwachmeister vermutlich schon eine halbe verschwendet hatte, indem er so lange gebraucht hatte, um mich zu finden.
Bestenfalls blieben mir also zweieinhalb, um mich zu verabschieden, einen Plan zu schmieden und irgendwie an besagten Ort zu gelangen.
Eher zwei.
Ich beschloss noch während ich in den Flur erbrach, dass es am sinnvollsten war, erst alle nötigen Vorbereitungen zu treffen, ehe ich meine Freunde in das Vorhaben einweihte.
In mein Opfer.
Keiner von ihnen würde mich begeistert ziehen lassen und ich wusste genau, dass mich das wertvolle Minuten kosten könnte, die ich für meine Ausrüstung benötigte.
Also sprintete ich die Treppe hinauf und betrat meine Suite.
Ich achtete nicht auf die Einrichtung oder den Duft nach Rosen und Schokolade, der im ganzen Turm immer präsent zu sein schien.
Ich lief zu meinem Kleiderschrank, öffnete die Tür so fest, dass ich Angst hatte, sie aus den Angeln zu reißen und wühlte in meinen Klamotten.
Ich entledigte mich der vollgeschwitzten Wachuniform und zog mir stattdessen in Rekordgeschwindigkeit eine schwarze Hose an, die ich mit einer magentafarbenen Tunika kombinierte, auf deren Brust eine schwarze Stickerei in Form eines zersplitterten Herzens prangte.
Ich wechselte die hohen Stiefel gegen weiße Turnschuhe mit zu meiner Tunika passender farbiger Sohle und band meine dunkelbraunen Haare zu einem strengen Pferdeschwanz, der mir bei jedem Schritt um den Kopf peitschte.
Außerdem befestigte ich Waffen an meinem schwarzen Ledergürtel.
Mehrere Messer, auf jeder Seite ein Schwert, zwei Pistolen und sieben Wurfsterne.
Weitere Wurfsterne versteckte ich in den langen Ärmeln der Tunika oder befestigte sie außen an den Turnschuhen.
Man konnte nie genug Waffen bei sich tragen, wenn man Ryn Toxxalver gegenübertrat.
Außerdem befestigte ich noch weitere Gegenstände an meinem Körper.
Sechs kleine Tuben, in denen sich einfache Heilsalbe befand, die nicht mit Naturmagie präpariert worden war.
Ich steckte sie seitlich der Schwerter an, drehte jeden Deckel einmal auf und wieder zu, um mit der Bewegung vertraut zu werden.
Mit dem Ergebnis von wenigen Sekunden pro Dose zufrieden, warf ich mir zusätzlich ein dickes Seil über die Schulter, an dessen Ende ein Enterhaken prangte, und steckte eine kleine Taschenuhr in die Brusttasche meiner Tunika.
Ultimatum und so.
Als ich einen kurzen Blick in den Spiegel warf, fiel mir auf, dass ich aussah wie eine Assassinin.
Überall funkelten Waffen in dem letzten Licht der untergehenden Sonne.
Mein Blick war so eisig wie der kälteste Frost Riadnas.
In mir lauerte eine tödliche Ruhe, die ich so noch nie gespürt hatte.
Ich stieß den Atem aus und warf einen Blick auf die kleine Taschenuhr, die an meiner Brust tick-tack-tickte.
Noch eineinhalb Stunden, wenn der Kerl von der Stadtwache ein schneller Läufer war.
Zitternd fuhr ich mir mit der Hand über den Hals, als ich ein zweites Mal alles kontrollierte
Es hatte sich nichts geändert.
Die Waffen waren an meinem Gürtel befestigt.
Die Tuben mit Salbe befanden sich an Ort und Stelle.
Die Wurfsterne an meinen Schuhen drückten gegen meinen Fuß.
Ich wandte mich ab, bevor ich die Tränen in meinen Augen sehen konnte, das leichte Zittern meiner Hand, das unregelmäßige Heben und Senken meiner Brust.
Mit viel zu festen Schritten, mit viel zu erhobenem Kopf, mit viel zu bewusstem Atmen stieg ich schließlich die Treppe zum Mädchenturm wieder hinunter und musste dabei gegen meinen inneren Instinkt ankämpfen, eine Hand auf die kalte Wand zu legen, um mich abzustützen.
