17
Ich rannte durch die Stadt.
Mit jedem Schritt, mit jedem Atemzug hallte der Plan in meinem Kopf wider wie ein Fluch.
Nachdem der Jähzorn für immer besiegt war, hatten wir uns nicht viel Zeit gelassen.
In Akar gab es immer noch sechs weitere Damen des Todes, die ihr Unwesen trieben und die Stadt zu einer Ruine machen würden, wenn niemand sie aufhielt.
Wenn wir sie nicht aufhielten.
Wir waren uns schnell einig gewesen: Als Anführerinnen der königlichen Garde und Armee, war es meine und Cassandras Pflicht, die Stadt vor diesen Bedrohungen zu verteidigen. Es war außer Frage gewesen, dass Lyane, Calin und Ivory uns helfen würden.
Also hatten wir das getan, was in allen Horrorszenarien, vielleicht sogar in allen Szenarien immer schieflief.
Wir hatten uns aufgeteilt.
Ich bog um eine Ecke und rannte die nächste Straße entlang, beschleunigte mit jedem Atemzug meine Schritte.
Je schneller ich ankam, desto mehr Zerstörung und Verwüstung konnte ich vielleicht verhindern.
Ich ging ein weiteres Mal die Details durch, die sich schließlich zu einer großen Rettungsaktion verbinden würden.
Superbia, der Hochmut; Avaritia, die Habsucht; Luxuria, die Wollust; Ira, der Jähzorn; Gula, die Völlerei; Invidia, der Neid; Acedia, die Faulheit.
Die sieben Todsünden.
Die Damen des Todes.
Da die Ira bereits tot und begraben war, blieben also sechs weitere Statuen übrig, die mithilfe von Ryns Macht zum Leben erweckt worden waren.
Sechs Statuen, die alle auf unterschiedliche Weise besiegt werden konnten.
Ich hatte Marlons letzte Worte und die Wahrheit, die darin mitgeschwungen war, nicht vergessen.
Du hast in all deinem Jähzorn vergessen...
In all deinem Jähzorn.
Es war eigentlich einfach gewesen, die anderen von meinem Plan zu überzeugen. Von Marlons Plan.
Die Damen des Todes mochten zwar zehn Meter groß sein und mit Waffen ausgestattet, die wir uns nicht einmal vorstellen konnten.
Aber sie hatten eine Schwäche.
Eine riesige Schwäche, die für jeden aufmerksamen Beobachter offensichtlich war.
Sie waren zum Leben erweckte Sünden.
Es war also ziemlich einfach gewesen, uns für jede Statue eine andere Strategie auszusuchen, mit der wir sie überlisten und schließlich töten könnten.
Ich las eines der alten, rostigen Straßenschilder, die diesen Teil der Stadt an jeder Ecke säumten, und rannte schließlich weiter in Richtung meines Ziels.
Ich hatte nicht die Zeit, Kondition zu sparen, aber wenn alles glatt lief, würde ich, sobald ich angekommen war, sowieso nicht mehr laufen müssen.
Wenn.
Ich bahnte mir meinen Weg durch enge Gassen, breite Hauptstraßen und Marktplätze, die aufgrund der späten Stunde alle verlassen waren.
An einer Ecke links, an einer anderen rechts, dann siebenhundert Meter geradeaus und schließlich wieder links.
Die Stadt war ein Labyrinth aus Dunkelheit und Licht, das aus den Fenstern strahlte, in denen noch Menschen wach waren.
Doch ich lief unbeirrt weiter, mit nur einem Ziel vor Augen.
Das Handelsviertel.
Es gab zwei Gründe, weshalb wir uns dazu entschlossen hatten, dass ich mich der Habsucht, der Gier und dem Geiz stellen sollte, den die Avaritia verkörperte.
Der erste war, dass ich früher in diesem Viertel zuhause war, dass ich mich vermutlich besser auskannte als irgendjemand sonst und dass ich außerdem Kontakte hatte, die für den Plan wichtig waren, mit dem ich die Avaritia überlisten wollte.
