15
„Willst du darüber reden?", fragte Calin mich, während er neben mir herlief.
Wir standen sicher mindestens drei Minuten einfach auf einer Stelle und hatten uns umarmt, hatten die Realität für diesen einen zugleich wundervollen und schrecklichen Moment in den Hintergrund gedrängt.
Ich hatte geweint und er hatte mich getröstet, war für mich da gewesen wie ein Bruder, ein Freund, ohne auch nur eine einzige Frage zu stellen, was passiert war.
Dankbarkeit hatte mich erfüllt und ich hätte noch ewig seinen Duft einatmen können, noch ewig den Kopf an seiner Brust vergraben können, noch ewig seiner angenehmen Stimme zuhören können, einfach um dieses beklemmende Gefühl aus meiner Brust zu verdrängen.
Aber wie ich bereits zu Marlon gesagt hatte, war für mich noch lange nicht Feierabend und die Mitglieder der königlichen Armee wählten sich nicht von selbst aus.
Also hatte ich mich irgendwann von ihm gelöst, von diesem Duft nach Sand und fernöstlichen Gewürzen, der mich an die Wüste denken ließ, von den Muskeln seiner Brust, die sich an meinen Körper gedrückt hatten, und von den leisen Worten des Trostes.
„Wir müssen zurück", hatte ich gesagt. Meine Stimme war schwach gewesen und ich hatte die letzte Träne von meinem Gesicht gewischt.
Er hatte nur genickt, vielleicht weil ihm die Nähe zwischen uns plötzlich nur zu bewusst geworden war.
Eine Zeit lang waren wir beide einfach nur schweigend nebeneinander gegangen und hatten uns gegenseitig ignoriert, das angespannte Schweigen ein deutliches Zeichen dafür, was sich heute zwischen uns verändert hatte.
Und jetzt diese Frage.
Ich wusste nicht genau, ob er meine Begegnung mit Marlon meinte, die mich in Gedanken noch immer ziemlich mitnahm.
Seine Worte, die mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wollten.
Er hatte mir versprochen, sich für mich zu ändern.
Er hatte sich vorgenommen, wirklich ein guter Mensch zu werden und nächstes Jahr erneut am Cyrinnion teilzunehmen.
Und ich hatte ihn einfach dort stehen lassen, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er in seinem Herzen vielleicht wirklich anders war.
Vielleicht meinte er aber auch meine Unterhaltung mit Artemis, die mir ebenfalls im Kopf herumspukte und mich einfach nicht losließ.
Ich hatte keine Ahnung, ob er überhaupt über die Silberschützin Bescheid wusste, geschweige denn über die Ähnlichkeit zwischen uns, die mich seither verfolgte und mir keine Ruhe ließ.
Damit endlich alle aufhören, mir zu sagen, dass meine Träume sich niemals erfüllen können.
Oder möglicherweise meinte er das, was mir schon den ganzen Tag kalte Schauder über den Rücken jagte: Vielleicht meinte er Ryn, der geschworen hatte, uns alle zu töten, oder Kaya, die mich vor etwas gewarnt hatte, das ich immer noch nicht entschlüsselt hatte, oder meine eigene Vergangenheit in Synth, die mich mit jedem Tag mehr einholte.
Oder vielleicht – nur ganz ganz vielleicht – meinte er auch diesen kurzen Moment des Friedens, diesen einen Augenblick der Zweisamkeit, den wir geteilt hatten, als wären wir ein Paar und die Welt würde unsere mickrigen Leben nicht verschlingen wie eine hungrige Schlange.
Egal, was es war oder was er meinte.
Meine Antwort wäre dieselbe.
„Nein", murmelte ich. „Nicht heute."
Vielleicht niemals.
Calin nickte und ging schweigend weiter.
Einen Augenblick später drückte diese seltsame Stille wieder auf unsere Schultern wie eine Last.
Ich räusperte mich, da der Weg zum Lager einfach zu lang war, um ihn vollständig in dieser merkwürdigen Angespanntheit zu verbringen.
„Danke, dass du heute gekommen bist", meinte ich und legte den Kopf schief, als eine Ratte vor uns die Straße überquerte. „Das bedeutet mir mehr als du dir vorstellen kannst."
Calin lächelte nur, was sein kantiges Gesicht wie ein antikes Gemälde aussehen ließ. „Kein Problem, Aria."
Nach einer kurzen Pause fügte er schließlich hinzu: „Ich bin auch froh, dass ich gekommen bin."
Er grinste mich schief an, was mir nur ein genervtes Stöhnen entlockte und mich die Augen verdrehen ließ. „Du denkst auch immer praktisch oder?"
„Naja, wenn es sich anbietet und dich außerdem auf bessere Gedanken bringt." Er zuckte mit den Schultern.
„Ah, also wolltest du mich nur ablenken, als du mich heute umarmt hast."
„Ich kann mir tatsächlich deutlich bessere Methoden vorstellen, dich abzulenken."
„Du bist ein Idiot, weißt du das?", fragte ich, während meine Mundwinkel gegen meinen Willen mehrfach nach oben zuckten.