Obwohl ich zittern wollte, stand mein Körper so unter Strom, dass sich jeder Muskel anspannte.
Meine Schultern waren gestrafft, meine Hände zu Fäusten geballt, meine Stirn gerunzelt, als ich hinter dem Wandteppich hervortrat.
Ich rümpfte die Nase, sobald mir der Geruch meines eigenen Erbrochenen auffiel, der vom Boden des Flurs aufstieg.
Bisher hatte ich nicht die Gelegenheit gehabt, jemandem von der Sauerei zu erzählen.
Und der Mann von der Stadtwache war so fertig gewesen, dass ich ihm vermutlich nicht hätte zutrauen sollen, alleine auf die Idee zu kommen, jemanden darüber zu informieren.
Ich seufzte, machte einen Bogen um besagte Stelle und schritt den Flur in die entgegengesetzte Richtung entlang, um meine weißen Turnschuhe nicht bereits vor dem unausweichlichen Kampf zu ruinieren.
Meine Schritte hallten lauter als sonst durch den menschenleeren Gang und ich musste mich bemühen, meinen Herzschlag zu beruhigen, als meine Gedanken in die nahende Zukunft abschweiften.
---
Ich fand die anderen beim Abendessen.
Ich wusste nicht, was nach Kayas Tod und Chandras Zusammenbruch geschehen war, aber es schien sich alles langsam wieder zu normalisieren.
Der große Saal war voll mit Cyltern und Mavarern, die nichts von dem legendären Duell der Schwestern oder von den synthischen Soldaten ahnten, die die Stadt umzingelt hatten.
Ich schluckte, als ich durch die geöffnete Flügeltür trat und sich alle Blicke auf mich richteten.
Zum Einen, weil ich eine halbe Stunde zu spät war und somit fast das gesamte Essen verpasst hatte.
Mein Platz neben Chandra war der einzig leere und die Blicke mancher Adeligen wanderten zwischen mir und dem Stuhl hin und her.
Zum Anderen, weil mein gesamter Körper mit Waffen bedeckt war.
Ungläubige Blicke richteten sich auf die scharfen Klingen an meinem Gürtel, die Pistolen in ihren Holstern und die beiden Schwerter an meiner Hüfte.
Ein Raunen ging durch die Menge, als die Anwesenden meine Erscheinung kommentierten und ich hörte einige Gesprächsfetzen, die sich in meinem Kopf zu einem undurchdringlichen Knoten verbanden, den ich nicht enträtseln konnte.
„Wofür sind die ganzen Waffen?"
„Wen will sie denn damit erstechen?"
„Also ich finde es ziemlich stylisch."
Dieser letzte Kommentar schaffte es, mir ein leichtes Lächeln ins Gesicht zu zaubern, das jedoch schlagartig wieder verblasste, als ich die Gesichtsausdrücke meiner Freunde sah.
Dominic betrachtete mich mit gerunzelter Stirn, eine stumme Frage in den Augen, während Jasmine die Augen zusammenkniff.
Cassandra und Spencer starrten mich beide nur verwirrt, aber gleichzeitig alamiert an und in Calins hübschem Gesicht konnte ich Sorge erkennen.
Chandra legte den Kopf schief, was ihre goldenen Augen funkeln ließ.
Ich machte mir nicht die Mühe, mich bei irgendjemandem dafür zu entschuldigen, dass ich das Abendessen unterbrochen hatte oder dass ich zu spät war.
Ich starrte nur mit steinernem Blick in die Runde, bis die Gespräche schließlich alle verstummten.
In diesem Moment war ich nicht mehr Aria Pencur, die Straßendiebin.
Ich war Aria Pencur, königliche Hauptwachtmeisterin und Anführerin der mavarischen Armee.
Manche der Adeligen senkten den Kopf, andere lächelten nervös und wieder andere hielten meinem Blick stand.
Zu dieser letzten Gruppe gehörten unter anderem Dominic, Jasmine und Calin, der sein Kinn auf einer Hand abgestützt hatte.
Sorge tanzte immer noch in seinen Augen.
Als es endlich mucksmäuschenstill im Speisesaal war, konnte ich hören, dass nur wenige der Anwesenden den Atem nicht angehalten hatten.