Der zweite war, dass sie eine der gefährlichsten Gegner unter den sieben Damen des Todes war. Neben der Gula und der Ira, weil das Ausnutzen dieser drei Sünden mehr als nur ein wenig Geschick erforderte.
Ich schluckte die bittere Galle, die in meiner Kehle aufstieg, sobald ich an die Aufgabe vor mir dachte, hinunter und konzentrierte mich erneut auf die Straßen.
Während ich die Avaritia übernommen hatte, war Cassandra gerade auf dem Weg zur Verkörperung der Völlerei und Fresssucht.
Es schien nur gerechtfertigt, dass wir beide als Anführerinnen der Garde und der Armee den stärksten Gegnern gegenübertreten würden.
Ich konnte nur hoffen, dass bei dem Versuch, die Dame zum Platzen zu bringen, nicht allzu viel schiefging.
Ivory war in Gestalt eines Falken zurück zum Palast geflogen und hatte Jasmine hoffentlich bereits über ihre Aufgabe informiert, der faulen Acedia von hinten die Kehle durchzuschneiden und die Abbildung des Hochmutes mithilfe eines Spiegels zur Selbstvernichtung zu treiben.
Ich vertraute der Strategin mit meinem Leben und setzte alles darauf, dass sie mit diesen beiden umgehen konnte.
Jasmine.
Niemand anders sollte informiert werden, dass die Statuen überhaupt zum Leben erwacht waren, um unnötige Panik im Palast zu vermeiden.
Wenn sie die Monster nicht bereits bemerkt hatten.
Früher oder später würden es sowieso alle wissen.
Anschließend sollte Ivory mit Calin ins Innenviertel laufen, wo der schöne Cylter, der dank seiner Magie perfekt für diesen Job war, die lustvollste aller Statuen verführerisch ablenken sollte, während die Spionin ihr das Leben nahm.
Lyane kümmerte sich um die letzte Sünde.
Den Neid.
Was könnte besser gegen Neid ankommen als eine Illusion von allem, was man je begehren könnte?, hatte sie gesagt und ich hatte nur gegrinst.
Jetzt konnte ich nur noch eines machen.
Ich drückte die Daumen, dass bei keinem meiner Freunde ein fataler Fehler passieren würde, dass wir alle diese lebensgefährliche Aktion heil überstehen würden, dass wir alle im Nachhinein feiern könnten, weil wir einen weiteren von Ryns wahr gewordenen Albträumen überlebt hatten.
Keuchend blieb ich an einem Stadtplan stehen und studierte die Karte.
Ein roter Punkt zeigte meinen Standort und ein großes gelbes X markierte die Stelle, an der meine sündhafte Gegnerin zum Leben erwacht war.
Es war nicht mehr viel Weg zwischen uns und dennoch viel zu weit entfernt.
Wenn ich also hier abbog und dann dort diese Straße bis dahin nahm, um dann...
„Ich habe dich doch gewarnt."
Ich ignorierte die bekannte Stimme und studierte weiterhin die Karte, prägte mir ein, wo ich wann wie abbiegen musste, um wohin zu gelangen.
Die Frau hinter mir stieß eine Reihe vorwurfsvoller Tsk-Laute aus, die mich mit den Zähnen knirschen ließen.
„Man ignoriert eine Dame nicht", sagte sie.
„Du bist keine Dame, Kaya", antwortete ich nur kalt, als ich ein letztes Mal die Details der Route in meinem Kopf durchging.
Ohne auf eine Antwort zu warten rannte ich weiter.
Ich hielt nur an, wenn ich überlegen musste, welche der Straßen die richtige war oder welchen Weg ich als nächstes nehmen musste.
Neben mir flimmerte die Luft ständig in einem hellen Grau und manchmal konnte ich Kayas lachendes Gesicht erkennen, das mich auf meinem Weg verfolgte.
