20

  Das Training mit Chandra war jeden Tag etwas weniger anstrengend.

Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass sich meine Kondition verbesserte oder daran, dass ich mich an ihren Kampfstil gewöhnte, doch es führte zu demselben Ergebnis.

„Wir machen große Fortschritte", meinte Chandra, die zum ersten Mal seit wir zusammen trainierten außer Atem war. „Bald können wir die Magie dazunehmen."

„Gegen deine Magie habe ich absolut keine Chance", keuchte ich, als ich den Knopf im gläsernen Aufzug drückte. Mein Finger zitterte leicht, aber ich bekam ihn schnell wieder unter Kontrolle.

Seit meinem Aufwachen im Palast waren vier Tage vergangen, die ich mit Training, Strategie und verschiedenen Kriegstaktiken zugebracht hatte.

Der König von Synth mochte zwar im Moment die unmittelbare Bedrohung sein, aber die Königin von Ascalin ließ sich eine solche Ablenkung nicht einfach so entgehen.

Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihre Truppen erneut zum Angriff anwies.

Ich schluckte, als Chandra ihr Schwert in die Scheide aus braunem Leder an ihrer Hüfte steckte. Ihr strenger Dutt saß nicht mehr ganz mittig. Ein paar Haarsträhnen hatten sich daraus gelöst und standen jetzt wirr um ihren Kopf herum.

Sie lächelte mich träge an. „Ich weiß nicht, ob du das Ausmaß an Macht überhaupt kennst, das in du in dir trägst."

Ich stöhnte innerlich auf. Schon wieder jemand, der mir sagte, dass meine Magie oh-so-mächtig war.

Es hatte schließlich nicht gereicht, das von Kaya und Dominic zu hören.

Chandra schüttelte nachdenklich den Kopf, als der Aufzug sich in Bewegung setzte.

Die Sonne blinzelte nur noch einen Spaltbreit hinter dem Horizont hervor und tauchte Akar in ein dämmriges Licht.

Hellblau mischte sich mit rosa und violett, um die letzten Rottöne der Flammen zu vertreiben, die die Sonne über den Himmel tanzen ließ.

Vögel hatten zu ihrem letzten Flug des Tages angesetzt und führten Choreografien aus, die Menschen nie auch nur ansatzweise nachmachen könnten.

Die Natur verband sich mit den Lichtern der Stadt und des Schlosses und ergab ein Spiel aus flüssigem Gold, das mich staunen ließ.

Die dunklen Schatten wurden mit jeder Sekunde länger und bald schon wäre die Nacht hereingebrochen, der Mond und die Sterne zu einem funkelnden Ball am Himmel versammelt.

Ich wandte mich erneut Chandra zu, um ihr ein letztes Mal zu versichern, dass ich kein Interesse daran hatte, meine Magie in unser Training einzubauen.

Sie schüttelte den Kopf. „Versuch es gar nicht erst. Wir bauen diese Magie in unser Training ein, ob du willst oder nicht."

Seufzend verdrehte ich die Augen. „Ich kann absolut nichts daran ändern, oder?"

Entschlossen schüttelte sie erneut ihren Kopf, wobei sie die Lippen zu einem dünnen Strich zusammenpresste.

Frustriert wandte ich mich ab und ließ den Blick stattdessen wieder über die abendliche Stadt gleiten, bis der Aufzug schließlich ein Bimmeln hören ließ, das unsere Ankunft in Etage 12 ankündigte.

Ich trat in den Flur und wandte mich der Wendeltreppe zu, die hinter einem der Wandteppiche verborgen war.

In diesem Moment hörte ich den Schrei.

Mein Magen verkrampfte sich.

Blitzschnell wirbelte ich zu Chandra herum.

Die Wüstenprinzessin stand stocksteif da, die Augen schockiert aufgerissen.

Innerhalb von Wimpernschlägen traf ihr Blick den meinen und wir hatten uns stumm entschlossen, was wir zu tun hatten.

Ich war die Treppe schon hinaufgerannt, da hatte Chandra sie gerade erreicht.

Der Schrei hallte immer noch in meinem Kopf wider und ich spürte, wie mir rasende Angst die Kehle zuschnürte.

Ich kannte diesen Schrei. Ich wusste, wer ihn ausgestoßen hatte und was er bedeutete.

Es war nichts Gutes.

Blitzschnell stieg ich immer zwei Stufen auf einmal hinauf und erreichte schließlich den Mädchenturm.

Ich achtete nicht auf die anderen Suiten, den kleinen Garten, der neben dem Turm angelegt worden war, oder den Brunnen in seiner Mitte.