Die Luft schien schwer zu sein und mir den Sauerstoff aus der Lunge zu saugen, als ich meine Augen über die Anwesenden gleiten ließ.
Was auch immer sie in meinem Blick gesehen hatten, brachte sie dazu, unruhig auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen.
Dominic schenkte mir ein kaum erkennbares Nicken und ich räusperte mich.
Meine Stimme hallte lauter als ein Sturm durch den weitläufigen Raum und die Kälte darin ließ einige der Adeligen erkennbar zusammenzucken.
Meine Worte waren erbarmungslos.
„Das Abendessen ist beendet."
---
Wenige kostbare Augenblicke später fand ich mich mit meinen Freunden im Besprechungsraum wieder.
Es hatte nicht wirklich viele Worte gekostet und sie redeten bereits alle durcheinander.
„Ausgeschlossen", meinte Cas, sobald ich meinen Plan erklärt hatte, und lehnte sich mit verschränkten Armen in ihrem Stuhl zurück.
„Das kannst du nicht machen!", pflichtete Ivory ihr bei und sah mich mit aufgerissenen Augen an.
„Es ist viel zu gefährlich! Lass ihn nicht so einfach gewinnen!", stimmte Lyane zu und versuchte dann weiterhin, mit mir zu diskutieren.
Ich seufzte, weil ich natürlich mit genau diesen Reaktionen gerechnet hatte, ließ mich aber von den Worten nicht beeinflussen.
Mein Herz war aus Stein, mein Wille aus Eisen, mein Blick aus Eis und Schnee.
Alle redeten auf mich ein, versuchten, mich irgendwie von meinem Plan abzubringen, der nicht einmal wirklich ein Plan als viel mehr ein sicherer Selbstmord war.
Alle außer Jasmine und Dominic.
Die Schattenmeisterin hatte die Augen zusammengekniffen und musterte mich kalkulierend. Ihre Beine hatte sie ausgestreckt und an den Knöcheln gekreuzt, ihre Arme verschränkt.
Sie machte den Anschein, als würde auch sie den anderen nicht zuhören und stattdessen ihre eigenen Berechnungen anstellen, ihre eigene Meinung formen und ihre eigenen Pläne schmieden.
Ich erwiderte ihren Blick, ehe ich mich Dominic zuwandte, der mich ebenfalls nur anstarrte.
Im Gegensatz zu Jasmines kühler Berechnung, die sie ihrem Dasein als Assassinin zu verdanken hatte, betrachtete mich der König von Mavar mit vor Sorge gerunzelter Stirn und glitzernden Augen.
Seine Hand lag in der von Chandra, doch das Verhältnis zwischen den beiden schien sich seit Kayas Tod drastisch verschlechtert zu haben, da ich sowohl ihm als auch ihr die Anspannung am Gesicht und der Körperhaltung ablesen konnte.
Ich riss meine Aufmerksamkeit von den verschränkten Händen los und sah meinem König wieder in das hübsche Gesicht.
Dominic sah mich mit dem Blick eines Mannes an, der seinen Vater, seine Mutter, seine Schwester und seinen besten Freund verloren hatte.
Mit einem Blick, in dem die Angst leuchtete, auch noch mich zu verlieren.
Und dieser gebrochene Schmerz in seinen Augen ließ mich meine gesamte Entscheidung noch einmal überdenken.
Dieser Schmerz schaffte mehr als tausend Worte von Cassandra, Ivory oder Lyane.
Um ihn von diesem Schmerz zu erlösen, würde ich durch die Hölle gehen.
Aber mein Herz war heute aus Stein – musste heute aus Stein sein – und ich durfte nicht zulassen, dass das Mitleid, das ich für Dominic empfand, dieser Schmerz, der sich in mir selbst widerspiegelte und den ich deshalb so gut nachempfinden konnte...
Merilla, mein Vater, meine Mutter, Tray...
Ich durfte nicht zulassen, dass sie ein Loch in diesen Stein rissen, durch das mein wild schlagendes Herz bluten konnte.
Es kostete mich viel emotionale Stärke, die Tränen, das Zittern und das Knurren zurückzuhalten, als ich die Erinnerungen aus meinem Körper verbannte und einmal mehr in die Rolle der Heldin schlüpfte.
