18

Ich rannte so schnell wie ich nie zuvor gerannt war.

Ich rannte um mein Leben, um das Leben all derer, die mir etwas bedeuteten.

Denn ich wusste, dass er sich rächen würde, dass er mich für das, was geschehen war, verantwortlich machte.

Und deshalb würde ich büßen müssen.

Es war einfach seine Art, war schon immer seine Art gewesen, die Schuld bei den anderen zu suchen und blutige, brutale, grausame Rache zu üben, die den Betroffenen mitten ins Herz traf.

Erleichtert atmete ich aus, als ich Mendyr erreichte.

Den Palast von Synth.

Früher hatte ich immer das Gefühl gehabt, das große Schloss aus schwarzem Onyx, grauem Marmor und glänzendem Silber wäre die Abbildung der schönsten aller Nächte, in der Dunkelheit und Sternenlicht mit Trauer und Freude wechselwirkten und jedes Lebewesen seinen Platz hatte.

Jetzt kam es mir eher vor wie das schwarze Herz eines Landes, das dank seines verdorbenen Prinzen bald nur noch ein Kadaver aus Rache, Wut und Angst sein würde.

Eine letzte Erinnerung an das Leben und die Freundschaft, die ich mit Synth verband.

Heute würde sich alles ändern.

Ich wusste es, noch bevor ich die erste Stufe der weitläufigen schwarzen Treppe betrat, die von einem giftgrünen Teppich dekoriert wurde.

Die Farbe von Synth.

Die Farbe von Angst und Grauen.

Die Farbe seiner Augen.

Ich atmete zitternd ein, als ich die Panik, die sich in meiner Brust ausgebreitet hatte, in den hintersten Winkel meiner Selbst zurückdrängte und mich so auf das Anstehende vorbereitete.

Ja, nach heute wäre alles anders.

Nach heute wäre mein Leben die Hölle.

Wäre ich nicht diejenige gewesen, die beim Anblick des Bären geschrien hatte, wäre es vielleicht nicht so gelaufen.

Hätte Ryns Macht mich nicht so vollständig im Griff gehabt, dass ich leichtsinnig geworden war, wäre meine beste Freundin vielleicht noch am Leben.

Wäre ich einfach leise gewesen, als Merilla und ihr verdammter Bruder es auch geschafft hatten, hätten die Wölfe uns nie auch nur gefunden, hätten sie meine Freundin nie zerfleischen können und...

Nein, ich durfte mir nicht die Schuld an dem Ganzen geben.

Ich durfte nicht so denken wie er.

Hätte Ryn mit seiner Magie nicht diesen Bären erschaffen, um mich zu erschrecken, dann wäre ich nie auch nur auf den Gedanken gekommen, zu schreien.

Wäre er nicht so dumm gewesen, uns mit dem Hirschen herauszufordern, wären wir vielleicht nicht einmal so tief in den Wald gegangen.

Wäre er nicht so verdammt nachtragend gewesen, was mich, was uns beide betraf!

Meine Hand rutschte von der silbernen Türklinke ab, in die die hässliche Fratze eines Wolfes eingraviert war, der mich mit seinen langen, tödlichen Zähnen angrinste.

Ich schauderte, unterdrückte aber den Würgereiz, als mir der Gestank des Blutes wieder in die Nase stieg.

Für einen kurzen, schrecklichen Moment übermannten meine Emotionen mich und ich musste tief durchatmen, um mich vor dem endgültigen Zusammenbruch abzuhalten.

Ich durfte nicht aufgeben, nicht schwach sein.

Nicht jetzt, wo es noch Leben zu retten gab.

Stöhnend stemmte ich mich mit meinem gesamten Körper gegen die schwere Tür aus schwarz lackiertem Eichenholz, die sich schließlich viel zu langsam mit einem Knarzen öffnete.

Ich stolperte in den Eingangsbereich, der zu dieser späten Stunde verlassen dalag und von einer Dunkelheit erfasst wurde, die mich schaudern ließ.

Wenn ich zu spät kam...

Wenn er trotz der Macht, die ich von Merilla gestohlen hatte, trotz der Geschwindigkeit, die ich bei meinem Lauf an den Tag gelegt hatte, vor mir hier war...

Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was das für mich und meine Eltern heißen könnte.

Wenn noch genug von ihnen übrig wäre, um sie als meine Eltern zu bezeichnen.

Erneut schnürte eiskalte Angst mir die Kehle zu und ich stürmte eine der Treppen hinauf, die links und rechts von der großen Halle abgingen und sich schließlich zu den oberen Stockwerken hinaufwanden.