„Was willst du?", presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, wobei ich nicht eine Sekunde stehen blieb.
„Ach, wer hat denn gesagt, dass ich etwas will? Vielleicht bin ich einfach nur hier, um ein bisschen Spaß zu haben!", antwortete sie gedehnt.
„Wenn du Spaß haben willst, dann geh doch zurück in Ryns Schlafzimmer", schoss ich zurück. „Ich bin mir sicher, er wartet schon."
Aus dem Augenwinkel glaubte ich wahrzunehmen, dass sie die Augen zu Schlitzen verengte und die Lippen zu einer Grimasse verzog. „Du solltest mir dankbar sein", zischte sie.
„Dankbar? Dir? Wieso?"
„Für meine Warnung", erwiderte sie.
„Ach ja", meinte ich, wobei meine Stimme vor Sarkasmus nur so triefte. „Stimmt. Deine Warnung war echt der Hammer, hat mir definitiv das Leben gerettet. Mal von der Tatsache abgesehen, dass sie absolut nichts gebracht hat."
Kaya schnaubte nur und hielt locker mit mir Schritt, ihre gespenstische Macht umgab sie wie eine Blase, in der sie einfach neben mir her schweben konnte, ohne sich auch nur im Geringsten anzustrengen.
„Weißt du was?", fuhr sie fort. „Ich hätte dich genau so gut auch einfach nicht warnen können."
„Dann wäre ja alles genau wie jetzt."
„Was meinst du?"
„Ich kann mit kryptischen Worten nichts anfangen", knurrte ich. „Wenn dir wirklich so viel daran liegt, mich zu warnen, dann sag mir gefälligst genau, was passiert und mach keine verdammten Andeutungen!"
Kaya zog einen Schmollmund. „Aber das wäre doch langweilig, oder nicht?"
Ich verdrehte nur die Augen. „Also willst du mich gar nicht wirklich warnen."
„Natürlich nicht", gab sie zu. „Aber es macht einfach zu viel Spaß, mit der Maus zu spielen, bevor sie gefressen wird."
Diesmal war ich diejenige, die schnaubte.
„Du musst verstehen, dass das Leben im Schatten eines so mächtigen Mannes wie Ryn Toxxalver nicht wirklich viele Spannungen bietet", erklärte sie katzenhaft. „Es war mir eine willkommene Abwechslung, dir diese Drohungen an den Kopf zu werfen."
„Kann ich mir vorstellen", antwortete ich trocken.
„Sag mir eines, Aria. Wenn du in den Spiegel siehst, hast du dann Angst, dass jeder Atemzug dein letzter sein könnte? Dass jeder Schritt in den Abgrund führen könnte? Dass jede noch so unwichtige Entscheidung das Leben deiner Freunde beenden könnte?", flüsterte Kaya. Ein seltsam sadistischer Ton hatte sich in ihre Worte geschlichen und verlieh ihnen diesen letzten Schliff, der mich zittern ließ.
Ich bemühte mich, meine Stimme möglichst ruhig zu halten, als ich antwortete: „Ich zerschmettere einfach jeden Spiegel. Problem gelöst."
Kaya lachte.
Ein böses, hinterhältiges Lachen, das ich am liebsten nie wieder in meinem ganzen Leben gehört hätte.
„Aria, Zerstörerin aller Spiegel", sagte sie. „Klingt doch gar nicht so schlecht. Könnte auf jeden Fall der Titel einer schlechten Oper sein."
Ich gönnte ihr nicht die Genugtuung, meine Frustration zu sehen. Ich hielt mein Gesicht so ausdruckslos wie die Backsteinmauer zu meiner Linken.
„Ach komm schon, Aria", flötete Kaya. „Hast du denn gar keinen Spaß am Leben?"
„Klar habe ich Spaß", antwortete ich gepresst.