Wie viel einfacher das Leben doch gewesen war, als ich mich noch als Diebin, als Schurkin gesehen hatte.
Aber diese Zeiten waren vorbei und ich konnte wahrscheinlich froh sein, wenn diese schweren Zeiten als Heldin noch länger als die wenigen verbliebenen Stunden vor dem letzten Kampf mit Ryn anhalten würden.
Weil ich so tief in meine Gedanken versunken gewesen war, hatte ich nicht bemerkt, dass meine Freunde verstummt waren und mich allesamt abwartend anstarrten.
Ich stieß den Atem aus, den ich offenbar angehalten hatte, als ich den Schmerz des Verlustes verdrängen musste.
Schließlich seufzte ich und ließ die Schultern hängen, die bis zu diesem Moment unter Hochspannung gestanden hatten.
Eine kleine Welle der Erleichterung spülte einen Bruchteil meiner Panik fort, als die Anspannung endlich von mir abfiel.
„Ich weiß, dass es gefährlich ist", meinte ich und sah jedem meiner Freunde einmal fest in die Augen, bevor ich fortfuhr.
Die einzige, die den Blick nicht senkte, war Jasmine.
„Glaubt mir, ich habe innerhalb der letzten Stunde eintausend Mal darüber nachgedacht, wie er mich verletzen, foltern und töten kann."
Meine Worte klangen selbst in meinen eigenen Ohren harsch und brutal.
Aber es gab keinen Grund, die grausame Wahrheit zu verschweigen oder zu verschönern.
Nicht, wenn sie alle wussten, wie gefährlich diese Nacht für mich werden würde.
Ich schluckte hörbar, bevor ich weitersprach. „Aber ihr wisst genau so gut wie ich, dass wir keine andere Wahl haben."
Widerwillig nickten ein paar meiner Freunde, während andere verzweifelt den Kopf schüttelten.
„Ryn hat Akar umzingelt. Ich habe keine Ahnung, wie er das so einfach geschafft hat, aber es ist eine Tatsache, der wir in die Augen sehen müssen."
Ich bemerkte, dass Dominic zusammenzuckte, als ich die Umstellung Akars erwähnte, ging jedoch nicht auf die Bewegung des Königs ein, sondern fuhr mit meiner Argumentation fort.
„Ich habe keine Wahl. Entweder ich liefere mich ihm aus oder er schlachtet die gesamte Stadt mit seiner Armee ab."
Erneut widerwillige Zustimmung in den Blicken meiner Freunde.
„Du kannst trotzdem nicht kampflos aufgeben", warf Cassandra aufgebracht ein.
Die Seherin schien aufgrund meines anstehenden Opfers noch ein kleines bisschen verzweifelter zu sein als der Rest meiner Freunde, die mein Schicksal endlich größtenteils zu akzeptieren begannen.
Ich lächelte schwach, aber meine Mundwinkel wanderten nach wenigen Sekunden wieder nach unten.
„Ich gebe nicht kampflos auf", erwiderte ich und schaffte es dabei, möglichst überzeugend zu klingen.
Sie hob nur eine Augenbraue.
„Ich liefere mich ihm aus, aber es war nie die Rede von kampflos", erklärte ich und diesmal war mein Lächeln echt. „Wenn Ryn wirklich denkt, dass er meinen Tod so einfach haben kann, dann irrt er sich nämlich gewaltig."
Cassandra erwiderte mein Grinsen nicht.
Ich zwinkerte ihr zu. „Das Geräusch seiner Schreie wird Musik für mich sein."
Sie schaffte es erneut nicht, ihre Mundwinkel zu einem Lächeln anzuheben.
„Dann ist das also ein Abschied?", fragte Ivory. „Für immer?"
Ich zuckte mit den Achseln. „Ich weiß es nicht."
Als sie mich immer noch fragend anstarrte, seufzte ich ein weiteres Mal. „Ich weiß nicht, wie genau er sich an mir rächen wird. Es scheint nicht sein Stil zu sein, mich einfach nur zu foltern und dann zu töten. Ryn ist da eher... kreativ."
Mein Magen drehte sich um, als ich die Wahrheit aus meinen Worten heraushörte.