Meine Schritte hallten lauter als Donnerschläge durch den viel zu stillen Palast, mein Atem rasselte wie die Kette eines Poltergeistes und mein Blut rauschte in meinen Adern so laut wie der Fluss, der direkt neben dem Schloss entlang floss.

Schwer atmend stieg ich immer höher hinauf, immer schneller, bis ich den dreizehnten Stock erreichte, der noch viel dunkler, gespenstischer und stiller war als alle anderen.

Ich schluckte.

Das Geräusch schien von den Wänden reflektiert zu werden wie in einer Höhle und als Echo durch den Gang zu gleiten, lauter als jedes Unwetter.

Ich musste mich kurz an der kalten Wand aus schwarzem Stein festhalten, um meine Atmung zu kontrollieren, die von der Anstrengung und der Panik noch ganz flach war...

---

Mein Atem ging flach.

Ich hatte viel Blut verloren und Staub, Dreck und Schweiß klebten an mir wie eine Schutzhülle.

Ich war zu erschöpft, um die Augen zu öffnen, doch ich hörte die Stimmen.

Männerstimmen.

„Diese Juwelen werden uns einen Reichtum bescheren, den wir in tausend Leben nicht ausgeben können", sagte einer von ihnen. In meinem Kopf, der wie wild hämmerte und schmerzte, nannte ich ihn Nummer Eins.

„Und das ganze Bargeld erst. Ich weiß ja echt nicht genau, wer das hier liegen lassen hat, aber es ist verdammt viel Kohle", ergänzte ein zweiter, dessen Körper ich mir größer und muskulöser vorstellte als den von Nummer Eins.

Nummer Zwei.

„Ich kann echt nicht glauben, dass noch niemand sonst hier war. Ich meine, das ist das Handelsviertel. Man sollte doch meinen, dass jeder, der bei gesundem Menschenverstand ist, nach diesen wertvollen Münzen und Scheinen greift, geschweige denn den Juwelen", meinte Nummer Eins.

„Wird schon seinen Grund haben", entgegnete Nummer zwei.

„Jetzt haltet endlich die Klappe und ladet das Zeug auf den Wagen", blaffte ein dritter, dessen raue, heisere Stimme mir einen Schauder über den Rücken jagte.

„Ja, Boss", meinte Nummer Eins verängstigt.

Ich hörte, wie die drei Männer die Juwelen und Geldscheine, die den Reifrock der Avaritia gebildet hatten, auf irgendetwas aufluden, das sich verdammt nach einer Kutsche anhörte.

Ich konnte das Schnauben und Wiehern von Pferden ausmachen, ebenso wie den typischen Geruch nach Stall, sowie dem Scharren von Hufen im Dreck der Ruinen.

Mein Zeitgefühl war verschwunden, was wohl ebenfalls auf den Blutverlust zurückzuführen war.

Ich wusste nicht, wie lange die Männer brauchten, um das Geld und die Edelsteine auf ihren Wagen zu laden.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit verging, bis ich hörte, dass einer von ihnen sich mir näherte.

Ich wusste nicht, wann er mich bemerkte.

„He, Jungs!", rief er – der Stimme nach war es Nummer Drei. „Schaut euch mal an, was ich gefunden habe!"

Schritte, die sich näherten.

Kichern.

„Das ist aber ein ordentlicher Snack, Boss", meinte Nummer Zwei.

Hätte ich gekonnt, hätte ich mit den Zähnen geknirscht.

Aber ich war viel zu schwach, um auch nur eine minimale Bewegung auszuführen.

„Aber sowas von", stimmte Nummer Eins zu. „Die wird dir vielleicht mehr Reichtum einbringen als all die Scheine zusammen, wenn du sie an die richtigen Leute vermietest."

Ich hasste es, dass er über mich sprach als wäre ich ein seelenloses Objekt.

Vermietest.

Wie eine Kutsche oder ein Haus.

„Oder du verkaufst sie an eines der teuren Bordelle im Elite-Viertel", schlug Nummer Zwei vor. „Wenn man den ganzen Dreck einmal wegrechnet könnte sie ein schönes Mädchen sein."

Nummer Eins grunzte zustimmend.

Mein Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken daran, an einen Zuhälter verkauft zu werden, der seine menschlichen Besitztümer vermutlich schlechter behandelte als seinen Hund.

Wäre ich nicht von dieser unendlichen Taubheit erfüllt gewesen, hätte ich vielleicht geknurrt oder mich irgendwie gewehrt, aber die Kälte um mich herum nahm bereits wieder zu, als Nummer Drei auf mich zutrat.