Ich hielt erst an, als ich die Tür erreichte, von der der Schrei mit erschreckender ausgegangen war.

Keuchend holte ich Luft.

Ich machte mich bereit, die Tür aufzustoßen und sofort in einen Kampf verwickelt zu werden, legte bereits eine Schulter auf das Holz, um so fest wie möglich zu drücken...

Die Tür wurde von innen geöffnet und Jasmines Gesicht erschien vor mir.

Sie musste den Schrei auch gehört haben.

Ihre ebenholzschwarze Haut schien fast blass zu sein, die dunklen Augen waren aufgerissen vor Panik.

In diesem Moment stieß Chandra zu uns, die Cylterin schien ein weiteres Mal kein bisschen außer Atem zu sein.

Jasmines Kopf wirbelte kurz zu ihr, bevor ihr eindringlicher Blick wieder mich fixierte.

Mein Magen drehte sich um, als ich die Schärfe in ihrer Stimme hörte. „Das müsst ihr euch unbedingt ansehen."

Mit diesen Worten ging sie voraus in die Suite, Chandra und ich folgten ihr stumm.

Jasmine führte uns ohne Umschweife in das weitläufige Wohnzimmer, das Cassandra mit violetten und schwarzen Kissen ausgestattet hatte, um ihrer Suite ein persönliches Detail zu verpassen.

Das Licht im Raum war seltsam dunkel und strahlte eine bedrohliche Aura auf jeden Schatten aus, der sich unter den Möbeln oder an den Wänden bildete.

Ich schluckte schwer, als ich bemerkte, dass Jasmines Schritte abgehackt waren.

Gehetzt.

Einen Moment später wusste ich auch, warum.

Cassandra lag auf dem Boden, alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.

Ich keuchte schockiert und suchte den Körper meiner Freundin bereits von Weitem nach irgendwelchen Verletzungen ab, doch aufgrund der schwarzen Tunika ließ sich Blut nur sehr schlecht von der Kleidung trennen.

„Was ist passiert?", flüsterte Chandra.

Ich schaffte es nicht, den Blick vom bleichen Gesicht meiner besten Freundin abzuwenden, sondern starrte sie nur weiterhin reglos an.

„Ich weiß es nicht", antwortete Jasmine.

Ich hörte ihr Stirnrunzeln an der Art, wie sie die Worte betonte.

„Ich habe in meiner Suite einen Schrei gehört, der sich eindeutig nach Cassandra anhörte. Also habe ich einen Sprung mit meiner Schattenmacht hingelegt und bin so schnell es geht hergekommen. Da war sie schon bewusstlos", erklärte sie.

„Ach ja, diesem seltsamen Vieh da habe ich den Kopf abgeschlagen, sobald ich angekommen bin. Ich glaube es ist der Grund, weshalb sie bewusstlos geworden ist. Sieht jedenfalls echt gruselig aus."

Plötzlich fiel es mir überhaupt nicht mehr schwer, den Blick von Cassandra abzulenken.

Ich konnte nur noch auf das seltsame Wesen starren, das auf der anderen Seite des kleinen Beistelltisches lag. Das „Vieh", wie Jasmine es genannt hatte.

Die Beschreibung passte perfekt.

Der Kopf der Kreatur hatte zwei riesige Giftzangen, von denen eine blutrote Flüssigkeit tropfte. Ein seltsames Zischen drang selbst nach ihrem Tod noch aus ihrem Rachen und die unzähligen Augen schienen mich allesamt anzustarren.

Der riesige, haarige Körper hatte am hinteren Ende einen großen Stachel, der fast so lang war wie die acht Beine, die in unnatürlichen Winkeln vom Leib des Monsters abstanden.

Acht Beine.

„Cas hat eine sehr sehr ausgeprägte Arachnophobia", erklärte ich den beiden. „Eine kleine Spinne kann bei ihr bereits zu Panikattacken führen, die ich mir nicht vorstellen will."

Jasmine legte den Kopf schief. „Also ist sie vermutlich direkt beim Anblick dieses... Fabelwesens in Ohnmacht gefallen."

Ich nickte nur und wandte mich bereits wieder meiner Freundin zu, deren Gesicht aussah wie der leibhaftige Tod.

Ich hatte nur ein einziges Mal miterlebt, wie Cassandra auf eine Spinne reagiert hatte, aber das reichte mir.

Was auch immer der Grund für ihre Angst sein mochte... sie war ziemlich heftig ausgeprägt.

Die bewusstlose Seherin war ein eindeutiges Zeichen dafür.

„Das ist keine Spinne", erklärte Chandra schließlich. „Das ist ein Arachnid. Eigentlich ist es nichts weiter als eine Riesenspinne mit dreizehn Augen. Aber in Ethinyia, dem gebrochenen Königreich, zählt man sie trotzdem zu den Drachenwesen."