„Außerdem... vielleicht – nur vielleicht – schaffe ich es ja tatsächlich, ihn zu töten", murmelte ich, eher um mich abzulenken.
Meine Stimme klang schwach und mickrig, weil die Entschlossenheit, die ich noch vor wenigen Minuten gespürt hatte, einfach verschwunden war. Wie von einem starken Wind weggeweht.
„Was machen wir, wenn er trotzdem angreift?", kam es von Jasmine, die sich nach wie vor ziemlich im Hintergrund gehalten hatte. „Was, wenn er sich nicht an seine Abmachung hält? Wir sollten diese Möglichkeit auf keinen Fall einfach ausschließen."
„Jasmine hat Recht", stimmte Chandra zu. „Wenn dieser Ryn wirklich so unvorhersehbar ist, sollten wir sogar damit rechnen, dass er vor dem Ablauf des Ultimatums angreift."
Ich schürzte die Lippen. „Mag sein, dass Ryn ein sadistisches Arschloch der Superklasse ist, aber eine Abmachung bricht er nicht."
„Da wäre ich mir nicht so sicher", warf Dominic ein.
„Ich bin mir sicher", knurrte ich. Die Anspannung lastete auf meinen Schultern und stachelte die Wut in meinem Herzen erneut an.
Wut auf den verdammten synthischen König, die nun kurz davor war aus mir herauszuplatzen, um wie ein Lauffeuer alles zu vernichten, was ihr im Weg stand.
Ich verdichtete die Mauer, die ich tief in mir errichtet hatte, aber diesmal um diese feurige, tödliche Wut einzuschließen und zu bewahren, bis ich ihr endlich ein Opfer, ein Ziel liefern konnte.
Ein Ziel mit giftgrünen Augen.
Ich musste einmal tief durchatmen, doch danach hatte ich mich wieder beruhigt und meine Sicht war frei von Rot.
„Ich bin mit Ryn aufgewachsen", wandte ich mich an Dominic. „Ich kenne sein Psycho-Hirn viel besser als mir lieb ist und vielleicht sogar besser als jeder andere. Er spielt Spielchen, aber er spielt sie nach den Spielregeln."
Dominic seufzte nur. „Wenn du meinst. Ich will nur nicht, dass dein Opfer... ich will nicht, dass es... naja."
„Umsonst ist", brachte Cassandra den Gedanken zu Ende. „Keiner von uns will das."
Darauf hatte ich keine Antwort.
Der nächste, der seine Stimme erhob, um ein Argument vorzubringen, war Calin.
„Es war nie die Rede von kampflos, aber es war auch nie die Rede von allein", sagte er. „Lass uns mitkommen, Aria. Lass uns helfen. Lass uns deinen Rücken decken."
Ich seufzte, weil ich auch mit diesem Versuch gerechnet hatte.
„Ich weiß", antwortete ich schließlich, als ich die richtigen Worte gefunden hatte. „Und ich bin euch von ganzem Herzen dafür dankbar, dass ich diese letzten Monate an eurer Seite kämpfen durfte. Aber jetzt ist es Zeit, endlich auf meiner Seite zu kämpfen. Meinen Albtraum zu besiegen und mich meiner Angst zu stellen."
Ich sah erneut jedem von ihnen in die Augen.
Ein pechschwarzer Tümpel, in dem ich Kalkulation, Ruhe und Berechnung erkannte.
Ein violetter Strudel voller Verzweiflung und Angst.
Ein zugefrorener Wintersee aus hellem Blau, in dem sich ausnahmsweise ein warmes Gefühl zeigte.
Ein tiefblauer Ozean voller Sorge und Bedauern.
Eine braune Pfütze mit einem Tropfen Blut, in der ich mein eigenes Ebenbild erkannte.
Eine Medaille aus getrocknetem Bernstein, in die Skepsis und Unglaube gemeißelt waren.
Eine sternenklare Nacht und eine graue Leere voller Emotionen, die ich so noch nie darin gesehen hatte.
Ein herbstlich goldener Wald, der funkelte und glitzerte.
Mit Hoffnung.
Als ich die Hoffnung in Chandras Augen sah, vergaß ich für einen kurzen Moment zu atmen, zu blinzeln, zu existieren.
Sie hatte mir immer gesagt, dass ich mächtig war.