Das stimmte sogar, auch wenn in letzter Zeit die Dunkelheit all das Licht, für das mein Leben lebenswert gewesen war, auslöschte.
Ich hoffte von tiefstem Herzen, dass ich diese Dunkelheit bald vertreiben und durch so viel Licht ersetzen könnte, dass es jeden blendete, der versuchen würde, mir dieses Licht erneut zu nehmen.
„Merkt man nicht", antwortete Kaya. „Du bist heute viel zu verkrampft."
„Vielleicht", zischte ich wütend, meine Wut kaum noch gezügelt. „Vielleicht liegt das zufällig daran, dass dein verdammter Meister die Hölle auf meine Stadt losgelassen hat. Schonmal daran gedacht?"
Die graue Masse bewegte sich ein wenig, was vermutlich ein Achselzucken darstellen sollte. „Du könntest trotzdem ein bisschen Spaß haben. Immerhin ist es vielleicht dein letzter Tag auf dieser Erde."
Ich ignorierte ihren Kommentar und fokussierte mich auf die Lagerhäuser, die nun vor mir auftauchten. Jetzt würde ich den Weg zu meinem Ziel sogar blind finden.
Den Weg nach Hause.
„Weißt du, Kaya", sagte ich zuckersüß. „Ich verspüre nicht den Drang, Spaß am Töten und Vernichten zu haben. Ich habe Spaß am Reden mit meinen Freunden, am Training mit den Wachen und meiner Magie und am Tanzen und Lesen und manchmal sogar am Duschen. Aber niemals – absolut niemals werde ich Spaß am Töten haben. Denn ich werde nie so ein Mensch wie du sein."
Das Lächeln gefror auf ihren Lippen, als meine Worte sie genau dort trafen, wo ich es beabsichtigt hatte. Schließlich erkannte ich plötzlich unfassbar viel Wut in ihrem Gesicht. „Du weißt gar nichts! Hast du verstanden?"
„Was hat dich nur zu so einem Monster gemacht?", fragte ich, echtes Mitleid in meiner Stimme.
Sie sah mich an und ich hätte schwören können, dass eine geisterhafte Träne über ihr verschwommenes Gesicht lief. „Nichts hat mich zu einem Monster gemacht. Ich war immer ein Monster. Seit meiner Geburt", antwortete sie zornig.
Aber ich hörte die Lüge in ihren Worten.
„Soll ich dir etwas verraten?", wechselte sie schließlich das Thema, als wir die dunkle Gasse erreichten, die mir so bekannt war, dass sich meine Kehle zuschnürte.
Ich antwortete nicht, da ich wusste, dass sie mir ihr kleines Geheimnis erzählen würde, egal was ich sagte.
„Du kannst sie nicht retten", murmelte sie boshaft. „Er tötet sie alle, auch wenn du dich opferst. Also versuch es gar nicht erst, Aria."
Deshalb war sie also hier. Um mir diese Nachricht zu überbringen.
Ich hinterfragte nicht einmal mehr, wie Ryn davon erfahren hatte, dass ich bereit gewesen war, mich selbst für das Leben meiner Freunde zu opfern.
Eigentlich hätte es mir klar sein müssen.
Alles hätte mir klar sein müssen.
Ihre Worte trafen mich dennoch mitten in meinem Herzen, das schon lange nur noch ein blutender, scharfkantiger Scherbenhaufen war.
Aber ich hielt mein Gesicht ausdruckslos.
Ich wollte etwas erwidern, wollte zurückschlagen, doch Kaya begann bereits lächelnd sich aufzulösen.
Ich rief ihr trotzdem noch eine letzte Nachricht hinterher: „Du denkst wirklich, ihm würde etwas an dir liegen, oder? Dass du ihm etwas bedeutest?"
Meine Stimme wurde mit jedem Wort lauter, auch wenn von der Assassinin schon keine Spur mehr zu sehen war.
„Du tust mir leid", flüsterte ich noch, bevor ich die Tür zu der großen Lagerhalle aufstieß.