"Ich weiß", antwortete er. "Aber der am besten aussehende Idiot auf der Welt."
Ich lachte nur und ignorierte sein idiotisches Grinsen ebenso wie das, was er gesagt hatte.
Stattdessen wechselte ich lieber das Thema.
„Denkst du, dass wir heute noch geeignete Kandidaten finden? Wir haben noch wenige freie Plätze, aber irgendwie habe ich langsam das Gefühl, die guten Krieger sind-"
„... alle seit gestern verschwunden", beendete er meinen Satz. „Ja, das hast du schon ein paar mal gesagt."
Ich lächelte. „Tut mir leid, ich bin echt ein bisschen neben der Spur."
„Erzähl mir was, das ich noch nicht weiß."
„Du bist nicht so umwerfend wie du immer tust", entgegnete ich provokativ.
Er schüttelte den Kopf und grinste mich erneut an. „Aber um deine Frage zu beantworten: Ich bin kein Mann, der schnell aufgibt."
Ich wusste, was er damit meinte, ohne dass er es direkt sagen musste.
Natürlich sollte es so aussehen, als wollte er mir nur Mut machen, dass ich die Hoffnung auf gute Krieger nicht so schnell aufgeben sollte.
Aber ich wusste es besser. Ich las zwischen den Zeilen.
Ich bin kein Mann, der schnell aufgibt.
Eine weitere verdammte Anspielung, mit der ich absolut nichts anfangen konnte.
Spielte er mit jeder Frau so, wie er mit mir spielte, sobald wir alleine waren? Oder war ich die einzige?
Konnte es wahr sein, dass der Wüstenengel Calin Feign tatsächlich sein Glück nur bei mir, der Straßendiebin Aria Pencur, versuchte?
„Oh, das glaube ich dir auf's Wort."
Calins Grinsen verschwand nicht, als wir das Militärlager betraten.
Sobald wir schließlich die Fläche erreichten, an der die Duelle stattfanden, schenkte ich ihm ein verschwörerisches Lächeln. „Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich werde die Mittagspause nutzen, um das Bad aufzusuchen."
Meine geschwollene Ausdrucksweise ließ seine Augen funkeln, als er erwiderte: „Ich nehme an, ich soll dich nicht begleiten."
Mein Lächeln wurde breiter. „Vielleicht ein andermal."
„Zu schade", murmelte er, doch ich hatte mich bereits abgewandt und machte mich auf den Weg zu den Waschräumen.
Ich sah nicht zurück, aber ich wusste, dass seine Augen auf mich gerichtet waren, bis die Tür hinter mir ins Schloss fiel und ihm die Sicht versperrte.
Ich ging zu einem der kleinen Waschbecken, an deren Rand eine nach Rosen und Minze duftende Seife lag, und wusch mir die Hände und das Gesicht, bis Staub und Dreck von meiner hellen Haut verschwunden waren.
Ich betrachtete mich kurz in dem kleinen Spiegel und hob die Mundwinkel zu einem erschöpften Lächeln. Ich sah echt fertig aus.
Als die Tür zum Waschhaus aufging, dachte - hoffte ich sogar kurz, dass es Calin wäre, der mir trotz meiner Worte gefolgt war.
Aber es war nicht Calin.
„Ist alles in Ordnung?", fragte Cassandra, als sie an das Waschbecken neben mir trat und ihre Hände unter das kalte Wasser hielt.
Ich nickte und schenkte ihr über die Reflexionen des Spiegels ein schwaches Nicken. „Ich bin einfach fertig."
Sie runzelte die Stirn. „Ist es wegen Ryn und seiner Drohung?"
Ich seufzte. „Teilweise"
Da sie mich nur mit hochgezogenen Brauen musterte, während sie sich die Hände mit der Seife einrieb, fügte ich hinzu: „Es ist wegen Ryn und Kaya, ja. Aber es hat auch mit mir zu tun. Ich kann einfach nicht vergessen, dass ich eine Straßenratte bin und zum Teil auch immer sein werde, selbst wenn ich im Palast lebe. Eine Begegnung heute hat mich an meine Vergangenheit erinnert und mir vor Augen geführt, dass ich dieses Leben – das Leben mit dir und Jasmine und Spencer – dass ich dieses Leben nicht verdiene."
Cassandra legte den Kopf schief und schmunzelte. „Du hast wahnsinnig viele Opfer gebracht, um an dieser Stelle zu stehen. Du hast geliebte Menschen verloren und für andere gekämpft, bis dein eigenes Leben nur noch an einem einzelnen Faden baumelte. Vielleicht ist es an der Zeit, dass auch du endlich akzeptierst, dass du all das mehr verdienst als irgendjemand sonst."
Ich grinste sie an. „Seit wann bist du nur so weise?"
„Keine Ahnung", gestand sie.
„Ist bei dir denn alles in Ordnung?", fragte ich und betrachtete meine Freundin endlich richtig.