„Ein Spinnendrache?", fragte Jasmine mit gehobener Augenbraue. „Haben die immer so grünes Blut?"

Bei diesem Satz schreckte ich auf.

Wenn die Riesenspinne in Cassandras Schlafzimmer nicht schon eindeutig genug gewesen wäre, hätten spätestens jetzt alle meine Alarmglocken begonnen, laut zu schrillen.

„Nein", murmelte Chandra.

„Das grüne Blut geht auf Ryns Kosten", erklärte ich ihnen, ohne den Blick von Cassandra zu nehmen, deren Brust sich nur ganz leicht hob und senkte. „Grün ist sein Markenzeichen."

Ich hätte schwören können, dass Chandra abwesend nickte, ohne die Prinzessin anzusehen.

„Und das Lila?", fragte die Prinzessin.

Ich wirbelte herum. „Welches Lila?"

Chandra runzelte die Stirn. „Na dieses seltsame violette Leuchten da, das sich wie von alleine mit dem grünen Blut vermischt."

Ich erstarrte, als ihre Worte mich wie ein Schlag trafen.

Aber sie hatte Recht.

Von Cassandras Handflächen strömte eine seltsame violette Energie, die sich über den Boden schlängelte, bis sie das giftige Grün des Spinnenblutes berührte und sich mit ihm zu einem Strudel vermischte.

Ein Strudel aus Macht und Einheit, aus Angst und Zeit, aus Gewalt und Tod und Magie.

„Fasst das auf keinen Fall an!", rief ich mit eindringlicher Stimme und deutete auf die Pfütze, in der ich eine magische Stimme singen hörte, die mir einen eiskalten Schauder über den Rücken jagte.

Jasmine lächelte mich nervös an. „Wie genau meinst du das mit ‚fasst es nicht an'?"

An ihren Fingern glänzte die violett-grüne Substanz und auch Chandras Handfläche war voll damit.

Ich konnte nur noch einen unanständigen Fluch ausstoßen, als die Flüssigkeit begann, zu knistern und seltsame Funken stoben.

Die Welt verschwamm vor meinen Augen.

---

Das nächste, an das ich mich erinnerte, war ein riesiger Saal.

Weiße Säulen zogen sich unter einer Galerie im ersten Stock entlang, ein goldener Teppich führte von einer Eichenholztür zu einer breiten Treppe, die von kupferfarbenem Geländer begrenzt wurde.

Die weitläufige Decke war von einem Gemälde überzogen, das einen Engel zeigte, welcher aus einem goldenen Becher trank. Ledrige Schwingen waren auf dem Fresko zu erkennen und ich war mir sicher, dass sie zu einem Drachen gehörten.

Die große Doppelflügeltür aus Eichenholz war mit einer aufwendigen Schnitzerei verziert, welche ein Wesen zeigte, das ich nicht erkannte. Es hatte drei Hörner auf dem Kopf und sein Körper besaß die Form eines riesigen Stiers.

Mit einem Knall ging die Tür auf und ein Mädchen stürmte in den Saal.

Ich hatte sie noch nie gesehen, aber sie konnte kaum älter als vierzehn oder fünfzehn sein.

Das Mädchen hatte gebräunte Haut und trug ein dunkelblaues Kleid mit Rüschen und aufwendigem Blumenmuster, das ihre goldblonden Haare zum Leuchten brachte.

Im Licht der Sonne, die durch die großen Fensterbögen schien, funkelten ihre Augen golden.

Hinter dem Mädchen stürmte ein etwas älterer Kerl in den Raum, den ich ebenfalls noch nie gesehen hatte.

Kurz geschorenes, schwarzes Haar, haselnussbraune Augen und ein schwarzer Anzug, der seine Figur perfekt umschmeichelte. Auch er hatte die gebräunte Hautfarbe eines Cylters.

Sie hatten mich offenbar nicht bemerkt, also versteckte ich mich hinter einer der großen weißen Säulen, die den Raum wie einen Käfig umgaben.

Die beiden waren in einen Streit vertieft.

„Es muss endlich aufhören, Onith!", herrschte sie ihn an und wirbelte wutentbrannt zu ihm herum.

„Ich-", doch er kam nicht weiter.

„Wie oft habe ich dir jetzt schon gesagt, dass ich deine dämlichen Gefühle nicht erwidere? Wie oft muss ich es dir noch sagen, damit du es endlich verdammt nochmal kapierst?"