„Ich denke, dass ihre Dienste unserer Mannschaft eine willkommene Abwechslung bieten werden."

Ich konnte das anzügliche Grinsen auf seinem Gesicht quasi riechen.

Nummer Zwei lachte. „Oh ja, das kann ich mir vorstellen. Wir hatten ewig kein Frischfleisch mehr im Lager."

„Stimmt", meinte Nummer Eins. „Das letzte Mal war da nur dieses Mädchen mit den roten Haaren, aber die hat sich so fest gewehrt, dass wir sie andauernd fesseln mussten. Hat gar keinen Spaß gemacht."

Ich biss die Zähne zusammen, als ich sie offensichtlich über irgendjemanden reden hörte, den sie entführt und dann missbraucht hatten, wie sie es jetzt auch mit mir machen wollten.

Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als ihnen ihre Geschlechtsteile mit einem der Messer abzuschneiden, die ich in meinen Stiefeln verborgen hatte.

Aber das musste warten, denn ich konnte mich immer noch nicht bewegen.

Kämpfen war völlig ausgeschlossen.

Ich spürte knochige Hände an meinem Körper. Auf meinem Rücken, in meinem Gesicht, an meinen Oberschenkeln.

Ich konnte nichts tun, außer weiterhin zu atmen und die Berührungen zu ignorieren, den Schmerz zu ignorieren, der durch meine Seite schoss, als der Mann die Wunde streifte.

Wenn sie wussten, dass ich bei Bewusstsein war, würden sie mich schneller töten, als ich den Mund öffnen könnte, selbst wenn ich nicht taub und gelähmt gewesen wäre.

Glücklicherweise zog Nummer Drei seine Hände wieder von mir weg und gab seinen beiden Untergebenen eine letzte Anweisung. „Ladet sie mit dem Gold auf. Und passt auf, dass sie nicht aufwacht!"

Innerlich wappnete ich mich bereits, freundete mich mit dem Gedanken an, dass gleich weitere gierige, schmierige, böse Hände meinen Körper berühren würden.

Ich sammelte Stärke, erfüllte meinen Körper mit Emotionslosigkeit, um weiterhin die Fassade der unwissenden Bewusstlosen zu spielen.

Ich spürte die Nähe von Nummer Eins und Nummer Zwei ganz deutlich.

Der Geruch ihres Schweißes. Das leise Geräusch ihres Atems...

Plötzlich hörte ich ein Geräusch, das sich entweder als meine Rettung oder meine endgültige Vernichtung herausstellen würde.

Twock.

Ein Messer bohrte sich in eine Brust.

Wenige Augenblicke später hörte ich Kampfgeräusche und warmes Blut spritzte mir ins Gesicht.

Ich nahm wahr, dass jemand ein weiteres Messer durch die Luft warf, das allem Anschein nach eine Kehle traf.

Das röchelnde Geräusch des sterbenden Mannes war das Schönste, das ich je gehört hatte.

Es zischte, als Klingen durch die Luft sausten und es schmatzte widerlich, als Fäuste auf Fleisch trafen.

Ich wusste nicht, wie lange es dauerte, aber bald schon war alles vorbei.

Warmes Blut klebte in meinem Gesicht und ich atmete erneut Dreck und Staub.

Um mich herum war es still geworden, als hätte jemand all seine Gegner getötet und war nun in der Bewegung erstarrt, um sich zu vergewissern, dass seine Arbeit getan war.

Schritte näherten sich.

Feste, bestimmte Schritte, die nur ein Ziel kannten.

Mich.

Große warme Hände legten sich auf meinen kalten, blutenden Körper.

Ich zischte schmerzhaft, weil ich es nicht länger zurückhalten konnte.

Der Fremde hob mich hoch und nahm mich in seine starken Arme wie ein kleines Kind, das hingefallen war.

„Du bist verletzt", murmelte er mit einer angenehmen Stimme, die mir das seltsame Gefühl von Geborgenheit und Frieden vermittelte.

Ich wollte ihn fragen, wer er war oder wieso er mich rettete.

Aber ich spürte, wie die Dunkelheit mich erneut zu überwältigen drohte und sparte meine Kräfte.

Es dauerte nicht lange, bis mein Geist ein weiteres Mal auf der dünnen Grenze zwischen Bewusstsein und Ohnmacht balancierte.

„Was machst du hier?", fragte ich mit krächzend heiserer Stimme, aber der merkwürdige Fremde, der mich immer noch in den starken Armen hielt, antwortete nicht.

Stattdessen bahnte er sich einen Weg aus den Ruinen, die von meinem Kampf mit der lebenden Statue übrig geblieben waren.