Als ich den Schwarzmarkt betrat, war ich mir sicher, dass Kaya meine Worte gehört hatte.
---
„Dass ich dich noch einmal hier sehe, hätte ich aber auch nicht erwartet."
„Tja, ich bin eben eine zähe Schokolade."
„Du meinst eine zähe Nuss?"
„Nein, ich mag keine Nüsse", antwortete ich und ließ meinen Blick über die leuchtenden und blinkenden Schilder gleiten, die ebenso wie der Rest des prunkvollen Standes in grünes Licht getaucht waren.
Tränen traten in meine Augen, als ich die weinroten Vorhänge hinter dem Tresen musterte und schließlich die gelbe Markise, die in der nach Alkohol und Drogen stinkenden Lagerhalle nur zur Dekoration diente.
Hier.
Hier hatte alles angefangen.
„Na, na, wir wollen doch wohl nicht sentimental werden, oder?"
Ich lächelte und blinzelte gegen die Tränen an. „Nein", antwortete ich schniefend. „Wollen wir nicht."
Grinser fuhr sich mit einer Hand durch die hellbraunen Locken, die wirr um seinen Kopf herum standen und mir fielen sofort die bunt lackierten Fingernägel auf, die im dämmrigen grünen Licht funkelten.
„Neue Farben?", fragte ich.
Er grinste, was den Blick auf die zugespitzten weißen Zähne freigab und ein Funkeln in den blauen Augen auftauchen ließ, deren katzenartige Pupillen wachsam schimmerten.
„Aufmerksam wie eh und je", antwortete der kleine dürre Händler, dessen Gesichtszüge mir so vertraut waren wie meine eigenen.
Ich erwiderte sein Lächeln und schüttelte den Kopf, um erneut den Tränen zu trotzen.
Ich räusperte mich, versuchte den Kloß in meinem Hals loszuwerden, der sich dort gebildet hatte, sobald ich die Lagerhalle betreten hatte.
Hier war ich eine Straßendiebin geworden. Hier hatte ich viele Jahre lang gelebt und vor allem überlebt.
Hier war ich von einem von Ryns Handlangern zum ersten Mal bedroht worden. Hier hatte ich meinen Plan in den Palast einzubrechen ausgearbeitet.
Hier war Tray gestorben.
Als ich mich erneut traute zu sprechen, war meine Stimme von den verschiedenen Emotionen belegt. Dem Zorn, der Trauer, den Erinnerungen.
„Ich brauche ein paar Juwelen, so viel Schmuck wie möglich und außerdem noch ein paar andere Dinge", sagte ich, wobei ich ihm einen vielsagenden Blick schenkte.
Grinser nickte nur. „Ich werde sehen, was sich machen lässt", erwiderte er und verschwand hinter den roten Vorhängen.
Es konnten maximal fünf Minuten gewesen sein, aber seine Abwesenheit fühlte sich an wie eine Ewigkeit.
Ich musste ein erleichtertes Aufatmen unterdrücken, als er mit einer großen Kiste voller Goldschmuck und Juwelen, sowie einem kleinen Samtbeutel wiederkam und sie auf den Tresen hievte.
„Das ist alles, was ich finden konnte", antwortete er. „Das wären dann dreihundert Taler."
Ich lächelte nur leicht. „Ich fürchte, ich habe keinen einzigen Taler bei mir. Tut mir leid."
Er erwiderte das Lächeln schmallippig. „Oh nein, nicht doch. Mir tut es leid, dass ich dir nichts von all dem Zeug hier geben kann, wenn du nicht bezahlst."
Mit dieser Reaktion hatte ich natürlich gerechnet.
Grinser war vielleicht noch gieriger als die Avaritia höchst persönlich.
Also beugte ich mich zu ihm vor und krümmte einen Finger, um ihm zu zeigen, dass er sich mir ebenfalls entgegen lehnen sollte.
