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Ich wusste nicht, was mich zuerst erreichte.

Die blanke Panik oder das Grauen, das sich seinen Weg tief unter meine Haut fraß und mein Knochenmark zu erschüttern schien.

Vermutlich war es ein und dasselbe schreckliche Gefühl.

Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis sich mein gesamter Körper in Alarmbereitschaft befand, mein Dolch gezückt war und sich die aufgewühlte Menge der Partygäste vor mir teilte.

Jeder der Adeligen kannte meinen und Cassandras Rang und niemand wollte uns im Weg stehen, wenn etwas Schreckliches passierte. Wie ein Toter, der während einer Feierlichkeit durch die Decke fiel. Niemand wollte Probleme mit einer von uns beiden.

Diese Tatsache war uns schon oft von Vorteil gewesen. Vor allem dann, wenn es wirklich dringend war.

Und diese Situation fiel auf jeden Fall in die Kategorie dringend.

Ich musste ein Würgen unterdrücken, als ich den verstümmelten Körper erreichte, der leblos auf dem roten Teppichboden lag.

Es war grauenhaft. Es war einfach nur grauenhaft.

Und mindestens genauso ekelerregend.

Der Körper - wenn man es denn noch so nennen konnte - war vollständig verunstaltet.

Die Hände der königlichen Wache waren verschwunden. Die fransige, aufgerissene Haut, die die Handgelenke des Mannes überzog, wies darauf hin, dass sie ihm auf irgendeine abartige Art und Weise abgerissen worden waren. Seine Beine standen in seltsamen Winkeln von seinem Körper ab und auch seine Ellbogen und Schultern waren merkwürdig verrenkt.

Der gesamte Leichnam war mit Kratzern und Wunden überzogen, aus denen scharlachrotes Blut floss. Seine schwarze Uniform, auf deren Brust die blaue Flamme wie eine Zielscheibe prangte, war aufgeschlitzt und mit Blut durchtränkt. Jemand hatte einen großen Kratzer auf seinem Bauch hinterlassen, durch den man fleischfarbene Teile der Eingeweide sehen konnte. Der Gestank nach Fleisch und Blut hing wie ein dichter, undurchdringlicher Nebel in der Luft.

„Oh Gott!", schrie Cassandra neben mir. Ihre Stimme schien vor Ekel und Schock fast zwei Oktaven höher zu sein als noch Minuten zuvor. Ihre violetten Augen waren aufgerissen und sie hielt sich eine der schlanken Hände vor den Mund, was den Eindruck erweckte, dass sie sich gleich übergeben würde. Sie war noch blasser als normalerweise - falls das überhaupt möglich war.

Und dann erkannte ich auch weshalb.

Sie hatte in das Gesicht des Toten geschaut.

Der Kopf war, ebenso wie die Hände, vom Körper getrennt und zu einem stummen Schrei aufgerissen. Die blauen Augen sprachen von Angst und Schock. Die Zähne waren mit Blut bedeckt und schimmerten in dem damit einhergehenden blutigen Rotton, der der Wache eine psychopathische Aura verpasste.

Doch das Schlimmste war die Nase.

Oder was davon übrig war.

Das einzige, was man noch erkannte, war eine Bissspur, die offenbar von sehr spitzen Zähnen stammte, die sich mitten in das Gesicht des Mannes gegraben und ihm schließlich die gesamte Nase einfach herausgerissen hatten.

Seltsam grüner Speichel lief aus der Wunde und schwarzes Blut mischte sich hier mit dem scharlachroten der Leiche. Der Wachmann hatte nicht kampflos aufgegeben.

Und der Angreifer hatte aus irgendeinem Grund schwarzes Blut.

Alles in allem sah es aus, als wäre der Mann bereits mehrere Tage tot, obwohl ich wusste, dass er gerade erst gestorben war.

Dass er gerade über unseren Köpfen verstümmelt worden war.