Ihre Wangenknochen wirkten spitzer als zuvor, ihre Haare waren an den meisten Stellen zerzaust und unter ihren violetten Augen waren Augenringe zu erkennen, die selbst das Make-Up nicht verdecken konnte.
„Ja, mit mir ist alles bestens, mach dir bloß keine Gedanken", antwortete sie, wobei sie demonstrativ auf ihre Hände starrte, als wäre dort ein Schmutzfleck, der einfach nicht verschwinden wollte.
Jeden anderen hätte sie damit täuschen können, aber mich nicht.
Ich kannte sie einfach zu gut.
Wie hatte mir nur nicht auffallen könne, dass etwas mit ihr nicht stimmte?
Klar, in meinem Leben war die Hölle los seit Ryn diesen Clown auf Jasmine losgelassen hatte und Chandra in Mavar angekommen war, aber ich hätte doch etwas merken müssen.
Es sei denn, Cassandra wollte nicht, dass ich erfuhr, weshalb es ihr nicht gut ging.
Es sei denn, sie wollte mich dadurch vor irgendetwas schützen.
„Cas", sagte ich eindringlich. „Was immer es ist, du wirst es mir sagen und zwar jetzt."
„Es ist ehrlich nichts, Aria. Wie kommst du nur darauf, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist?", meinte sie unbeschwert.
„Weil du mich nicht ansiehst, während ich mit dir rede und weil du unter dem ganzen Make-Up vermutlich wie eine lebende Leiche aussiehst!", zischte ich sie an. „Was ist los, Cassandra Sinigan?"
Ich verwendete ihren vollständigen Namen nur dann, wenn ich sauer auf sie war oder wenn es wirklich absolut dringend war.
Auf diese Situation traf beides ziemlich gut zu.
Sie lächelte, hob aber immer noch nicht den Kopf, um mir in die Augen zu sehen, sondern schrubbte weiter an diesem imaginären Fleck.
Ich hatte mittlerweile des Wasser abgedreht, mich gegen das Waschbecken gelehnt und betrachtete sie eindringlich.
„Du kannst es mir nicht vorwerfen", meinte sie schließlich, immer noch auf ihre Hände fokussiert. „Das alles nimmt mich einfach ziemlich mit. Ich meine, meine beste Freundin wird von ihren wortwörtlichen Albträumen heimgesucht, eine seltsame Killerin, die sich in einen Geist verwandeln kann, streift um den Palast... Und außerdem muss ich eines der bedeutendsten königlichen Events leiten, das vielleicht lebenswichtig sein könnte, wenn man mal die aktuelle Situation mit Synth und Ascalin berücksichtigt. Von der ganzen Sache mit Finn, Saraphina und den restlichen Leichen mal ganz abgesehen. Kann man da nicht verstehen, dass ich nicht perfekt aussehe?"
Ich zog nur eine Augenbraue hoch und wartete, bis sie mich endlich ansah.
Sie lächelte nervös und senkte sofort erneut den Blick.
Ich sah sie nur weiter an. „Was auch immer da noch ist, Cas. Ich bin immer für dich da, ich werde immer an deiner Seite stehen und ich habe ein offenes Ohr für dich, solltest du es mal benötigen, okay? Vergiss das bitte nie."
Sie sah mich jetzt endlich an.
Violett auf Magenta.
In ihren Augen glänzte solch eine Angst, solch eine Panik, dass ich hörbar schluckte.
„Was ist passiert?", wagte ich zu fragen.
„Das ist nicht das Problem", meinte sie. „Absolut nicht das Problem."
In meinem Kopf ratterten alle Zahnräder auf Hochbetrieb.
Was war dann das Problem?
Plötzlich dämmerte es mir.
Sorgfältig stellte ich dieselbe Frage, nur ein klein bisschen anders.
„Was wird passieren?"
Cassandra sah mich mit vor Angst geweiteten Augen an. „Ich weiß es nicht, Aria. Ich weiß es einfach nicht."
Zitternd holte die Seherin Luft. „Meine Magie spielt seit Tagen verrückt, zeigt mir keine Bilder mehr, keine Geräusche, nicht einmal das kleinste Anzeichen auf irgendein Ereignis, das vielleicht bald passieren wird. Ich spüre nur diese Kraft. Diese unglaublich große, unglaublich mächtige magische Kraft, die mein Körper mich fühlen lässt, die meine Magie mir zeigt. Dieses Gefühl einer magischen Flut, von so großem Ausmaß, dass sie uns alle vernichten könnte."
Ich schluckte. „Ryns Magie?"
Cassandra nickte. „Ich weiß es nicht sicher, aber es scheint mir die einzige Erklärung zu sein."
„Wie mächtig?", wagte ich zu fragen. „Wie mächtig ist dieses Gefühl?"
Mein Magen drehte sich um, als sie antwortete: „Mächtiger als alles, was ich je gespürt habe. Mächtiger als Jasmine und Chandra und viel viel mächtiger als ich."
Ich atmete hörbar ein. „Was bedeutet das für uns?"