Ich seufzte nur. Erleichtert, dass ich vorerst nicht an eine Horde wütender Männer ausgeliefert werden würde, die Spaß daran hatten Frauen zu fesseln.

„Was machst du hier?", wiederholte ich benommen.

Ich konnte nicht mehr zwischen Gegenwart und Vergangenheit unterscheiden. Zwischen Realität und Erinnerung. Zwischen Wahrheit und Traum.

---

Was machst du hier?", keuchte ich, als ich Ryns grüne Augen sogar in der Finsternis leuchten sah.

Ich hätte schwören können, dass der Kronprinz von Synth lächelte. „Ich bin hier, um das zu tun, was ich am besten kann."

Ein eiskalter Schauder lief mir über den Rücken und mein Mund wurde trocken.

Ich wunderte mich, dass meine Stimme mir nicht den Dienst versagte, als ich zu flehen begann: „Bitte nicht, Ryn! Bitte, bitte, bitte nicht!"

Hat ein ‚bitte nicht' diese Wölfe davon abgehalten, meine Schwester zu töten?", entgegnete er wutentbrannt. Seine Stimme war mit Magie erfüllt, die ich noch nie gespürt hatte.

So viel rohe Macht, so viel raue Magie, dass sie ein ganzes Volk, ein ganzes Land dem Erdboden gleichmachen konnte.

Bitte!", flehte ich weiter, nicht bereit, den Kampf jetzt schon aufzugeben. „Hab Erbarmen, Ryn!"

Erbarmen?", fauchte er. „Erbarmen?! Hatten diese Killerwölfe etwa Erbarmen? Haben die Herrscher der anderen Königreiche Erbarmen?"

Ich schluchzte, weil die Verzweiflung in mir einfach zu groß war, um sie zu unterdrücken.

Ich war zu spät. Trotz allem war ich zu spät, zu langsam, zu feige gewesen, um es zu verhindern.

Mit Tränen in den Augen starrte ich die Tür hinter ihm an, in der meine Eltern schliefen, unwissend, dass ihr Tod knapp bevorstand.

Es ist alles deine Schuld, Ariadne!", knurrte Ryn. „Es ist nur deine Schuld, dass diese Wölfe uns gefunden haben und deshalb musst auch du allein dafür bezahlen!"

Eine Träne kullerte meine Wange hinunter und ich konnte das Zittern nicht verhindern, das mich wie ein Fieber überfiel.

Es ist nicht meine Schuld", flüsterte ich, aber meine Stimme klang selbst in meinen eigenen Ohren schwach und verletzlich.

Ryn lachte.

Es war ein bitteres, harsches, böses Lachen, das durch den Flur hallte wie der Schrei einer Raubkatze, bevor sie ihre Beute erlegte.

Ich musste eine Hand an die Wand lehnen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Die Angst schnürte mir noch immer den Atem ab und ich fühlte nichts außer Schmerz und noch mehr Schmerz, weil Merilla tot war und meine Eltern bald folgen würden.

Natürlich ist es deine Schuld", blaffte Ryn, als sein Lachen schließlich verklungen war. „Es wird immer deine Schuld sein!"

Und ich glaubte ihm.

Egal, wie sehr ich mir selbst glauben wollte. Egal, wie oft ich mir einredete, dass es seine Schuld war.

Ich kam immer wieder zu demselben Ergebnis.

Er hatte Recht.

Es war allein meine Schuld.

Ich hatte geschrien.

Ich hatte Merilla nicht überredet, den Wald früher zu verlassen.

Ich hatte Angst vor dem Bären gehabt und meine beste Freundin hatte sich für mich geopfert.

Was machte es also für einen Unterschied?

Er hatte ja recht, denn er war der Kronprinz und er würde bald der König sein.

Und der König hatte immer Recht.

Ich dagegen war erst sechzehn.

Ich konnte nicht kämpfen, hatte keine brauchbare Elementarmagie, die ich gegen ihn verwenden konnte, und wusste außerdem nicht, wo ich danach hingehen sollte.

Selbst wenn ich ihn hier und jetzt tötete – was aufgrund seiner Kriegerausbildung und meiner Unerfahrenheit sowieso nicht möglich war – würde das nicht all meine Probleme lösen.

Wenn ich den Kronprinzen tötete, wäre ich in Mendyr nicht mehr willkommen.

Wer wollte schon die Mörderin seines Sohnes im eigenen Palast haben?

Nein, es würde absolut nichts nützen, Ryn das Leben zu nehmen, denn sein Vater war genau wie er.

Der König von Synth hatte auch Spaß am Blutvergießen und am Kämpfen, Töten und Vernichten.