Und ich wusste haargenau, wer dahinter steckte.

In diesem Moment trat Jasmine neben mich, um sich einen besseren Blick auf den Leichnam zu werfen.

Ich warf der Adeligen einen fragenden Blick zu. 

Jasmine war eine Killerin. Wenn jemand wusste, wie man mit einer Leiche umzugehen hatte, dann war es die Schattenmeisterin.

Doch ihre Reaktion war anders als ich erwartet hatte.

Ihr gezücktes Schwert fiel klirrend zu Boden.

Jasmines ebenholzschwarze Haut schien für einen Moment alle Farbe zu verlieren.

Ich wusste nicht, ob ich mir den Farbwechsel nur einbildete, aber ihre Haut war auf einmal so blass, dass ich mich fragte, ob es noch immer meine Freundin war, die da vor mir stand.

Sie sank auf die Knie. Ihr Mund vor Schock aufgerissen.

Die Augen vor Panik blitzend.

Was zur Hölle...?

Ich berührte meine Freundin sanft an der Schulter.

Sie zuckte so heftig zusammen, dass ich entsetzt zurückwich.

Dann...

Nichts.

Jasmine tat einfach nichts.

Und ich hasste mich selbst dafür, dass ich genau wusste, was sie fühlte. Ich wusste genau, weshalb diese Leiche heute hier aufgetaucht war, wer sie geschickt hatte und wieso.

Und ich hasste mich selbst dafür, dass es Jasmine zuerst traf.

Ich sollte dort knien. Mit vor Angst zugeschnürter Brust. Mit dem blanken Entsetzen vor Augen. Hilflos. Einem persönlichen, unüberwindbaren Trauma ausgesetzt.

Nicht sie.

Niemand außer mir hatte verdient, so etwas durchzumachen.

Dieser Gedanke ließ mein Herz kalt wie Eis gefrieren, heißer als Feuer brennen und hart wie Stein werden.

Feurige Entschlossenheit erfüllte mich. Eisige, tödliche Entschlossenheit.

Ich wirbelte zu Cassandra herum und besagte ihr mit einem Nicken, dass sie mir folgen sollte.

Dann verließ ich mit großen Schritten den Ballsaal und warf einen letzten Blick zurück, um Jasmines Gesicht zu sehen, über das mittlerweile Tränen liefen.

Ich war verdammt bereit, sein Ego dafür bluten zu lassen.

---

Als die Flügeltür hinter mir ins Schloss fiel hatte ich kein Mitgefühl mehr in mir. Keine Gnade, kein Erbarmen.

Nicht heute und erst recht nicht für ihn.

Ich war endlich bereit, meinem Zorn freien Lauf zu lassen. Meiner Trauer Beachtung zu schenken, die sich über die letzten Wochen in mir aufgebaut hatte. Ich war endlich bereit, jemanden für alles bezahlen zu lassen, was ich durchgemacht hatte.

Und ich war verdammt bereit, Jasmine zu rächen. 

Auf die blutigste, brutalste, grausamste Weise, die mir einfallen würde.

„Wo willst du hin?", rief Cassandra, die Schwierigkeiten hatte, mir zu folgen. Meine Schritte waren fest, schnell, zielgerichtet.

„Die Wachen an der Tür fragen, wie jemand unbemerkt hereingekommen ist."

Ich erreichte eine zweite Flügeltür, die den weitläufigen Vorraum mit dem Flur verband, der zu einem der gläsernen Aufzüge führte.

Noch bevor ich sie öffnete, wusste ich, dass mich kein Leben dahinter erwarten würde.

Aber was ich sah, ließ mich ein weiteres Mal an diesem Abend würgen.

Jemand hatte diese Körper in der Luft zerfetzt. Sie waren wie Konfetti im ganzen Flur verstreut. Fleischfetzen, Blutspritzer, Knochensplitter. Alles verband sich zu einem ekelhaft stinkenden Chaos, das mein Abendessen zurück an die Oberfläche befördern wollte.