Sie sah mir in die Augen, in die Seele und flüsterte das, was wir beide dachten.
„Es bedeutet, dass wir uns alle glücklich schätzen können, wenn wir noch genug Zeit haben, uns von unseren Liebsten zu verabschieden."
Der Schauder, der mir über den Rücken lief, war kälter als alles, was ich in meinem Leben je gespürt hatte.
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Nach unserem Gespräch im Waschraum war ich ziemlich froh, dass die ganzen Duelle mich zumindest ein kleines bisschen von dem anderen Mist ablenkten, der in der Welt zur Zeit vor sich ging.
Cassandra und ich tauschten des Öfteren angespannte Blicke aus, die mehr sagten als tausend Worte.
Angst, Ungewissheit, Freundschaft, Vertrauen.
Ich schenkte ihr jedes Mal ein aufmunterndes Lächeln, das meine Augen und mein Herz nicht erreichte und sich selbst für mich falsch anfühlte.
Calin war unbeschwert wie immer und bemerkte die gedrückte Stimmung entweder nicht oder hatte sich entschlossen, sie zu ignorieren.
Was auch immer von den beiden Möglichkeiten die zutreffende war, ich war ihm zutiefst dankbar für seine schlechten Versuche, die Stimmung zu heben.
Lyane stand angelehnt an den Sonnenschirm und blätterte durch die Liste mit Namen, obwohl auch ihre Stimmung den Tiefpunkt des Tages erreicht zu haben schien.
Sie ließ sich dennoch die meiste Zeit über nichts anmerken, was ich sehr bewunderte.
Es sei denn natürlich sie verheimlichte mir mit ihrer Mentalmagie all das, was ich nicht sehen sollte.
Ivory dagegen versuchte nicht einmal mehr ihre Demotivation zu verbergen. Die Gestaltwandlerin lag in ihrer Panthergestalt zu meinen Füßen und fand es offenbar interessanter, sich die Pfoten zu lecken, als den Duellen zu folgen.
Manchmal schnurrte, knurrte oder fauchte sie, um ihre Meinung dann doch irgendwie einzubringen, aber die meiste Zeit blieb die Raubkatze ruhig und beobachtete alles aus ihren amethystfarbenen Augen.
Bis schließlich ein Kandidat vortrat, der offenbar keinen Partner für sein Duell hatte.
„Entschuldigung?", sagte er leicht nervös. Seine Hände zitterten ein wenig. „Ich würde gerne um einen Platz in der Garde werben."
Ich wedelte mit der Hand, um ihn anzuweisen zurückzutreten. „Such dir einen Partner und nimm an einem Duell teil. Wir werden uns deine Fähigkeiten ansehen und vielleicht erhältst du dann einen Platz."
Meine Stimme klang müde und erschöpft.
Aber der Mann machte keine Anstalten, wieder zu verschwinden. „Mylady, ich fürchte, Sie verstehen nicht..."
„Ich fürchte, Sie verstehen nicht. Suchen Sie sich einen Partner und nehmen Sie an einem Duell teil. Was davon ist so schwer zu kapieren?", gab ich schnippisch zurück.
Wenn ich eines hasste, dann waren es unfähige Kandidaten.
Er legte nur den Kopf schief, als würde er über etwas nachdenken, blieb dann aber doch stehen und behinderte die Weiterführung der Duelle.
„Mylady, ein Duell kann ich nicht gewinnen."
Ich presste die Lippen aufeinander und zog beide Augenbrauen nach oben. „Na dann bist du durchgefallen", erwiderte ich. „Viel Glück im nächsten Jahr."
Der Mann ging immer noch nicht.
Ich seufzte und ließ mich endlich dazu herab, von der Liste auf meinem Schoß aufzusehen und ihn zu betrachten.
Er war blass und blauäugig, was ihn schon als Eismagier ausgewiesen hätte, selbst wenn er nicht die kalte Macht ausgestrahlt hätte wie eine Lampe ihr Licht.
Seine pechschwarzen Haare standen wirr um seinen Kopf herum und leichte Bartstoppeln zogen sich über die gesamte untere Hälfte seines Gesichts, was ihm irgendwie einen seltsam verschlafenen Look verpasste.
Seine gerade Nase wurde von dem Kantigen Kinn nur noch stärker betont.
Der Mann trug ein weißes Hemd, das er in seine schwarze Jeans gesteckt hatte, was in mir das Gefühl weckte, dass er eher ein Anwalt hätte sein können als ein Krieger.
Und der wollte wirklich ein Soldat werden?
Da hatte ja ein dreijähriges Kindergartenkind bessere Chancen.
Ivory spitzte die Zähne, machte aber kein einziges Geräusch, als sie mich mit dem schwarzen Schwanz anstupste.
Eine Aufforderung?
Eine Warnung?
Was witterte der Panther, das meiner menschlichen Nase entging?
Ich schenkte dem Kandidaten vor mir ein Lächeln. „Wieso sollten wir für Sie eine Ausnahme machen?"
Ich verwendete bewusst die höfliche Anrede, um meine Distanzierung so deutlich wie möglich auszudrücken, während ich ihn kühl musterte.