Als sein Ohr nur wenige Zentimeter von meinen Lippen entfernt war, flüsterte ich: „Wenn du nicht willst, dass der gesamte Schwarzmarkt von einer zum Leben erweckten Dame des Todes zerstört wird, schlage ich vor, dass du mir diese Kiste und diesen Beutel gibst. Nicht nur mein Leben hängt davon ab."
Grinser schluckte und ich wusste, dass er fast in der Falle saß.
„Also?", fragte ich gefährlich leise. „Was ist?"
„Ich kann dir nicht all das kostenlos geben", hauchte er eine überforderte Antwort.
Ich lächelte wieder, bereit meinen letzten Trumpf auszuspielen. „Ich habe Informationen. Über eine Verlobung des Königs, eine zum Leben erweckte Geister-Legende, die ihr Unwesen in Mavar treibt, und die gesamte Namensliste aller ausgewählten Soldaten des Cyrinnion."
Grinsers blaue Augen funkelten und ich wusste, dass er endlich vollständig in meine Falle getappt war.
Neben Schmuck und anderen Alltagsgegenständen, sowie Drogen und Alkohol handelte Grinser nämlich auch noch mit etwas anderem, viel wertvollerem und viel gefährlicherem.
Informationen.
„Die Sachen sind dein", antwortete er schelmisch und schob mir die Kiste und den Beutel über den Tresen hinweg zu. Der Inhalt klimperte verdächtig, was mich zum Schmunzeln brachte.
„Immer wieder eine Freude, mit dir Geschäfte zu machen", erwiderte ich nur verschlagen.
---
Die goldene Klaue erwischte mich.
Ich war nicht schnell genug und konnte nicht ausweichen.
Die zu Krallen gebogenen Fingernägel gruben sich tief in meine Seite und ich schaffte es nicht, ein schmerzhaftes Zischen zu unterdrücken, als Blut aus der tiefen Wunde floss.
Ich musste nicht mehr lange durchhalten.
Nur noch ein klein wenig.
„Du willst den hier?", keuchte ich und hob den goldenen Ring, den ich an meine Seite gepresst hatte, so hoch, dass sie ihn mit ihren gierigen Augen sehen konnte.
Dann warf ich ihn so weit ich konnte, um sie von mir wegzulocken.
Es funktionierte.
Die Krallen rissen erneut eine tiefe Wunde in meinen Körper, an der ich schon bald verbluten würde, wenn ich keinen Heiler fand, aber ich biss nur die Zähne zusammen und fokussierte meine Gedanken zurück auf den Kampf.
Die sogenannte „Dame", gegen die ich kämpfte, sah ebenso sehr wie ein Monster aus wie alle ihre Kolleginnen.
Die Avaritia trug einen weiten Reifrock aus grünen Geldscheinen und Juwelen in allen möglichen Formen und Farben, die im silbrigen Schein des Mondes funkelten wie kleine Augen in einem Dickicht aus Dornen und toten Ästen.
Ansonsten trug sie nichts, was aber nicht weiter schlimm war, da ihr gesamter Oberkörper ab der Hüfte mit Gold überzogen war. Von den Schultern über den Kopf, von den Fingernägel bis zu den Lippen, vom Bauchnabel bis zu den Brustwarzen.
Auf ihrem Kopf prangte eine hässliche dunkelrote Gummimaske, durch die man nur die vollen, goldenen Lippen und die schwarzen gierigen Augen erkennen konnte, aus denen blutrote Zungen hervorlugten und nach allem griffen, was in Reichweite kam.
Die vergoldeten Rastazöpfe, die zu einem hohen Zopf gebunden waren, fielen ihr bis zu den Knien und klimperten bei jedem ihrer Schritte, weil sie ständig aneinander prallten.
Sie war die Verkörperung von Gold, von Geld, von Edelsteinen und Juwelen, die nie genug haben konnte, die immer mehr brauchte.
Ich war durchaus bereit, ihr das zu geben, was sie wollte.