Ich hielt mir die Nase zu und schloss die Tür wieder.

Mit einem einzelnen, hektischen Kopfschütteln teilte ich Cassandra mit, dass sie besser nicht nachschauen sollte.

Sie nickte nur, in ihren Augen standen Verwirrung und Entsetzen.

Meine Augen weiteten sich plötzlich, als ein grotesker Gedanke mich wie ein Blitz traf.

„Er ist noch auf dem Ball", flüsterte ich schockiert.

Was?!"

„Wenn er geflohen wäre, hätte das bei all dem Blut eindeutig Fußspuren hinterlassen, oder? Er ist noch dort. Aber warum?"

„Um noch jemanden zu verstümmeln? Ich glaube nicht, das wäre der reine Selbstmord bei all den Anwesenden und der ganzen Aufmerksamkeit."

Der reine Selbstmord.

Natürlich!

Ich setzte mich in Bewegung.

Mir war egal, dass Cassandra hinter mir Fragen stellte, die ich einfach ignorierte.

Mir war egal, dass sie mich für verrückt halten musste.

Ich sah nur noch rot.

Als ich den Ballsaal wieder betrat schlug mir der Gestank nach Blut entgegen. Das rote Blut der Wache, das sich mit dem schwarzen Blut des Angreifers mischte.

Mit dem schwarzen Blut.

Hier ging es gar nicht darum, mich zu töten. Noch nicht.

Dies war ein Warnschuss.

In das Bein meiner Freundin...

Jasmine kniete immer noch neben der Leiche. Sie keuchte und Tränen übermannten sie nach wie vor in unregelmäßigen Mengen. 

Sie zitterte unnatürlich.

Dass gerade Jasmine jetzt vor allen Anwesenden zusammenbrach - weinend, zitternd, schluchzend, gebrochen - zeigte mir ein weiteres Mal, mit welchem Maß an Macht wir es zu tun hatten. 

Über die Jahre hatte ich die Folgen seiner Magie fast vergessen.

Fast.

Meine linke Hand berührte schlagartig die dünne weiße Linie, die sich über meine rechte Handfläche zog.

Die Erinnerungen an jene Nacht drohten, mich zu überwältigen, aber ich schob sie so gut es ging fort. 

Weg von meinen Gedanken und weg von meinem Herzen.

„Ein Angriff? Heute?", tönten langsam die Gesprächsfetzen zu mir durch.

„Was wollte man damit erreichen?"

„Denkt ihr, das ist die einzige Leiche?"

Bei dieser letzten Frage drehte ich mich um. Tödliche Ruhe erfüllte meinen gesamten Körper, als ich mein Schwert zog.

„Nein. Es war nicht die einzige Leiche. Und es wird auch nicht die einzige bleiben", murmelte ich. Meine Stimme war kalt wie Eis und unnachgiebig wie Stein. Ein Symbol für mein hartes, gefrorenes Herz.

„Was ist da oben nur passiert?", fragte eine vertraute männliche Stimme.

Ich richtete meine Augen auf den Mann, der aus der Menge hervortrat.

Das erste, was mir auffiel, waren seine blauen Augen, die einfach jeden in ihren Bann zogen. Dabei war es völlig egal, ob man wollte oder nicht. Wie Magneten heftete sich mein Blick auf diese Augen, die vor Stärke und Macht zu funkeln schienen.

Sein Gesicht sah aus wie das einer Porzellanpuppe, so blass war seine Haut, die den seltsamen Effekt noch verstärkte, den er auf Menschen hatte. Diesen Effekt eines Herrschers.

Der Mann sprühte quasi vor Macht, Einfluss, Reichtum und Magie.

Ich konnte durchaus nachvollziehen, weshalb Cassandra sich neben mir verspannte, aber ich schenkte dem Adeligen nur ein kühles Nicken, das er - falls das möglich war - noch kälter erwiderte. Doch das beeindruckte mich schon lange nicht mehr.