Onith verlagerte sein Gewicht und lächelte verlegen. „Meine Liebe für dich kann alle Grenzen überwinden. Mit dir zusammen bin ich glücklich!"

„Tja", blaffte das blonde Mädchen. „Hättest du dir vielleicht vorher überlegen sollen, für wen deine Liebe alle Grenzen überwinden kann. Dass ich nicht lache!"

„Ich meine es ernst", murmelte Onith. „Ich liebe dich."

Das blonde Mädchen wedelte wegwerfend mit der Hand. „Aber ich liebe dich nicht. Hast du das jetzt endlich mal verstanden, oder soll ich es buchstabieren?"

Onith zuckte sichtlich zusammen und für einen kurzen Moment, hatte ich Mitleid mit ihm.

„Ich. Liebe. Dich. Nicht", warf das Mädchen ihm an den Kopf.

Er zuckte erneut zusammen. 

Seine Haltung war schlagartig nicht mehr die eines Mannes, der eine Frau erobern wollte, sondern die eines Jungen, der sich für etwas schämte, das er getan hatte.

„Was kann ich nur machen, damit du endlich glücklich bist?", fragte Onith schließlich sein Gegenüber. Er sagte es mit solch einer Emotionalität, solch einer Sanftheit, dass er sie wirklich gern haben musste.

„Lass mich in Ruhe", antwortete das Mädchen harsch und sogar mir taten die Worte weh, obwohl ich nur hinter einer der weißen Säulen kauerte und das Geschehen beobachtete.

Onith schüttelte den Kopf. „Wir wissen beide, dass ich das nicht kann."

Das Mädchen lachte. „Du hast Recht. Du kannst mir nicht für immer aus dem Weg gehen. Aber du kannst sehr wohl deinen verlogenen Blick von meinem Gesicht lassen, wenn du mit meiner Familie speist oder jetzt, wenn du mit mir redest."

Onith zuckte erneut zusammen.

„Schau mich nicht so an, als wäre ich die Liebe deines Lebens!", wies das Mädchen ihn an.

„Aber du bist die Liebe meines Lebens!", widersprach er.

Sie schnaubte nur herablassend und schüttelte den Kopf, wodurch ihre blonden Haare im Licht glänzten wie flüssiges Gold. „Du bekommst echt gar nichts auf die Reihe, oder?"

Ich biss die Zähne zusammen, als ich hörte wie sie ihn so zur Schnecke machte.

Wieso gab sie ihm nicht einfach eine Chance?

Onith seufzte nur. „Ich weiß, dass es falsch ist. Glaub mir, das weiß ich wirklich-"

„Dann lass mich in Ruhe, Onith! Lass mich endlich in Ruhe!"

Ich wollte jetzt echt brennend wissen, wieso das blonde Mädchen so versessen darauf war, dass Onith sich von ihr fernhielt.

Dieser trat aber nur einen weiteren Schritt auf sie zu und griff nach ihrer Hand, welche sie mit einer schnellen Bewegung außerhalb seiner Reichweite brachte.

„Was kann ich denn dafür, dass mein Herz nicht mehr für dieselbe schlägt?"

„Du hättest jede haben können", flüsterte sie. „Jede. Aber du musstest dich ausgerechnet in mich verlieben."

Er nickte. „Du bist stark und lustig und schlagfertig und-"

„Halt endlich deine verdammte Klappe!", zischte das Mädchen ihn an. „Was verstehst du nicht, Onith? Was ist dein Problem?"

„Du bist mein Problem, verdammt!", rief Onith und griff nun doch nach ihrer Hand.

Sie entriss sie ihm wieder, sobald sie die Berührung realisiert hatte.

Onith knirschte so laut mit den Zähnen, dass sogar ich es hörte.

Angewidert verzog das blonde Mädchen das Gesicht. „Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du dieses ganze Schlamassel hier angefangen hast."

„Ich war jung", erklärte er.

„Ich bin auch jung!", zischte sie ihn an.

Onith zuckte erneut kaum merklich zusammen.

Ehrlich, wie oft war er in den letzten drei Minuten zusammengezuckt?

Er wollte wieder nach ihrer Hand greifen, doch sie trat einen großen Schritt zurück, um Abstand von ihm zu nehmen.

„Gib mir eine Chance", flüsterte er flehentlich, doch sie lachte ihn nur harsch aus.

„Eine Chance? Und dann was? Du bist seit drei Jahren mit meiner Schwester zusammen, Onith! Glaubst du wirklich, ich würde sie so hintergehen? Hältst du mich wirklich für einen derart schlechten Menschen?"

Ich kniff die Augen zusammen. Onith war mit der Schwester dieses Mädchens zusammen – seit drei Jahren – und wollte sie ernsthaft überreden, ihm eine Chance zu geben?