Ich griff mit meiner behandschuhten Hand nach einem Diamantenkollier, das ich aus der Innentasche meines blauen Mantels zog, und warf es dem goldenen Tod entgegen.
Leise säuselnd legte sie es auf eine der hässlichen Zungen, die es so schnell, dass ich es kaum mitbekam, durch ihre Augenhöhle zerrte und es schließlich zu all dem anderen Schmuck legte, den ich ihr schon zum Fraß vorgeworfen hatte.
Warmes Blut floss über meinen Körper, aber ich blendete die weißen Punkte aus, die sich langsam in meinem Sichtfeld bildeten.
Wenn ich jetzt zusammenbrach, war ich tot.
Tot. Tot. Tot.
Toter als irgendwie möglich.
Also nahm ich meine gesamte Konzentration zusammen und lenkte sie erneut auf die Avaritia, die ihre krallenbesetzten Hände nach allem ausstreckte, was funkelte oder glänzte.
Ich war Marlon wirklich dankbar, dass er die Ira getötet hatte, denn sie war vermutlich die tödlichste der sieben Damen gewesen.
Weil Zorn keine Schwäche war.
Gier, Stolz und Neid waren Schwächen, aber Zorn konnte auch eine Stärke sein, wenn man ihn richtig einsetzte.
Mein Training mit Chandra hatte mir das ganz klar gezeigt.
Aber anstelle des feurigen Teufels sah ich mich nun der goldenen Diva gegenüber, die ihre Hände nicht bei sich halten konnte.
Ich lächelte.
Es war schon einfach.
Ich griff erneut nach einem Schmuckstück und warf es in ihre Richtung.
Sie fing den silbernen Ohrstecker mit dem eingesetzten Türkis mit einer Hand, ehe sie ihn in Sekundenschnelle verschlang.
Eigentlich war es Schade um den schönen Schmuck, dass er für so einen hinterhältigen Zweck verwendet wurde und anschließend im Magen einer goldenen Sünde liegen würde, bis er dort verrottete.
Andererseits hatten die Klunker zuvor Grinser gehört und es würde ihn nicht mehr als einen Monat kosten, sich das nötige Geld einzuspielen, das er für ein neues Set an goldenem, silbernem und juwelenbesetztem Schmuck benötigte.
Ich griff nach einer Perlenkette, die ich fast für schön gehalten hätte, wäre da nicht das seltsame Murmeln gewesen, das alle meine Opfergaben umschmeichelte.
Ich lächelte, als ich einen Blick auf den leeren Samtbeutel warf, der an meinem Gürtel befestigt war.
Er war ähnlich jenen Beuteln, die ich früher oft für meine Missionen verwendet hatte, um darin echtes Geld zu entwenden oder falsches zu transportieren.
Aber er hatte kein schwarzes Verschlussband, sondern ein scharlachrotes, was ihn unter Schattenhändlern eindeutig als lebensgefährlich auswies.
Mit der Hand, die immer noch in einem dunkelblauen Handschuh steckte, griff ich erneut in meine Manteltasche und zog ein weiteres Schmuckstück hervor, das widerlich säuselte.
Es sang von Verderben und Tod und Fäulnis, von Knochen, Fleisch und Blut, von Hass und Zorn, von Staub und Asche.
Ich biss die Zähne zusammen, um mich nicht zu übergeben, als ich dieses letzte Teil – ein silbernes Armband, in dessen Mitte eine einzelne Rose aus Rubinen prangte – auf die Avaritia zuwarf und damit das letzte Puzzlestück an seinen Platz legte.
Bald schon würde das Gift wirken und die goldene Diva würde von innen heraus zu Asche zerfallen.
Teufelssekret.
Ein hässlicher Weg zu sterben.
Eigentlich hatte mich die Abbildung der Ira auf diesen Gedanken gebracht, da sie meiner Vision des Höllenkönigs so ähnlich gesehen hatte wie eine Zwillingsschwester.