Etwas-weniger-kalt-als-sonst war vermutlich der wärmste Ausdruck, den ich je auf Spencer Snows Gesicht gesehen hatte.

Hatte ich mich eigentlich schonmal über die Ironie lustig gemacht, die in seinem Nachnamen steckte?

Naja, zu spät dafür war es jedenfalls nie.

Er hieß allen Ernstes Spencer Snow? Snow?!

Haha. Zum Totlachen.

„Keine Ahnung. Aber ich wette, es ist nichts Schönes gewesen", antwortete ich trocken.
Ich konnte das Verhältnis zwischen Spencer und mir nicht wirklich einschätzen. Es lag irgendwo zwischen Ich-hab-dir-zigmal-das-Leben-gerettet-also-sind-wir-jetzt-beste-Freunde-du-Arsch und Ich-starre-dich-einfach-die-ganze-Zeit-kalt-an-und-erweise-dir-damit-den-nötigen-Respekt-ohne-mit-dir-zu-reden-Schwachmat.

Ehrlich gesagt war mir das immer noch lieber als ein falsches Lächeln und ein Messer im Rücken. Kalte Blicke lagen einfach in Spencers Blut - schließlich war er ein sehr starker Eiselementar. 

Davon abgesehen kam er einem besten Freund für mich mittlerweile wohl tatsächlich am Nächsten.

„Ach was, ehrlich? Wäre ich jetzt nicht drauf gekommen. Danke für den Hinweis" Spencers Blick wurde noch kälter, doch ich hob nur trotzig das Kinn. Er hatte schließlich so dumm gefragt.

„Wissen wir sonst irgendwas?", hakte er nach. Sein Blick fiel auf Jasmine, die anscheinend nichts mehr mitbekam außer ihrer eigenen... ja, was eigentlich? Trauerwelle? Panikattacke? Nervenzusammenbruch?

Vermutlich eine Kombination aus allem.

„Nein", beantwortete Cas die Frage, nachdem diese unnötig lange ohne Antwort in der Luft hängen geblieben war.

Spencer nickte, wandte den Blick ab und kniete sich neben die Teile der Leiche. Seine Augen wirkten seltsam sachlich und distanziert.

Ich sah, wie Cassandra die Lippen zu einer dünnen Linie zusammenpresste und ihre Schultern nach unten sackten. 

Ich nickte ihr kurz aufmunternd zu, bevor ich neben Spencer in die Hocke ging. „Jemand hat ihn ganz schön übel zugerichtet."

Der Eismeister sagte nichts, sondern musterte das ganze Blut nur angewidert. „Wer wäre zu so etwas fähig?"

Ich öffnete den Mund, um ihm zu antworten, aber einen Augenblick später schloss ich ihn wieder.

Wie sollte ich das erklären, was sich in meinem Kopf zu einem grauenhaften Bild zusammengeschraubt hatte, ohne alles über meine Vergangenheit preiszugeben? Ohne meine finsteren Geheimnisse an die Öffentlichkeit zu legen? Ohne zu erläutern, wieso ein so mächtiger Mann seine wertvolle Zeit für eine Wache verschwendete, selbst wenn diese früher eine Meisterdiebin gewesen war?

„Nicht wer", setzte ich schließlich an. Ich würde meine Erklärungen einfach so lückenhaft halten wie irgendwie möglich.

Spencer hob eine seiner blonden Augenbrauen.

„Was."

„Wie meinst du das?", fragte einer der Adeligen, die sich hinter uns scharten wie eine Herde unruhiger Schafe hinter einem Hirten.

„Ich weiß, wer es geschickt hat. Und ich weiß auch, dass was-auch-immer-es-ist nicht hier ist, um lebend wieder zu verschwinden. Es ist nur ein Test."

„Ein Test?" Diesmal war es einer der Kellner. Ich erkannte ihn an dem leeren Tablett, das er sich wie einen Schutzschild an die Brust drückte.