Eine der mächtigsten Magierinnen, die sie je gesehen hatte.
Aber ich hatte nie geahnt, dass sie dachte, ich würde ihn besiegen können.
Ihn.
Ryn.
König der Albträume.
Ich schluckte schwer, bevor ich weitersprechen konnte.
„Ich bin euch wirklich unfassbar dankbar für alles. Und ich bin so so so stolz auf euch, weil ihr diese emotionale und körperliche Folter der letzten Wochen für mich durchgestanden habt", flüsterte ich.
„Ich bin stolz auf dich, Jasmine. Du hast dein Trauma ein weiteres Mal für mich durchgestanden, sogar zweimal. Niemandem sollte so etwas passieren und ich bin wirklich froh, deine Freundin gewesen zu sein", sagte ich und wandte mich an die Assassinin. „Du bist die stärkste Frau, die ich kenne, und du bist ein Vorbild für so viele Mädchen da draußen, auch wenn sie dich nicht kennen. Weil du das alles überlebt und danach niemals aufgegeben hast."
Meine Freundin lächelte leicht und nickte mir zu.
Das einzige Anzeichen ihrer Dankbarkeit, obwohl ich in ihren Augen erkennen konnte, dass ich sie mehr als nur ein bisschen mit meinen Worten berührt hatte.
„Cassandra", murmelte ich und richtete meinen Blick auf das vernarbte Gesicht der Seherin.
Die Tränen liefen ihr bereits über das Gesicht, bevor ich ihren Namen auch nur zu Ende gesprochen hatte.
„Du bist treu und einfühlsam und gutherzig. Dein Herz ist das größte, das ich kenne und ich bin so unglaublich froh, dass ich dich meine Freundin nennen kann. Du bist in den letzten Monaten so viel gewachsen und hast deine Grenzen überwunden. Ich kann mit dir über alles reden und wenn ich irgendwann einfach Scheiße bauen will, wärst du sofort dabei", grinste ich sie an. „Was würde ich nur ohne dich machen?"
Cassandra schluchzte nur und legte ihren Kopf auf Spencers Brust, als ich mich auch schon an die nächste im Bunde wandte, damit die Emotionen mich nicht überwältigen konnten.
„Ivory. Vielen Dank, dass du mir damals im Grenzviertel so geholfen hast. Es war mir eine Ehre, die beste Spionin dieser Welt kennenzulernen und ebenfalls eine Freundin zu nennen", meinte ich und neigte leicht den Kopf. „Zane und du passt gut zusammen", fügte ich schließlich verschwörerisch flüsternd hinzu. Und Lyane... ich weiß gar nicht was ich sagen soll. Es gibt nichts, was mich an dir nicht beeindruckt. Deine Kraft, deine Magie, deine Autorität... du bist so bewundernswert und ich hoffe du bleibst für immer so wie du bist."
Die beiden nickten mir aufheiternd lächelnd zu, als ich mich schließlich Spencer zuwandte, an dessen Brust Cassandra immer noch schluchzte.
Ich atmete zitternd aus.
„Spencer", flüsterte ich. „Es tut mir so unfassbar leid. Es tut mir leid, dass du meinetwegen alles verloren hast. Deine Mutter, deinen bestem Freund..."
Meine Stimme brach ab.
Ich konnte nicht mehr weitersprechen.
Ich konnte dem Schmerz meines Freundes nicht ein weiteres Mal ins Auge sehen.
Ich... ich konnte einfach nicht.
Ich drehte den Kopf in die andere Richtung, bevor er irgendwie auf meine Worte reagieren konnte.
Ich würde es niemals zugeben, aber Spencer war für mich eine Art bester Freund geworden, wie ich immer einen haben wollte.
Den ich nie mehr verlieren wollte.
Entspannt und cool, aber gleichzeitig auch für ernste Gespräche zu haben, wenn man einmal die Sicht eines Mannes gebrauchen konnte.
Ich war ihm ebenfalls für alles dankbar, doch die Schuldgefühle wegen Finn und Saraphina schnürten mir die Worte ab.
Ich holte angespannt Luft, als ich mich für das Kommende wappnete.