Wenn dieser Mann in derselben Nacht beide Kinder verlor und wenn ich auch noch an beiden Toden beteiligt wäre, dann würde Blut fließen.

Nicht nur mein Blut.

Nicht nur das Blut meiner Eltern, wie es Ryn vorschwebte.

Nein, wenn der König Ryn und Merilla an mich verlor, dann würde mein gesamter Stammbaum ausgelöscht werden, und wenn es nur der dreijährige Cousin um acht Ecken war, den er mitsamt seiner jungen Mutter ertränkte.

Alle, die auch nur im Entferntesten Skensnyper-Blut in sich trugen, würden dies schon bald über den Boden fließen sehen. Mit glasigen, leblosen Augen.

Also fragte ich mich erneut: Was für einen Zweck hatte es, Ryn zu töten?

Was für ein Ziel würde ich damit erreichen außer das meiner eigenen Genugtuung?

Schnell kam ich zu einer Antwort.

Keines.

Willst du wirklich noch mehr Blut vergießen?", fragte ich ihn flehend. „Willst du tatsächlich, dass noch mehr Leute sterben müssen, wo wir beide heute schon den wichtigsten Menschen unseres Lebens verloren haben?"

Und da rastete Ryn aus.

Er tobte vor Wut und Zorn und Hass und Bosheit, seine giftgrünen Augen leuchteten in der Dunkelheit, als er all seine Magie in seine Hände rief und sie zum Glühen, zum Leuchten, zum Strahlen brachte.

WIR BEIDE?!", schrie er mich an. Sein Speichel traf mein Gesicht, aber ich wagte es nicht, die Hand zu heben, um die Feuchtigkeit mit dem Ärmel wegzuwischen. „WIR BEIDE?!"

Ich schluchzte erneut und wich einen Schritt vor ihm zurück, um seiner Macht zu entgehen, die meine Brust zu erdrücken schien.

Plötzlich war seine Stimme die Verkörperung von tödlicher Ruhe.

Hast du überhaupt irgendeine Ahnung, was Merilla mir bedeutet hat, Ariadne? Irgendeine Ahnung?"

Eine weitere Träne befeuchtete meine Wange und tropfte von meinem Kinn auf den Boden.

Das Geräusch schien in der erdrückenden Stille lauter als der Einschlag einer Bombe.

Dachte ich mir schon", murmelte Ryn abwertend.

Denkst du etwa, mir hätte sie nicht mindestens genauso viel bedeutet?", fragte ich leise, meine Stimme zitterte noch mehr als meine Hand, mit der ich mich immer noch an der Wand abstützte.

Ryn trat einen Schritt näher. Seine Stimme war ein bedrohliches Flüstern, als er mir antwortete: „Wenn du auch nur eine Sekunde lang denkst, dass sie dir so wichtig war wie mir, dann täuschst du dich gewaltig. Geschwisterliebe übersteigt den Bund zweier Freundinnen um ein Vielfaches!"

Das wage ich zu bezweifeln!", zischte ich. „Freundschaft ist ein mächtiger Bund, den der Tod nicht einfach so überwindet!"

Ryn verlor erneut kurz die Fassung und gewährte mir einen Blick auf diese zornentbrannten Augen, die mich erdolchen wollten. „SIE HAT MIR GEHÖRT!"

Sie hat überhaupt niemandem GEHÖRT!", rief ich wütend zurück. „Du wolltest sie immer für dich haben, wolltest sie immer kontrollieren, aber sie hat dir NIE gehört, Ryn! Sie war ein freier Mensch und keine Schachfigur, die du einfach so bewegen kannst!"

Ryn fletschte die Zähne. Sein Gesicht war ein Zusammenspiel aus Wut und Magie, aber ich war nicht aufzuhalten.

Hast du je darüber nachgedacht, dass vielleicht nicht ich das Problem sein könnte, sondern du?", fragte ich. „Hast du je überlegt, ob sie mehr Zeit mir mir verbringt, weil ich sie nicht ständig behandelt habe wie ein verdammtes Objekt?"

Meine Stimme hallte durch den Flur wie ein lauter Donner, aber Ryn hörte gar nicht zu.

Ich erkannte es an dem schmallippigen Lächeln, das er mir schenkte.

Egal.

Ich schrie ihn trotzdem weiter an. Über seine Unfähigkeit, seine Unwürdigkeit und sein bescheuertes Eifersuchtsgehabe, das meiner besten Freundin am Ende das Leben gekostet hatte.

Ich war ein Sturm aus Wut, der nicht aufzuhalten war.