„Mein Name ist Zane. Zane Storms. Der Eismeister."
Stumm wandte ich mich an Cassandra, die nur mit den Schultern zuckte und schließlich auffordernd Lyane ansah, welche schon in ihre Liste vertieft war.
Sie sog zischend die Luft ein, als sie seinen Namen fand.
„Was ist?", fragte Calin, von der Neugier ebenso gepackt wie Cas und ich. „Wer ist er?"
„Er ist der Kerl mit den Haustieren."
„Haustiere?!", fragten Cassandra, Calin und ich wie aus einem Munde.
„Haustiere", bestätigte Ivory, die sich nun endlich in ihrer menschlichen Gestalt zeigte.
Die Spionin bot Zane eine Hand an, die er eifrig schüttelte. „Ivory Star", stellte sie sich vor. „Ich bin ein großer Fan deiner Arbeit."
„Danke", entgegnete er mit einem trägen Lächeln. „Ebenfalls."
Ivory nickte, als sie das Kompliment akzeptierte und wandte sich wieder mir und den anderen zu. Ihre bernsteinfarbenen Augen funkelten im Licht der Sonne.
„Zane kann an keinem Duell teilnehmen. Sein Gegner hätte keine Chance", erklärte sie leise.
„Wieso nicht?", fragte Cassandra. „Wegen den Haustieren?"
Ivorys Mundwinkel hoben sich zu einem Schmunzeln. „Wieso zeigst du sie ihnen nicht einfach?"
Zane nickte und stieß einen Pfiff aus, der durch das gesamte Lager zu hallen schien.
Ich wartete.
Was konnte das nur sein, was Zane aus einem Duell vollkommen ausschloss? Was Ivory neugierig machte und ihn zu einem potentiell mächtigen Verbündeten?
Wenige Augenblicke später sollte ich die Antwort bekommen.
Eine riesige Raubkatze sprang über die Köpfe der umstehenden Zuschauer als wären sie nur ein paar Kieselsteine.
Mein Unterkiefer klappte überrascht nach unten und ich hielt vor Schock die Luft an.
Das konnte nicht sein.
Das...
Das war einfach nicht möglich.
Aber der Schneeleopard stieß ein markerschütterndes Brüllen aus, das mir eine Gänsehaut bereitete.
Seine Pranken waren größer als mein Kopf und der schlanke Körper war von stählernen Muskeln durchzogen, die den anmutigen Körper zu einer tödlichen Waffe machten.
Die dunklen Flecken schienen all das Licht, das sich auf dem weißen Fell reflektierte, sofort aufzusaugen und nie wieder loszulassen. Blaugraue Augen funkelten mich an, als der Leopard vor seinem Meister stehen blieb und ihm über die ausgestreckte Hand leckte.
Meinen Schock zu verbergen war zwecklos.
Ich hatte die Augen aufgerissen und mein Mund stand nun so weit offen, dass eine Kutsche mitsamt Pferden hineingepasst hätte.
Das... das konnte nicht sein.
Das konnte einfach nicht sein.
Aber Zane streckte nur den mit Eis überzogenen Arm aus und ein weißer Adler ließ sich darauf nieder als wäre es ein Ast und nicht der Arm eines Mannes.
Der Vogel hatte eine Spannweite von mindestens fünf Metern und der gekrümmte Schnabel funkelte wie poliertes Silber im Licht der untergehenden Sonne.
War das ein echter riadnischer Adler?
Diese Vögel waren seltener als Einhörner und lebten nur in den Bergen des Gletscherkönigreichs.
Und selbst dort war es ein Wunder, wenn man überhaupt jemals einen einzigen Adler zu Gesicht bekam, geschweige denn so ein Prachtexemplar...
Ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.
Und ich hatte wirklich gewollt, dass dieser Kerl mit einem anderen Kandidaten kämpfte?
Sein Gegner wäre vor Überraschung und Schock tot umgefallen, bevor der Adler oder der Leopard auch nur zuschlagen konnten.
Zur Hölle! Mich wunderte, dass ich selbst überhaupt noch auf den Beinen stand!
Das hatte Ivory also in ihrer Panthergestalt wahrgenommen.
Ich sah die Spionin überrascht an, doch sie grinste nur zurück.
Hab ich doch gesagt, schien sie zu sagen, bevor sie mit dem Daumen über ihre Schulter zeigte, wo plötzlich die Zuschauer auseinander stoben wie eine aufgescheuchte Herde.
Eine halbe Minute später war der Blick auf eine weitere Katze frei.
Der weiße Tiger war viel schlanker als der Leopard und bewegte sich mit einer Grazie, wie ich sie so noch nie bei einem Tier gesehen hatte.
Ein Königstiger.
Das weiße Fell glitzerte in der Sonne und die schwarzen Streifen durchliefen seinen Körper wie lebendige Schatten einen Schneesturm.
Langsam und majestätisch schritt die Katze den für sie geöffneten Mittelgang entlang wie eine Königin, die sich ihrem Thron näherte.