Vielleicht hatte ich mich getäuscht und er war doch ein ziemliches Arschloch.

„Ich liebe deine Schwester nicht mehr", meinte Onith und zuckte mit den Achseln. „Ich liebe nur noch dich."

Ich verdrehte die Augen, weil seine Worte jetzt selbst in meinen Ohren idiotisch klangen.

Das Mädchen wirbelte herum, wobei ihre Haare erneut umwerfend im Licht funkelten. „Aber ich liebe dich nicht."

Sie entfernte sich mit raschen Schritten von ihm und stieg die Stufen der breiten Treppe hinauf, wobei das dunkle Blau ihres Kleides mit dem goldenen Stoff des Teppischs harmonierte.

Onith blieb wo er war, doch er rief ihr noch nach. „Ich liebe dich!"

Ich wollte mich schon abwenden, als er die Worte wiederholte, diesmal aber mit einem kleinen Detail, das alles veränderte.

„Ich liebe dich, Chalency O'Brian!"

---

Ich befand mich in einem Schlafzimmer.

Die weinroten Vorhänge rahmten ein großes Fenster, durch das ich die Wüstenstadt Methildrae erkennen konnte, deren sandige Türme sich in einen azurblauen Himmel erstreckten.

Dahinter erstreckte sich endloser Sand.

Das Schlafzimmer war größer als meine Suite im Palast und außerdem um einiges luxuriöser.

Ein riesiges Himmelbett bot Platz für mindestens drei Personen und die dunkelbraunen Vorhänge waren mit Gold bestickt. Es gab viele gepolsterte Sessel, die bequemer aussahen als mein Bett in Neun Rosen. Außerdem stand ein einziger Holzstuhl an der Wand.

In einer Ecke war ein riesiger Schminktisch zu erkennen, auf dem sich Make-Up Utensilien quasi zu Türmen stapelten. Wimperntusche in allen Farben des Regenbogens, Lidschatten in diversen Glitzervariationen, sowie Schmuck aus Gold, Silber und Kupfer, verziert mit Saphiren, Rubinen und Smaragden.

Ein großer Spiegel bildete die Mitte des Ganzen und ich warf einen Blick auf die Frau, die sich selbst mit einem kritischen Blick betrachtete.

Ich kannte sie, aber irgendwie schien sie mir doch fremd zu sein.

Prinzessin Chandra O'Brian von Cyltis.

Aber irgendwie anders.

Ich wagte es, von meinem gepolsterten Sessel aufzustehen, auf den ich mich nicht gesetzt hatte, und ging zu ihr hinüber.

Sie beachtete mich nicht, sondern trug nur weiter ihr Make-Up auf als wäre ich gar nicht wirklich da.

Ich beschloss, aufs Ganze zu gehen und tippte ihr auf die Schulter.

Als sie nicht reagierte, versuchte ich es erneut, doch vergeblich.

Schließlich seufzte ich und setzte mich erneut in einen der Polstersessel, die wirklich viel zu bequem waren.

Als wäre ich gar nicht wirklich da.

Ich bekam eine Gänsehaut und konnte nur mit Mühe ein Schaudern unterdrücken.

Jemand klopfte an die Tür.

„Herein", murmelte Chandra genervt.

Es war mir zuvor nicht aufgefallen, aber die Prinzessin schien sauer zu sein. Sehr sauer.

Die Tür wurde geöffnet und ein blondes Mädchen trat ein, das jetzt etwas älter zu sein schien als vor wenigen Sekunden in diesem goldenen Saal.

Ihre Gesichtszüge waren irgendwie gestraffter und ihre Rundungen wurden von ihrem schlanken Körper jetzt besser ausgefüllt als nur wenige Minuten zuvor.

Die silbernen Augen glitzerten, als sie sich auf den Holzstuhl fallen ließ und bewusst auf die Polstersessel verzichtete.

„Wir müssen reden", sagte Chalency.

„Ich rede nicht mit dir", antwortete Chandra nur.

„Jetzt schon", erklärte Chalency. „Es tut mir leid, Chandra... ich hätte mich nie auf ihn einlassen sollen."

Oh.

„Nein, das hättest du nicht", fauchte Chandra und drehte sich auf ihrem Sessel so, dass sie Chalency ansehen konnte.

Das war kein Blick, den die Chandra, die ich kannte, je zustande bringen konnte. 

Dieser Blick war so voller Zorn und Hass und so... unkontrolliert, wie ich es bei Chandra nicht ein einziges Mal gesehen hatte.