Kann es sein, dass du so fokussiert darauf warst, sie für dich zu gewinnen, dass du sie immer weiter von dir fortgestoßen hast? Schonmal daran gedacht?", herrschte ich ihn an. „Sie war nicht dein Eigentum, aber du wolltest sie nur für dich haben und deshalb ist sie dir Stück für Stück mehr entglitten."

Ryns Lächeln gefiel mir gar nicht. Seine Augen funkelten bestialisch und ich zuckte merklich zurück, doch ich ließ mich auch davon nicht unterkriegen.

Weißt du was?", beendete ich meine Standpauke schließlich, als alle Worte, die ich hatte sagen wollen, aus mir herausgesprudelt waren, ohne dass ich sie aufhalten konnte. Ohne dass ich sie aufhalten wollte.

Ich sah ihm direkt in die Augen, als ich das sagte, was er als einziges zu hören schien. Das, was ihm das verdammte Lächeln aus dem Gesicht wischte und ihn blass werden ließ, weil seine Wut auf mich so unendlich groß war, dass er sie nicht zurückhalten konnte.

Deshalb hat sie sich für mich vor diesen Wolf geworfen. Weil ich ihr wichtig war." 

Er atmete nicht.

Ich schenkte ihm nur einen angewiderten Blick. „Ich glaube, für dich hätte sie es nicht getan."

Und wir beide wussten, dass es stimmte.

Dennoch lächelte der Kronprinz von Synth mich erneut an. „Zu Schade, dass du zu spät kommst. Zwei Minuten früher und ich hätte deine Eltern sogar in deiner Gegenwart zerstückeln können."

Der Schock traf mich wie ein Schlag ins Gesicht.

---

Kaltes Wasser traf mein Gesicht wie ein Schlag und ich schlug erschrocken die Augen auf.

„Zwei Minuten später und du wärst vermutlich verblutet", sagte eine Stimme, die ich nicht kannte.

Ich sah mich um, konnte in der Dunkelheit jedoch nichts erkennen, selbst wenn auf einem kleinen Tisch neben dem Bett eine Kerze stand, die spärliches Licht spendete.

„Wasser", krächzte ich, als ich den Kloß und die damit einhergehende Trockenheit in meinem Hals spürte.

Der mysteriöse Mann lachte nur leise in sich hinein, erhob sich von der Kante der weichen Matratze unter mir und lief zu einem Spülbecken in der Nähe.

Ich hörte das leise Rauschen des Wassers, als er ein Glas befüllte, und drehte schließlich den Kopf so gut es möglich war in seine Richtung.

Ich erkannte nur schwarze Kleidung, die mich irgendwie an ein Kostüm erinnerte, weil sie überall mit Waffengurten überzogen war, an denen diverse Klingen glänzten.

Messer, Wurfsterne und sogar zwei Schwerter glänzten in der Dunkelheit, als sich der Fremde mit dem Glas wieder in meine Richtung bewegte.

Der seltsame schwarze Anzug hatte außer den vielen Waffen eine weitere Besonderheit.

Er war am Hals mit schwarzen Federn verziert, die sich zu einem bauschigen, majestätischen Kragen verbanden und meinem Retter das Aussehen eines Todesvogels gaben.

Seinen Kopf erkannte ich nicht, da er zu meinem Erstaunen von einer Maske bedeckt war, die aussah wie der knochige Schädel einer Krähe.

Ich unterdrückte ein Zittern, als ich das Glas entgegennahm und einen Schluck trank.

Es war kalt und schmeckte so sehr nach Leben, dass ich seufzte.

„Danke", sagte ich schließlich, als ich den Blick von dem mysteriösen Krähenmann abwendete und erneut versuchte, etwas in dem dunklen Raum zu erkennen.

Ich konnte nur Umrisse ausmachen, obwohl die kleine Kerze weiterhin ein wenig Licht spendete.

„Für die Rettung", fügte ich hinzu.

Ich ließ eine Hand an meine Seite gleiten, doch die tiefe Wunde war ein wenig geheilt und nun mit einem ordentlichen Verband und diversen Kräutern belegt.

Der Krähenmann wusste, wie man eine Verletzte versorgte.

„Nichts zu danken", sagte er und zeigte mir die leere Dose einer magisch präparierten Heilsalbe, die er vermutlich für die grobe Heilung meiner Verletzung verwendet hatte.

Ich lächelte nur und nickte, weil ich zu erschöpft war, um noch etwas anderes zu erwidern.

Nach einer Weile drängte ich die aufkommende Müdigkeit jedoch erneut zurück und ließ meiner Neugier freien Lauf.