Ich schluckte, aber der Kloß in meinem Hals war immer noch da.
„Da... da... das... ich meine... ist das denn möglich?", platzte es aus Cassandra heraus, die die drei Raubtiere genauso überfordert anstarrte wie ich.
Calin ging es nicht viel anders und selbst Lyane schien überrascht, obwohl sie die Tiere schon auf ihrer Liste bemerkt haben musste.
Nur Ivory lächelte zufrieden und Zane streichelte dem riadnischen Adler auf seinem Arm sanft über das Gefieder.
„Ja", antwortete er. „Wie ihr seht ist es möglich. Sie folgen meinem Befehl, ohne dass ich sie irgendwie kontrollieren muss oder gefoltert habe."
Ivory legte den Kopf schief, als würde sie die Tiere verstehen, in ihnen nach einem Anzeichen der Kontrolle oder der Misshandlung suchen, aber die Spionin schüttelte den Kopf.
Es war nur eine minimale Bewegung, aber ich bemerkte sie.
„Wie?", fragte ich, immer noch zu sprachlos, um mehr aus meiner Frage zu machen.
Zane schenkte mir ein schmales Lächeln, was sein zuvor so gewöhnliches Gesicht wie das eines jungen Gottes funkeln ließ. „Ich bin ein Eismagier, der ursprünglich aus Riadna stammt... aber meine Familie waren nie die Menschen."
Langsam dämmerte es mir. „Also bist du so eine Art wildes Kind?"
Er lachte. „Ja, ich fürchte so kann man es nennen. Ich helfe außerdem verletzten Tieren und manchmal... manchmal bleiben sie einfach bei mir."
In meinem Kopf ratterten noch immer alle vorhandenen Zahnräder.
Wie?
Wie konnte so etwas möglich sein?
Ein Schneeleopard, ein riadnischer Adler und ein weißer Königstiger...
Das... wie...
Mein Kopf stand still, als ich die Tiere betrachtete und alles verarbeitete, was ich in den letzten fünf Minuten gesehen hatte.
Wenn wir einen Eismeister auf unserer Seite hätten, der solche Verbündeten hatte wie Zane Storms... das konnte in einem Krieg der entscheidende Funke sein, der die Explosion auslöste...
Aber ich war unfreundlich gewesen.
Innerlich schlug ich mir so heftig mit der flachen Hand auf die Stirn, dass ich es sogar spürte, ohne es getan zu haben.
Ivory schenkte Zane einen bewundernden Blick.
„Wie heißt sie?", fragte die Gestaltwandlerin den Herr des Eises, wobei sie mit ihrem Zeigefinger auf den Königstiger wies.
Nein. Die Königstigerin.
Es war ein Weibchen.
Zane ging neben der majestätischen Katze in die Hocke und kraulte sie hinter den Ohren, was diese mit einem genüsslichen Schnurren beantwortete.
„Das ist Shira", antwortete er. „Sie ist meistens ziemlich faul, aber in einem Kampf kann sie sehr geschickt töten. Das ist ihre Bestimmung, ihr Wesen. Sie ist eine Kriegerin, eine Räuberin."
„Sie ist wunderschön", flüsterte Ivory.
„Das ist sie."
Oh ja, das war sie.
Ich hatte das Gefühl, dass die blauen Augen mich in ihren Bann ziehen wollten, bis die gebogenen Krallen mir die Eingeweide aus dem Bauch fetzen würden.
Der schlanke Körper der Tigerin war ebenfalls von definierten Muskeln durchzogen, die sich im Gegensatz zu dem Schneeleoparden allerdings nicht so offensichtlich zeigten.
„Das ist Fynris", erklärte Zane mit einem Blick in Richtung der männlichen Katze.
„Und das hier", sagte er, wobei er den Adler mit einer Handbewegung in die Luft entließ. „Dieser gefiederte Krieger hier ist Alas."
Ivory nickte, während sie sich erhob und einen Blick in meine Richtung riskierte.
Ich konnte die stumme Frage in ihren Augen ablesen.
Und?
Ich nickte leicht, um ihr anzudeuten, dass ich auf ihrer Seite stand, bevor ich mich mit den anderen beriet.
Es war keine lange Diskussion.
Ich reichte Zane eine Hand, die er eifrig schüttelte.
Das kalte Gefühl seiner Eismacht blendete ich aus, während ich mich bei ihm für meine Unhöflichkeit entschuldigte und ihn stattdessen herzlich in der Garde und damit auch in der Armee willkommen hieß.
Ivory schenkte mir ein dankbares Lächeln, während Zane vor Glück quasi überlief.
Er konnte nicht aufhören, meine Hand zu schütteln und sich für die Freundlichkeit zu bedanken.
Innerlich schmunzelte ich.
Jemanden wie Zane konnten wir im Palast gut gebrauchen.
Einen guten Mann, der sich zu bedanken wusste und dessen Loyalität dem Königreich galt.
Wir können keine schlechten Menschen in der Garde gebrauchen, hallte meine eigene Stimme in meinem Kopf wider.