„Chandra", wandte ich mich an die Prinzessin. „Danke für alles. Danke für die Unterstützung und die Freundschaft, die du mir geschenkt hast, obwohl ich sie nie verdient habe. Ehrlich, ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte. Danke für die vielen Trainingsstunden und die unendliche Geduld, die du für mich aufgebracht hast."
„Kein Problem", antwortete die Cylterin flüsternd.
„Und Calin", fügte ich hinzu. „Du warst immer für mich da, wenn ich dich gebraucht habe. Du warst mein Retter in Not, mein Schutzengel und mein Leibwächter und du weißt nicht, wie viel mir das bedeutet."
Der Dualmeister schenkte mir einen Blick, in dem immer noch Sorge flackerte, neben einem anderen Gefühl, das ich besser nicht genauer betrachtete, sondern den Kopf lieber schnell abwandte.
Schließlich sah ich mich meinem König in die Augen.
„Dominic", murmelte ich seinen Namen wie einen Fluch. „Auch dir gebührt mein innigster Dank. Du hast mich aufgenommen wie eine der Deinigen und nie auch nur eine Sekunde an mir gezweifelt, obwohl ich hier eingebrochen bin und mein dunkles Herz dein Zuhause verschlungen hätte, wenn es nur die Chance dazu erhalten hätte."
Dominic seufzte.
In seinen Augen erkannte ich Enttäuschung.
Vielleicht, weil ich nichts zu meinen Gefühlen ihm bezüglich erwähnt hatte.
Doch ich musste mich auf etwas viel Wichtigeres konzentrieren als auf die Emotionen, die ich für Dominic und auch für Calin empfand, und deshalb sperrte ich sie in mein steinernes Herz ein, um sie nicht wieder heraus zu lassen, bevor entweder ich oder Ryn tot und begraben waren.
Also wandte ich mich auch von ihm ab, als er leicht nickte und die Resignation in seinem Gesicht deutlich zu erkennen war.
Keiner schien es zu bemerken, denn keiner sagte etwas zu dem Blick, den er mir zuwarf.
Keiner von uns sagte überhaupt irgendetwas.
Bedrücktes Schweigen breitete sich aus, lastete wie ein großes Gewicht auf unseren Schultern.
Niemand wagte zu atmen.
Ich ließ los, befreite mich von meinen Rechten und Pflichten und ließ mich einfach von der Stille erfüllen.
In der Ruhe schweiften meine Gedanken in die so greifbare Zukunft und in die so weit entfernte und doch so nahe Vergangenheit ab.
Ich sah den dunklen Wald, in dem vor all den Jahren meine beste Freundin ihr Leben für meines geopfert hatte.
Ich sah den Schock in ihren Augen, als der erste Wolf auf den Weg sprang, hörte sie keuchen und das Biest knurren.
Ich spürte Ryns giftgrüne Augen auf meinem Körper, spürte sein Messer an meiner Kehle und seine hässliche Angstmagie überall um mich herum.
Ich sah die gefolterten und geschundenen Leichen meiner Eltern, die nie wieder das Licht des Tages erblicken würden, nahm den Gestank von Blut und Fleisch wahr wie ein Parfüm.
Ich schluckte das dreckige Wasser der Exodis, als die Fluten mich von Ryn fortrissen, bis ich nie mehr zurückkommen konnte.
Ich fühlte Ryns Magie erneut, hörte Cassandras Stimme, wie sie mich vor dieser unendlich großen Macht warnte und schließlich sah ich meinen eigenen, geschundenen Körper auf dem Boden einer Schlucht liegen.
Tot.
Und in diesem Moment traf mich die Wahrheit wie ein Blitz.
Das hier war der Abschied.
Das war das Ende, der letzte Moment des Friedens und der Freundschaft, bevor ich mich ihm ausliefern würde.
Erneut konnte ich nicht atmen und musste ein Zittern unterdrücken.
Nach einer gefühlten Ewigkeit räusperte sich endlich jemand und riss mich damit aus meinen finsteren, todbringenden Gedanken.
Jasmine, in deren Augen wieder diese kühle Ruhe getreten war.
„Also", meinte sie. „Wenn wir dann mit dem Abschied fertig sind, würde ich trotzdem gerne ein paar Wachen an den Stadtmauern aufstellen, damit wir gewappnet sind."