„Wer bist du?", fragte ich meinen maskierten Retter.

Er sagte nichts, sondern zuckte nur mit den Achseln. „Meinen Namen verrate ich nicht, aber du kannst mich Crow nennen. Wie die Krähe."

„Crow also, hm?", hakte ich nach. „Klingt episch."

„Wenn ich unter einem normalen Namen, wie zum Beispiel Julian Morrison auf die Jagd nach Kriminellen gehen würde, wäre das entweder ziemlich lahm oder tödlicher als der Biss einer Kobra", entgegnete er trocken.

Ich ignorierte die Tatsache, dass er sich gerade indirekt als eine Art städtischer Gangsterjäger bezeichnet hatte.

Ich mochte keine Angeber.

„Also heißt du eigentlich Julian Morrison?", fragte ich stattdessen.

Er lachte, antwortete aber nicht auf meine scherzhaft gemeinte Frage.

„Wie du heißt, muss ich wohl gar nicht erst fragen. Ich habe gehört, dass die Palastbewohner schon fleißig nach dir suchen", meinte er. „Das bist doch du, oder? Diese Frau, die die Statue besiegt hat und dann spurlos verschwunden ist?"

Ich nickte. „Höchstpersönlich."

„Die Unterwelt Akars ist ziemlich aufgewühlt. Jeder versucht herauszufinden, welcher der Drogenkartellbosse oder Bordellbesitzer dich entführt hat, um dich ihm zu entwenden und dann richtig viel Geld mit dir zu verdienen", erklärte Crow amüsiert. „Das Chaos erleichtert mir meine Arbeit."

Ich nickte erneut schwach, da ich merkte, dass ich ein weiteres Mal am Rande der Ohnmacht stand.

„Du hättest das Gesicht dieses Unterweltbosses sehen sollen, als ich ihm eines meiner Messer zwischen die Augen gestoßen habe. Es war fast zu einfach."

Ich hörte ihn schon nicht mehr.

---

Du hättest ihre schlafenden Gesichter sehen sollen, als ich sie aufgeschlitzt habe", sagte Ryn. „So friedlich und doch so tot."

Ich hörte ihn gar nicht mehr.

Ich stürmte an ihm vorbei, mein Herz rasend von der Angst, die in mir aufstieg und einen heftigen Brechreiz verursachte, den ich nur mit Mühe unterdrücken konnte.

Ich stieß die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern auf und scherte mich nicht darum, was Ryn tat oder ob er einfach auf der Stelle stehen blieb.

Der Anblick war grauenhaft.

Ryn hatte ganze Arbeit geleistet.

Mein Vater lag auf dem Boden neben dem großen Bett, die Kehle zu einem blutigen Lächeln aufgeschlitzt, das dort wie erstarrt klaffte und nie wieder geschlossen werden würde.

Seine Arme waren mit Schnitten überzogen und seine Beine standen in seltsamen, unnatürlichen Winkeln von seinem Körper ab, weil sie mehrfach gebrochen worden waren.

Die Haare waren ihm büschelweise ausgerissen und in seinem Gesicht, das dem meinen so ähnlich sah, fehlten die Lippen und die Ohren, weil jemand sie abgeschnitten hatte.

Ryn.

Er hatte meinen Vater gefoltert und ermordet, er hatte meine Mutter...

Meine Mutter...

Mein Blick fiel auf meine Mutter, die noch fiel schlimmer zugerichtet war als mein Vater.

Jemand hatte sie von ihrem Hals bis zu ihrem Bauchnabel aufgeschlitzt und all ihre Organe auf dem Bett verteilt, sodass ich sie schön betrachten konnte.

Ein fleischfarbener Darm, ein blutrotes Herz, elfenbeinfarbene Knochen.

Ihre Rippen waren abgebrochen worden, sodass der Blick auf ihre Wirbelsäule frei war, die ihren Unterkörper mit ihrem Kopf verband.

Die Arme meiner Mutter waren nach hinten gedreht und ihre Beine waren ebenfalls mehrfach gebrochen, während man ihre magentafarbenen Augen aus ihrem Gesicht entfernt hatte.

Augen in derselben Farbe wie die meinen.

Sie hing kopfüber von der Decke, ihr Blut tropfte auf das Bett, das voller Organe war.

Ich erbrach mich auf den Boden.

Das war ein wahr gewordener Albtraum...

Was Ryn meinen Eltern da angetan hatte... das konnte kein Mensch je mit einem anderen Menschen machen. 

Das war eine Untat, ein schweres Verbrechen, das er als Nachricht an mich begangen hatte.