Das Lächeln gefror mir auf den Lippen, als ich erneut an Marlon dachte und an das Versprechen, das er mir gegeben hatte.
Zu meinem Glück tippte mir in genau diesem Moment jemand dreimal auf die Schulter, was mir die perfekte Möglichkeit bot, Zane meine Hand zu entziehen.
Ich verabschiedete mich von ihm und sagte noch irgendetwas darüber, dass ich mich freute, mit ihm zusammenzuarbeiten, ehe ich mich umdrehte.
Ich sah mich einem Mann gegenüber, der vermutlich der bestaussehende Kerl war, den ich je gesehen hatte.
Er hatte dunkelgrüne Augen, die dank seiner mokkafarbenen Haut stark zum Vorschein kamen. Sein Kinn war ebenso markant wie seine Nase, aber sein Gesicht hatte dennoch etwas Weiches, das durch die lockigen schwarzen Haare noch verstärkt wurde. Seine rechte Augenbraue wurde von einer gezackten Narbe unterbrochen, die seinem Aussehen das gewisse Etwas verpasste.
Er hatte außerdem ein Tattoo, das sich von seinem Kinn bis zu seiner Brust erstreckte und seltsame Schriftzeichen zeigte. Eine Sprache, die ich nicht verstand.
Er trug nur eine braune Stoffhose, was mir einen Blick auf die definierte, tätowierte Brust und den flachen Bauch verschaffte, über den sich ebenfalls eine gezackte Narbe zog.
An seinem Gürtel prangte ein Arsenal an Messern und Krummdolchen, sowie seltsamen kleinen Fläschchen, in denen sich nur Gift befinden konnte.
Wow.
Er musste von einem anderen Kontinent kommen, wenn er diese Art von Hautfarbe hatte, oder zumindest fremde Wurzeln besitzen.
Nicht aus Iliris definitiv und meines Wissens auch nicht aus Scyvrar.
Genau wie Jasmine stammte er vermutlich aus einem der Kontinente, die weiter südlich lagen und von Dschungeln und feuchter Hitze beherrscht wurden.
Er sah verdammt heiß aus.
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass er wohl etwas zu mir gesagt hatte, da er mich auffordernd ansah.
Ich lächelte verlegen. „Entschuldigung, was hast du gesagt? Ich war mit den Gedanken gerade... auf einem anderen Kontinent."
Nicht gelogen.
Er erwiderte das Lächeln nicht, sondern wiederholte einfach seine Frage. „Ich wollte wissen, ob die Duelle jetzt nicht endlich weitergehen könnten. Ich warte seit Wochen."
Ein mir fremder Akzent machte seine tiefe Stimme ebenso sexy wie sein Aussehen, was mir einen angenehmen Schauder über den Rücken jagte.
Ich war schon wieder so beschäftigt damit, ihn anzustarren, dass ich erneut vergaß zu antworten.
„Also?", hakte er nach.
„Äh... ja natürlich", antwortete ich. „Die Duelle gehen weiter."
Diesen letzten Teil richtete ich auch an alle anderen Anwesenden, die sich nach meiner Anweisung alle wieder auf ihre Plätze begaben.
Alle außer Calin, der den Kerl mit dem Tattoo feindselig musterte.
Ohne ein weiteres Wort wandte dieser sich ab und stolzierte zurück zu den anderen Kandidaten, von wo er anscheinend gekommen war.
Ich erlaubte mir einen kurzen Moment lang, ihm hinterher zu blicken, ehe ich mich abwandte und Calin ein Lächeln schenkte. „Was? Darf man nicht mehr gucken?"
Er presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und nickte mir etwas angespannt zu.
Dann drehte er sich weg und setzte sich auf die Lehne von Cassandras Stuhl.
Ich verdrehte nur die Augen und setzte mich ebenfalls.
Idiot.
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Der helle Schein der Sonne spiegelte sich auf dem Marmorbrunnen, der auf den Zentimeter genau zehn Meter hoch war.
Die rostigen Straßenlaternen, die um den Platz herum verteilt waren, warfen goldene Sprenkel in das rote, orangene und violette Licht der Sonne, die sich hinter den Dächern von Akar zur Ruhe setzte.
Die kleinen, viereckigen Baracken umrandeten den größten Platz des Grenzviertels wie eine Gefängniszelle und ließen ein unangenehmes Gefühl in meiner Brust aufsteigen, das ich nicht zurückdrängen konnte.
Die Pflastersteine unter meinen Füßen funkelten wie tausend kleine Spiegel, die das Licht reflektierten und ein Farbenspiel erzeugten, das von den langen, finsteren Schatten verschlungen wurde, die sich nun immer schneller ausbreiteten.
Ich atmete tief ein, als ich mir meinen Weg durch die vielen Krieger bahnte, die sich auf dem Platz versammelt hatten, Cassandra, Calin und Lyane an meiner Seite, während Ivory uns von oben nie aus den Augen verlor.