„Ein Test. Er will sehen, ob ich stark genug bin, es mit ihm aufzunehmen. Er will wissen, ob ich es wert bin, seine Zeit in Beschlag zu nehmen", murmelte ich, die Augen immer noch auf die Stelle gerichtet, an der eigentlich die Nase des Wachmanns sein sollte.

„Wer?", fragte Cassandra.

Und da war sie. 

Die unausweichliche Frage. 

Die Frage, vor der ich mich seit Monaten fürchtete.

Denn ich wusste, dass ich sie nicht beantworten konnte. Dass ich sie auch überhaupt nicht beantworten wollte.

Wissen war nämlich Macht.

Und diese Macht war eine Gefahr, wenn sie sich in den falschen Händen befand.

Ich wollte meine Freunde nicht in sein klebriges Netz aus Tod und Schmerz hineinziehen. Jedenfalls nicht noch mehr als ich es bereits getan hatte.

Mein Blick fiel auf Jasmine, deren Schluchzen nun in leises Wimmern übergegangen war, und Schuldgefühle schnürten mir die Kehle zu.

Ich holte tief Luft und beantwortete schließlich die mir gestellte Frage.

Aber es kamen zu meinem eigenen Erstaunen andere Worte aus meinem Mund, als ich es beabsichtigt hatte: „Sagen wir einfach, ich habe mir in meiner Vergangenheit einige sehr mächtige Feinde gemacht. Kaitanjane DiMarcoPhy war nur eine von vielen, die sich jetzt rächen wollen."

Ich atmete ein weiteres Mal durch und trotzdem zitterte meine Stimme, als ich endlich die Worte aussprach: „Und er ist von allen der Schlimmste."

Hinter mir herrschte nur erdrückendes Schweigen, das vom gesamten Raum Besitz ergriff und uns alle festhielt.

Niemand sagte ein Wort. 

Niemand wagte es, diesen Moment zu unterbrechen. 

Niemand wollte das Schweigen stören.

Zum Glück wurde diese Aufgabe von den Wesen übernommen, die die Lüftungsgitter des Ballsaales entfernt hatten und nun mit einem seltsamen Ächzen aus den dunklen Schächten sprangen.

---

Ich musste ein Schaudern unterdrücken.

Was waren das für Viecher?

Sofort ging ich erneut in Kampfstellung über. Mein Schwert lag kühl in meiner Hand und ich richtete mich langsam auf. Dabei ließ ich den Blick kein einziges Mal von den ekelhaften Monstern schweifen, die auf dem Teppichboden ein widerwärtiges, schwarzes Sekret hinterließen.

Neben mir zückte Cassandra ebenfalls ihre Waffe und ich nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass die neun verbliebenen Wachen es ihr ohne zu zögern gleichtaten.

Spencer und die übrigen Adeligen griffen nach ihrer Elementarmagie und ließen den Raum somit in verschiedenen Farben aufleuchten.

Da Magie in Akar sehr verbreitet und zudem angesehen war, gab es nur wenige Gäste, die über keine Begabung verfügten.

Ich konnte sie an einer Hand abzählen.

An der linken.

In der rechten hielt ich mein Schwert.

Ich zählte außerdem insgesamt sieben dieser hässlichen Wesen, die sich jetzt in verschiedenen Ecken des Saals aufrichteten und drehten, bis sie uns mit ihren seltsamen Gesichtern angrinsten.

Der Anblick war grotesk - fast noch schlimmer als die zerfetzten Einzelteile der Toten - und ich unterdrückte zum dritten Mal an diesem Abend den starken Würgereiz.

Die Angreifer hatten schwarze, verfaulte Haut, die sich über ihren Körper spannte wie altes Leder. Der Gestank, der von ihnen ausging erinnerte an verwesende Tiere und verbranntes Fleisch. Ihre Finger bogen sich zu seltsamen Klauen, an deren Enden sich messerscharfe, metallische Klingen befanden.