„Was kann ich nur tun, damit du mir verzeihst, Chandra?", fragte Chalency. „Ich weiß, dass es ein Fehler war und dass du ihn mehr als alles andere liebst, aber... aber es muss doch irgendetwas geben, was ich machen kann, damit du mir vergibst."

Instinktiv wusste ich, dass sie ihre Taten - wie auch immer diese aussehen mochten - wirklich aus tiefstem Herzen bereute.

„Nein", erwiderte Chandra kalt. „Es gibt nichts, was du machen kannst"

Tränen glitzerten in Chalencys Augen, als sie erkannte, wie sauer ihre Schwester tatsächlich auf sie war.

Und wie eisern diese Wut in ihrem Blick glänzte. 

Wie unnachgiebig.

„Was kann ich machen, damit du mich nicht hasst?", fragte sie und eine einzelne Träne lief ihr über das Gesicht.

Chandra schenkte ihr einen weiteren finsteren Blick und wandte sich wieder dem Spiegel zu. Ihre Stimme war eiskalt, als sie antwortete: „Ich hasse dich. Ich hasse dich seit dem Tag, an dem du ihn das erste Mal geküsst hast. Du kannst nichts daran ändern."

Chalency konnte ihr Schluchzen nicht unterdrücken. „Bitte, Chandra."

Chandra knurrte. „Ich will dich nie wieder sehen, Chalency. Nie wieder."

Schluchzend erhob sich die jüngere Prinzessin von ihrem Holzstuhl und verließ den Raum.

Ich hätte schwören können, dass ich irgendwo ganz weit weg jemanden rufen hörte.

Nein! Chalency, Nein!

Es war Chandra.

---

Die nächste Szene, die ich zu Gesicht bekam, spielte sich vor den Toren des Palastes ab.

Ich erkannte Chalency, die mit einem großen Koffer in der Hand den Schlosshof verließ.

Als sie den großen Torbogen durchquert hatte, wandte sie sich um und winkte ein letztes Mal, bevor sie den Kopf in einer leichten Verbeugung senkte.

Als sie sich mit schnellen Schritten vom Palast entfernte, liefen ihr erneut Tränen über das hübsche Gesicht.

---

Ich wurde zurück in Chandras Schlafzimmer katapultiert.

Diesmal war es Nacht und meine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen.

Fast alles war genau so, wie ich es vor wenigen Augenblicken zurückgelassen hatte, und doch schien so vieles anders zu sein.

Es gab einen wesentlichen Unterschied.

Der Spiegel in der Ecke war zu einem Grab umgebaut worden.

Ich musste mich stark konzentrieren, um die Worte zu lesen, die jemand sorgfältig dort hingeschrieben hatte: Prinzessin Chalency O'Brian. Geliebte Schwester.

Mein Magen verkrampfte sich, als ich die vielen Fotos von Chandra und Chalency betrachtete.

Die beiden beim Schaukeln. Beim Schneemannbauen. Tanzend auf einem Ball.

Ich schluckte schwer, als ich den Brief betrachtete, der dort an eine der vielen Schubladen geklebt worden war.

Ein Brief, der den Namen „Entschuldigung" trug.

Doch ich wusste, dass dieser Brief Chalency nicht mehr helfen würde.

Sie war tot.

Oder zumindest dachte ich das, bis sich knarzend das Fenster öffnete.

Ihr blondes Haar funkelte silbern im Mondschein und ihre Augen glänzten violett, als sie sich über die Kante des Fensters hievte und leichtfüßig auf der anderen Seite aufkam.

Chalency machte kein einziges Geräusch, als sie von dem Abgrund zurücktrat.

Sie musste eine gute Kletterin sein, wenn sie die Palastmauer und auch die steile Felswand darunter erklommen hatte, die schließlich in spitze Steine mündete, um welche das Meer brutal peitschte.

Der Palast stand an einer Klippe und...

Schlagartig wusste ich, dass dies die Nacht war, in der Chalency sterben würde.

Dass dies die Klippe war, die Chandra sie hinuntergestoßen hatte und dass diese Steine die Felsen waren, auf denen ihr Körper aufgespießt worden war.

Aber die Chalency, die gerade durch das Fenster in das Schlafzimmer ihrer Schwester eingedrungen war, hatte keine Ahnung, wie schicksalshaft jene Nacht für sie enden würde.

Das ganze musste etwa ein oder zwei Jahre nachdem Chandra Chalency aus dem Palast vertrieben hatte spielen und in der Zwischenzeit hatte sich wohl so einiges geändert.

Mir fiel endlich der Mann auf, der in Chandras Bett lag und der mir nur zu bekannt war.

Onith.

Chandra musste ihn wirklich geliebt haben, wenn sie ihm verziehen hatte, dass er mit ihrer Schwester geschlafen hatte.