Meine Freundin warf mir einen Blick zu, der mehr als tausend Worte wert war.
„Nur für alle Fälle", fügte sie hinzu.
Niemand hatte dazu noch etwas zu sagen.
---
Die Flügeltür fiel hinter mir ins Schloss und mit diesem Geräusch verschwand ein Teil meiner Anspannung.
Die Wachen waren zugeteilt.
Akar war vorerst sicher.
Die einzige Last, die noch auf meinen Schultern lag, war meine anstehende Konfrontation mit Ryn.
Ich spürte die Waffen mehr denn je an meinem Körper, wurde von ihrem Gewicht nach unten gezogen und hatte mit jeder Bewegung Angst, dass die scharfen Klingen mich aufschlitzten.
Ich kannte dieses Gefühl und ich wusste, dass es an meiner eigenen Aufregung lag.
Mein Herz schlug schnell, mein Atem ging unregelmäßig, meine Schritte waren gehetzt.
An meinem Gürtel konnte ich die sechs Tuben mit Salbe spüren, die ich dort befestigt hatte.
Gut.
Sehr gut.
Wenn meine Berechnungen stimmten, hatte ich jetzt noch gut zehn Minuten, bis meine Zeit abgelaufen war.
Zehn Minuten.
Ich würde sie nicht mehr hier verbringen.
Ich wusste, dass es ein Verrat an meinen Freunden war, dass ich ihnen gesagt hatte, ich würde nur kurz auf die Toilette gehen und anschließend wieder in die Trainingshalle kommen, um ihnen bei der Zuteilung der restlichen Wachen zu helfen...
Aber ich konnte es einfach nicht ertragen, mich noch einmal von ihnen zu verabschieden.
Es war so einfach gewesen, etwas von Jasmines Schattenmacht zu stehlen und mich mithilfe irgendeiner billigen Ausrede aus dem Staub zu machen.
Jetzt würde ich nur noch die Dunkelheit willkommen heißen müssen und schon wäre ich für immer aus Neun Rosen verschwunden.
Aus dem Leben meiner Freunde ausradiert.
Das Geräusch von festen Schritten hinter mir ließ mich aus meinen Überlegungen aufschrecken.
„Aria, warte!", hörte ich eine bekannte männliche Stimme rufen, doch ich beschleunigte nur meine Schritte.
Zwanzig Meter und ich könnte um eine Ecke biegen und mit den Schatten für immer verschwinden.
Achtzehn.
Er kam immer näher und ich wusste, dass ich nicht schnell genug sein würde.
Plötzlich war da eine starke Hand, die mein Handgelenk umfasste und mich mit einer schnellen, flüssigen Bewegung herumwirbelte.
Mir stockte der Atem, als ich seinen Geruch wahrnahm, ganz nah.
Im nächsten Augenblick presste mich auch schon ein starker, männlicher Körper gegen die Wand und zwei Hände stützten sich rechts und links von meinem Kopf ab.
Zitternd atmete ich aus.
Seine Beine hatte er so positioniert, dass ich mich nicht bewegen konnte, während seine muskulösen Arme einen Käfig um meinen Kopf bildeten.
Ich konnte nicht entkommen.
Ich wollte ja nicht einmal entkommen
Ich spürte seine Berührung mit jedem Zentimeter meines Körpers, als er seine umwerfenden Augen auf mich richtete, mich mit einem Blick so voller Verlangen, so voller Trauer durchlöcherte, dass mir eiskalt und feuerheiß wurde.
Ich verlor mich für einen kurzen Moment in den Zügen seines Gesichts, dem Kontakt seines Körpers mit meinem und diesem unglaublichen Gefühl, das in meiner Brust aufflammte.
Sein Herz schlug wild gegen meine Brust und ich spürte seinen hektischen Atem auf meiner Haut.
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber meine Stimme war belegt, als ich endlich fragte: „Was willst-"
Ich schaffte es nicht einmal, die Frage zu Ende zu denken.
Er schmiegte seinen Körper noch etwas näher an mich, ließ mich durch die Berührung erneut schaudern und drückte mich etwas fester gegen die Wand.
Ich keuchte leise, als er den Kopf senkte.
Noch bevor ich blinzeln konnte lagen seine warmen Lippen auf meinen.
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