Die Gliedmaßen waren ekelhaft lang und dünn und an manchen Stellen schien es fast so, als wäre die ledrige Haut für den Körper zu eng und die Knochen drohten einfach hindurchzustechen.

Aber am schlimmsten war das Gesicht.

Die Kreaturen hatten keine Augen, sondern die schwarze Haut schien einfach über die leeren Augenhöhlen gewachsen zu sein. Die Lippen waren zu diesem angsteinflößenden Grinsen verzogen, das zugespitzte Zähne entblößte, an denen Hautfetzen hingen. Grüner Speichel tropfte von den Mundwinkeln.

Die Nase war ebenso wie bei den Leichen abgerissen worden.

Das Wesen, welches mir am nächsten stand, tat so, als würde es in der Luft schnuppern und setzte sich dann in Bewegung. Es kroch auf vier Beinen und hinterließ überall dieses ekelhafte schwarze Sekret, das ich für Blut gehalten hatte, als ich es in der Wunde des Leichnams bemerkt hatte.

Ich schluckte.

„Was sind das für Dinger?", flüsterte ich.

Ich wagte es nicht, lauter zu sprechen. Ich hatte zu viel Angst, dass die Kreaturen sich bei einem ihnen fremden Geräusch einfach auf mich stürzen würden.

„Das sind Styryos. Ein Styryo ist eine Art Dämon, der ausschließlich seinem Meister dient. Hässliche Biester. Ich frage mich nur, wieso sie hier sind", antwortete Spencer, ebenfalls flüsternd.

„Wie meinst du das? Hier?"

„Styryos und andere magische Geschöpfe sind auf unserem Kontinent ausgestorben. Sie sind hier vor Jahrhunderten gejagt und ausgerottet worden. Als der ascalinische König Angst hatte, die vindrische Herrscherin würde einen größeren Nutzen aus den Tieren ziehen und ihn damit vielleicht stürzen."

Ich schluckte. Eine ungute Vorahnung ergriff von mir Besitz. „Sie sind hierzulande ausgestorben? Woher sind sie dann? Wo gibt es noch Styryos?"

Spencer runzelte die Stirn. „Nur an einem einzigen Ort"

Er atmete zitternd aus. "In Scyvrar."

„Scyvrar?", fragte ich erstaunt. Dabei hatte ich absolut nicht auf meine Lautstärke geachtet und mein Ruf hallte noch einen unerträglich langen Augenblick durch den Saal.

Doch nichts geschah. 

Der Styryo, der mir immer noch am nächsten stand, bewegte sich genauso langsam wie seine Artgenossen.

Als ich mich erneut in vorläufiger Sicherheit wähnte, hakte ich nach. „Wollte O'Brian nicht erst morgen hier eintreffen? Wieso ist hier jetzt eine Horde Styryo-Dämonen?"

„Ich weiß es nicht", gestand der Eismagier. „Aber ein gutes Zeichen ist es auf keinen Fall."

Ich schluckte, als ich die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme erkannte. Wer auch immer diese Styryo-Dämonen kontrollierte... Er war auf keinen Fall ein Freund.

Schlimmer noch: Er arbeitete für jemanden, der mein größter Feind war.

Mein größter Albtraum.

Genau in diesem Moment hörte plötzlich das leise Wimmern auf, das Jasmine kontinuierlich ausgestoßen hatte.

Die Schattenmeisterin richtete ihr Gesicht auf die Decke, die von den schwarzen Löchern der Lüftungsgitter überzogen war.

Und dann fing sie an zu flüstern.

„Nein. Lass mich. Lass mich! Ich bin doch nur ein Kind! Ein Kind! Ich habe nichts, was ich dir geben könnte! Nichts!"

Ein Schauder lief meinen Rücken hinunter und mir war auf einmal eiskalt.

Eiskalt.