Andererseits war Chandra schon immer praktisch veranlagt gewesen, was Beziehungen anging.

Ich musste sofort an Dominic denken und mein Herz verkrampfte sich.

Die Bettdecke war auf der anderen Seite zurückgeschlagen, als wäre dort vor kurzem jemand aufgestanden, um auf die Toilette zu gehen oder vielleicht etwas zu trinken.

Aber nicht nur Onith hatte sich zu einem jungen Mann entwickelt, mit seinem leichten Bartschatten und dem kantigen Kinn.

Nein, auch Chalency war anders.

Die totgeglaubte Prinzessin trug einen schwarzen Pullover und eine ziemlich dicke Stoffhose in derselben Farbe.

Ich fragte mich, ob ihr darin nicht unendlich heiß war, doch das war vermutlich ein nötiges Übel, wenn man mit der Schwärze der Nacht verschmelzen wollte.

Chalencys Gesicht war der einzige Teil ihres Körpers, den sie nicht bedeckt hatte.

An ihrem Gürtel glänzte eine Klinge.

Als die Prinzessin sich dem Bett näherte, fiel mir ein weiterer entscheidender Unterschied auf.

Sie bewegte sich mit einer Geschmeidigkeit, einer Eleganz und Leichtigkeit, die sie davor nicht besessen hatte.

Dieser tödliche Anmut, den ich von Jasmine und auch ein bisschen von mir selbst kannte.

Dieser Anmut, der sich entwickelte, wenn man zu etwas ausgebildet wurde.

Wie eine Assassinin oder eine Meisterdiebin.

Die Tatsache, dass Chalency sich auf diese Art und Weise bewegte, verriet mir zwei weitere Dinge.

Erstens wusste ich, was sie in den Jahren gelernt hatte, die sie auf den Straßen irgendeiner cyltischen Stadt verbracht hatte.

Und zweitens erklärte es mir, weshalb sie heute hier war. Weshalb die Klinge an ihrem Gürtel funkelte und weshalb sie gewartet hatte, bis ihre Schwester den Raum kurz verließ.

Mit lautlosen Schritten näherte sich Chalency dem Bett, in dem Onith immer noch ahnungslos schlief.

Sie zückte das Messer.

Ich hielt den Atem an, als sie sich neben ihn kniete und ihm in das schlafende Gesicht blickte.

Hass und Ekel blitzten in ihren Augen auf.

Er hatte ihr Leben ruiniert.

Dieser Mann war schuld daran, dass sie alles verloren hatte.

Dieser Mann, von dem sie nie etwas gewollt hatte und der sie trotzdem in den Abgrund gestoßen hatte.

Mit einer schnellen, geschmeidigen Bewegung schnitt Chalency ihrem ehemaligen Verehrer die Kehle durch.

Sie erhob sich aus ihrer Hocke und wischte das Blut an dem Ärmel ihres schwarzen Pullovers ab, bevor sie es wieder an ihrem Gürtel befestigte.

Zu gehen bereit, wandte sie sich um.

Ihr Blick fiel auf den Spiegel. Das Grab.

Ich wusste es sofort.

Das war ihr Verhängnis.

Das war dieser eine Blick, der ihr Leben beenden würde.

Ihre Augen funkelten, als sie sich wie hypnotisiert der Ecke näherte, in der all die Fotos hingen.

Ihre Schritte waren nicht mehr ganz so präzise und lautlos, wie noch vor wenigen Augenblicken. Ihr Blick war fest auf das Grab gerichtet, von den Gefühlen überwältigt und in eine Art Trance gezogen, die ich niemals verstehen würde.

Chalency beugte sich vor, um den Text zu lesen, der immer noch in meinem Gedächtnis schlummerte: Prinzessin Chalency O'Brian. Geliebte Schwester.

Langsam fuhr sie mit einem zitternden Zeigefinger die Buchstaben Stück für Stück nach, als könnte sie nicht glauben, dass sie wirklich dort waren, vor ihren Augen.

Sie holte zitternd Luft.

Als sie nach dem Brief griff, der immer noch mit der Aufschrift „Entschuldigung" versehen war, konnte ich einen Herzschlag hören.

Poch-Poch. Poch-Poch. Poch-Poch.

Ihre Finger zitterten, als sie den Umschlag öffnete.

Sie sollte nie dazu kommen, den Inhalt des Briefes zu lesen.

Das Licht ging an und Chandra erschien in der Tür. „Keine Bewegung oder du bist tot", zischte sie.

Chalency verzog das Gesicht zu einer Grimasse, ließ den Entschuldigungsbrief ihrer Schwester aber auf den Schreibtisch zurück fallen.