Ich hörte sein leises Lachen, als er den Raum betrat.

Ist es nicht grauenvoll?", meinte er fasziniert.

Ich konnte nicht antworten.

Erneut erbrach ich auf den Boden vor mir.

Das war schlimmer als all meine Ängste es je hätten sein können.

Das war schlimmer als alles, was ich mir je hätte ausmalen können.

Meine Eltern so zu sehen...

Die letzten Menschen, die mir auf dieser Welt etwas bedeutet hatten...

Zerstückelt, gefoltert, geschunden und blutig wie Tiere, die zum Schlachten bereitet wurden...

Ein drittes Mal konnte ich dem Brechreiz nicht standhalten und kotzte auf den blutüberströmten Teppich.

Eine Flut aus Emotionen überschwemmte mein ganzes Bewusstsein.

Trauer, Grauen, Ekel und so viel Wut und Hass, so viel Zorn, dass es mir die Kehle zuschnürte.

Ich wollte zusammenbrechen und weinen, bis ich endlich auch sterben würde und meine Eltern und meine beste Freundin wiedersehen konnte.

Aber es gab etwas, das ich dringender wollte.

Ich wollte sein Blut auf meinen Handflächen sehen, seine leeren Augen, die nie wieder irgendetwas erblicken würden.

Ich wollte ihn tot sehen.

Dieses Verlangen verdrängte die Trauer, verdrängte den Ekel, verdrängte das Grauen.

Es war nur Platz für diese Wut und den Zorn, den ich gegen ihn verspürte.

Ihn, der Schuld war am Tod meiner besten Freundin.

Ihn, der er der Mörder meines Vaters und meiner Mutter war.

Ihn, Kronprinz von Synth und Meister der Angst.

Er hatte mir alles genommen.

Alles.

Mir blieb nichts außer dieser Zorn.

Mir blieb nichts, für das es sich zu leben lohnte.

Aber ich wusste, dass ich noch etwas erledigen musste, bevor ich starb.

Vielleicht würde ich es erst in zwanzig Jahren erreichen, aber ich würde sicherstellen, dass Ryn Toxxalver diese Welt für immer verließ.

Und wenn es das letzte war, was ich je tun würde.

Plötzlich war da ein Messer an meiner Kehle, ein Kopf ganz nah an meinem und ein kalter Körper hinter mir, der mich auf das Bett zuschob.

Und jetzt zu dir", zischte Ryn mir ins Ohr. „Die Familie muss schließlich vereint bleiben, nicht wahr?"

Ich erstarrte.

Ich wusste, was kommen würde.

Es musste so sein.

Er kannte kein Erbarmen. Nicht mit mir, wo ich doch die Mörderin seiner Schwester war.

Aber ich ließ es nicht zu.

So schnell, dass er nicht einmal die Chance hatte zu reagieren, riss ich meine rechte Hand nach oben und schob sie zwischen meine Kehle und die Klinge in Ryns Hand.

Ich zischte, als er mir die tiefe Schnittwunde zufügte, die noch Jahre später als feine Narbe zu erkennen sein würde, ließ ihm aber erneut keine Zeit.

Ich wirbelte herum, stieß ihn mit aller Kraft von mir und sprintete auf die geöffnete Balkontür zu.

Du kannst nirgends hin", keuchte er, als er sich auf die Beine kämpfte, aber ich rannte weiter, hörte nicht auf seine Worte. „Ich werde dich finden, egal wo du dich versteckst, Ariadne Skensnyper."

Eine Gänsehaut überzog meinen Körper, als ich meinen ganzen Namen aus seinem Mund hörte.

Mit der letzten Kraft, die mir noch geblieben war, mit dem letzten Willen in meinen Adern warf ich mich über die Brüstung des Balkons und gab mich dem freien Fall hin.

Ryn warf mir sein Messer hinterher, doch er verfehlte mich meilenweit.

Seine Worte erreichten mich trotzdem.

Lang lebe der König, Ariadne! Lang lebe der König! Lang lebe der König! Meine Rache wird endlos sein. So endlos wie die Ozeane, deren dunkle Wellen ich nach dir durchsuchen werde. Meine Rache. Meine Rache. Meine endlos große Rache. Lang. Lebe. Der. KÖNIG."

Ziemlich übertrieben.

Ich zitterte dennoch, als ich immer weiter auf die Fluten der Exodis zufiel.

Nichts bremste den Fall meines Körpers und meines Herzens, das durch den Verlust aller geliebter Menschen schmerzte und ächzte.

Das Geräusch, mit dem ich auf der Wasseroberfläche auftraf, war das meines brechenden Herzens.

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