„Nein! Bitte nicht! Bitte nicht!", flehte Jasmine. Ihre Augen waren vor Schreck weit aufgerissen und ich konnte spüren, welche emotionalen Qualen sie erlitt.

Aber ich spürte noch etwas anderes. Sah etwas anderes in ihren Augen.

Etwas Böses.

Ich stand hilflos daneben.

Ich wusste nicht, wie ich ihr überhaupt helfen konnte. Ich wusste einfach nicht, wie ich sie von seinem grausamen Einfluss befreien konnte.

Dennoch erkannte ich seine Anwesenheit in den Augen meiner Freundin.

Was auch immer sie da gerade durchmachte... er war die Ursache. Er ließ sie leiden.

Und ich war verdammt nochmal Schuld daran.

Dann...

Sie ließ ihrer Verzweiflung freien Lauf und ihre Magie flutete den Raum.

Dunkelheit umhüllte mich. 

Ein Trost, ein Freund, ein finsterer Liebhaber.

Ich hatte vorher gewusst, dass Jasmine eine der mächtigsten Frauen war, die ich jemals gekannt hatte. Aber dass sie so mächtig war...

Ich spürte die Aura ihrer Macht so prickelnd auf meiner Haut als würden tausende von kleinen Schattenfetzen mich einhüllen und unter meine Haut gleiten.

Meine eigene Magie versuchte so stark, auf die Dunkelheit zu reagieren, dass ich mich krampfhaft dagegen wehren musste. Ich durfte jetzt die Kontrolle nicht verlieren.

Ich dachte schon, ich könnte meine Magie nicht einen Moment länger zurückhalten, da war plötzlich alles vorbei.

Im einen Augenblick hörte ich die Schatten und die Dunkelheit verzweifelt schreien, im nächsten war der Schleier aus Jasmines Augen verschwunden und sie war wieder sie selbst.

Die Panik hatte nachgelassen und auch die Tränen waren mittlerweile alle verschwunden.

Dann sackte Jasmine in sich zusammen und stieß einen letzten Schluchzer aus.

Langsam und vorsichtig ging ich neben meiner Freundin auf die Knie und legte ihr beruhigend einen Arm über die Schulter. 

Dabei vergaß ich die Dämonen vollkommen. Es zählte nur, dass es ihr gut ging.

Die starke Jasmine, die sonst niemals Schwäche zeigte, die sonst niemals weinte und niemals Angst hatte. Sie jetzt so zu sehen brach mir das Herz, klebte es wieder zusammen und sprengte es erneut in unzählige Scherben.

Aber die Adelige hob nur den Kopf, wischte sich mit dem Handrücken über die geröteten Augen und gab damit dem sowieso schon zerstörten Make-Up den Rest.

Sie sah mich von der Seite an.

In ihrem Blick lagen so viel Schmerz, so viel Angst und so viel Verzweiflung, dass sich mir erneut der Magen verkrampfte.

Dann öffnete sie zitternd den Mund und sagte etwas, von dem ich nicht erwartet hätte, es jemals von ihr zu hören.

„Bitte, Aria", flüsterte sie. „Bitte töte ihn. Bitte töte ihn für mich. Bitte."

Das letzte Wort war nur noch ein schwaches Flüstern gewesen, das mir Tränen in die Augen steigen ließ.

Aber ich sollte nicht die Gelegenheit bekommen, ihr mein Versprechen zu geben. 

Dass ich ihn finden und töten würde.

Plötzlich wurde die Tür geöffnet und mein Blick fiel auf etwas, das so verdammt fehl am Platz wirkte, dass mir die aufsteigende Panik die Luft abschnürte.

Sofort wusste ich, dass Jasmine davon gesprochen hatte. 

Von diesem... diesem Mann.

Aber spätestens als er einen Pfiff ausstieß und die Styryo- Dämonen zum Angriff übergingen waren all meine Zweifel beseitigt.

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