Langsam drehte sie sich mit erhobenen Händen zu Chandra um.

Die Augen der Prinzessin weiteten sich, als sie erkannte, wer da ihr eigenes Grab bewunderte.

„Chalency?", flüsterte sie fassungslos. „Aber das... das ist nicht möglich."

Chalency schenkte ihr ein trauriges Lächeln. „Ich fürchte leider, es ist möglich."

Als Chandra den Ton in ihrer Stimme hörte, wurde sie bleich. Ihr Blick fiel auf das Bett, in dem Onith immer noch lag, die Kehle zu einem blutigen Lächeln aufgeschlitzt.

Ich fühlte, wie die Luft im Schlafzimmer immer dicker wurde, immer knisternder.

Explosiv.

Chandra keuchte den Namen ihres Geliebten, doch wir alle wussten, dass er nie wieder antworten würde.

Und in diesem Moment wurde mir bewusst, dass das nicht die Chandra war, die ich kennengelernt hatte.

Wutentbrannt wirbelte sie zu Chalency herum, ihre Augen funkelten vor Magie.

Ich spürte die goldene Macht sogar in der seltsamen Blase, die mich anscheinend umgab und vor allen anderen verborgen hielt.

„Chandra, bitte", flüsterte Chalency verzweifelt. „Es kann alles so werden wie früher! Wie auf den Fotos!"

Und zum ersten Mal hatte ich echtes Mitleid mit der jüngeren Prinzessin.

Sie hatte ihr Leben an einen Mann verloren, von dem sie nie etwas wollte, hatte schließlich Rache geübt und verlor nun wieder ihr Leben – diesmal wortwörtlich.

Chandra stieß nur ein Knurren aus und ein Ball aus goldener Energie erschien in ihrer Hand.

Rohe Magie.

"Du hast ihn umgebracht!"

Chalency konnte nicht einmal ausweichen, als Chandra die goldene Macht auf ihre eigene Schwester warf.

Doch das musste sie nicht.

Die Jüngere streckte ihre Hand nach dem Magieball aus und er verschwand.

Chandra lächelte. „Wie ich sehe immer noch dieselben schlechten Tricks."

Chalency kniff die Augen zusammen und trat aus der Ecke heraus und einen Schritt näher an das geöffnete Fenster, hinter dem ihr Tod lauerte.

„Entgegengesetzte Augenfarben...", flüsterte Chandra, während sie einen weiteren Ball erschuf, den Chalency mit ihrer eigenen Magie sofort erneut vernichtete.

„...entgegengesetzte Magie", beendete Chalency den Satz ihrer Schwester, während sie sich weiter langsam dem Fenster näherte.

Chandra lachte bitter und senkte die Hände. „Es ist schon traurig, dass ich dich nicht töten kann, oder?"

Chalency runzelte die Stirn. „Was meinst du?"

Chandra seufzte nur. „Nach allem, was passiert ist. Nach allem, was du mir angetan hast, kann ich dich immer noch nicht töten. Du bist für mich noch immer zu sehr meine kleine Schwester."

Die Blonde lächelte traurig. „Und du wirst immer meine große Schwester bleiben."

Chandra wedelte wegwerfend mit der Hand. „Na los, Chalency. Verschwinde schon. Sonst ändere ich meine Meinung vielleicht noch."

Chalency lächelte immer noch leicht, als sie Chandra ein respektvolles Nicken schenkte. „Du wirst eine gute Königin sein, Schwesterherz."

Mit diesen Worten drehte sich die Jüngere um und lief zu dem geöffneten Fenster, um in der Nacht zu verschwinden.

Sie stand auf der schmalen Kante und winkte ihrer Schwester zum Abschied zu. Sie schaute nicht zurück.

Chalency hatte keine Chance, als der goldene Energieball sie in den Rücken traf und über die Kante schleuderte.

Ihr gellender Schrei ließ die Haare an meinen Armen und in meinem Nacken zu Berge stehen.

Ich hätte schwören können, dass auch Chandra schrie, als ihre jüngere Schwester in den Tod stürzte.

Ich trat nicht an das geöffnete Fenster, da ich wusste, was mich erwartete.

Chalencys Körper, der von den spitzen Steinen durchbohrt und geschunden worden war.

Tot.

Es dauerte nicht lange, bis ich von der Versuchung erlöst wurde, doch noch nach ihrem geschundenen Leichnam zu sehen, von dem ich vermutlich nur noch mehr Albträume bekommen hätte als vom Rest dieser seltsamen Erinnerung, in der ich mich wohl befand.

Die Welt verschwamm erneut.

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