Als ich schließlich erfahren hatte, dass die Avaritia ihre Habsucht mithilfe von drei Zungen ausdrückte, war der Plan in meinem Kopf in Stein gemeißelt gewesen.
Den Schwarzmarkt aufsuchen.
Schmuck und Teufelssekret bei Grinser kaufen.
Zusehen, wie die Avaritia von innen heraus verbrannte, zu Staub und Asche zerfiel und schließlich für immer aus dieser Welt schied.
Was ich allerdings nicht mit einberechnet hatte, war die klaffende Wunde an meiner Seite, aus der immer noch zu viel Blut floss.
Mit einem Messer schnitt ich einen Streifen meines Mantels ab, den ich als eine Art improvisierten Druckverband verwendete, um die Blutung so gut wie möglich zu stoppen, aber auch das würde nicht ewig halten.
Sobald ich das Bewusstsein verlor, war ich tot.
Ich biss die Zähne zusammen und bahnte mir meinen Weg durch die Trümmer, die die riesige Statue auf ihrem Weg zu den verschiedenen Schmuckstücken zurückgelassen hatte.
Staub wirbelte durch die Luft, was mich husten ließ und mir ein schmerzhaftes Stöhnen entlockte.
Hinter mir hörte ich die Avaritia schmerzhaft zischen und kreischen, was mir zumindest einen kurzen Moment des inneren Friedens verschaffte.
Meine Arbeit war getan.
Ich hatte die Statue besiegt.
Und jetzt konnte ich endlich schlafen...
Endlich schlafen, bis ich wieder aufwachen würde, in einer besseren Welt, einer besseren Zeit, einer besseren Realität.
Ich konnte schlafen.
Eine unendlich große Müdigkeit übermannte mich plötzlich, schnürte mir die Luft wie eine Decke ab, die mich zu ersticken drohte, und ließ mich keuchen.
Nur noch ein paar Kilometer, dann hätte ich den Palast erreicht und Hayley könnte diese hässliche Wunde an meiner Seite heilen und mich wieder zurück ins Bewusstsein befördern.
Aber ich war so müde.
Ich war so verdammt müde und ich wollte nur noch schlafen und schlafen und schlafen, bis die Sonne nie wieder aufging.
Ich atmete langsam.
Jeder meiner Schritte war kleiner als der vorherige.
Die Welt schien sich zu verlangsamen, bis sie in Zeitlupe an mir vorbeifloss und ich nichts mehr dagegen unternehmen konnte.
Ich hörte das Krachen nur entfernt, mit dem die Avaritia zu Boden ging und nicht wieder aufstand.
Schweiß lief mir über die Stirn, über den Rücken, über den Nacken und ließ mich zittern.
Blut klebte wie eine zweite Haut an meinem Körper und ließ alles klebrig und krustig werden.
Staub trübte meine Sicht, behinderte meine Atemwege und ließ diese unendliche Müdigkeit immer wieder als große Welle auf mich einschlagen.
Da vorne war eine Bank.
Eine hölzerne Bank, die irgendwie das Schlamassel überlebt hatte und mich anlächelte.
Ich schaffte es nicht, zurück zu lächeln.
Eine Bank...
Mein Ziel war diese wundervolle Bank.
Diese Bank, auf der ich mich wunderbar ausruhen konnte, auf der ich wunderbar schlafen konnte und die so bequem aussah, dass ich jedes Bett für sie eingetauscht hätte.
Keuchend erreichte ich die Stelle und schaffte es gerade noch so, mich hinzulegen, bevor die Bewusstlosigkeit mich übermannte.
Zufriedenheit erfüllte mich, weil ich wusste, dass ich meine Aufgabe erfüllt, dass ich diese goldene Diva getötet und dass ich die Stadt vor einem großen Unheil bewahrt hatte.
Zufriedenheit.
Ich würde nicht umsonst sterben.
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