Ich ließ meinen wachsamen Blick über die Menge schweifen und hakte in meinem Kopf die Liste ab, die ich dort erstellt hatte.
Drei Namen standen darauf.
Drei Personen, die ich in der Menge finden musste.
Zane Storms saß am Rand des Springbrunnens, Fynris und Shira zu seinen Füßen, während Alas sicher irgendwo in der Nähe hockte und sein weißes Gefieder putzte.
Artemis Silveris hatte ihre Tunika durch ein braunes T-Shirt ersetzt und trug einen Beutel bei sich, aus dem ein Zipfel blauen Stoffes und ein silberner Pfeil ragten. Sie stand am Rand des Platzes, an eine der Baracken gelehnt und hielt sich möglichst im Hintergrund, die weißblonden Haare unter einem Hut verborgen.
Und Alayn Kian-Y, der Naturmagier mit der tätowierten Brust, dessen süßer Akzent mir immer noch im Kopf herumgeisterte, stand allein neben einer der siebzehn Kutschen, die hier waren, um die ausgewählten Soldaten nach Neun Rosen zu transportieren.
Zufrieden nickte ich jedem der drei kurz zu, bevor ich Cassandra und Lyane dabei half, die Kutschen mit Kriegern zu füllen.
Artemis schmuggelte ich unbemerkt in einen der ersten Wägen und bald schon war sie unterwegs zum Palast und aus meinem Bewusstsein verschwunden.
Fynris, Alas und Shira wurden auf das Dach einer anderen Kutsche verfrachtet, von wo aus sie eine wundervolle Aussicht über Mavar haben würden, während sie sich den Türmen meines Zuhauses näherten.
Als schließlich nur noch eine Kutsche übrig war, deren schwarze Lackierung im Licht der Straßenlaternen funkelte, waren alle Soldaten auf dem Weg nach Neun Rosen und nur Calin, Lyane, Cassandra, Ivory und ich waren übrig.
Ich atmete erleichtert aus.
Das Cyrinnion war vorbei und Ryn hatte mir keine Schwierigkeiten bereitet. Ebenso wenig wie Kaya.
Als sich ein leichtes Lächeln auf meine Lippen schlich, bildete ich mir ein, dass die Statue in der Mitte des Platzes mir zuzwinkerte.
Ich zwinkerte zurück und betrachtete das Bauwerk.
Das Kunstwerk.
Die Dame, die mich ansah, hatte die Lippen zu einer grässlichen Fratze verzogen und entblößte eine Reihe rasiermesserscharfer Zähne, durch die sich die gespaltene Zunge einer Schlange stahl.
In ihren leeren Augen brannten die Flammen der Hölle und auf ihrer Stirn prangten Teufelshörner, zwischen denen ein schwarzes Pentagramm zu erkennen war. Die spitzen Ohren wurden durch das zurückgekämmte Haar nicht verdeckt, welches von Flammen durchzogen war, die an ihrem Körper leckten.
Stacheln ragten aus ihren Schultern und ihren Ellenbogen, die große Löcher in das Netz rissen, das ihren gesamten Körper bedeckte. Sie hatte blutige Schnittwunden und die Finger an ihren Händen bogen sich zu bösartigen, steinernen Krallen.
In jedem ihrer Hände glänzte ein Messer aus Silber, von dem das Blut lief, das auch aus ihrem Mund und von ihren Wunden tropfte. Ihr Gürtel war mit weiteren Klingen aus Silber gespickt, die so echt und so scharf aussahen, als würden sie jeden Moment die Statue verlassen und sich in mein Herz bohren können. Ihre Schuhe hatten Absätze von etwa zehn Zentimetern, die ebenfalls aus zwei Messern bestanden, von denen das Blut nur so triefte.
Ein Teufelsschwänzchen wand sich um ihr rechtes Bein, als wäre sie die Verkörperung des Höllenkönigs höchstpersönlich.
Ich las die Inschrift, die in Großbuchstaben in den Stein gemeißelt war.
IRA – DER JÄHZORN
Ein Zittern durchlief meinen Körper, als ich an die anderen sechs Statuen dachte, die in ganz Akar verteilt waren.
Königin Helena hatte in jedem Viertel eine der sieben Damen des Todes errichten lassen, um die Bewohner Mavars daran zu erinnern, dass das Königreich vor etlichen Jahren, als der König gestorben war, kurz vor dem Bürgerkrieg gestanden hatte.
Der König hatte diesen Bürgerkrieg auf die menschliche Schwäche geschoben und sich immer vor den sieben Todsünden gefürchtet - den sieben Damen des Todes, die nun in ganz Akar ihre Viertel bewachten und vor einem Bürgerkrieg bewahren sollten.
Schon merkwürdig, dass sich die Ängste des Königs jetzt, da er tot war, einfach so in Luft aufgelöst hatten.
Es war fast, als...
Es war fast, als...
Als wären seine Wünsche in Erfüllung gegangen.
Die Erkenntnis traf mich wie der Blitz.
Hüte dich vor den Wünschen eines toten Königs.
War es möglich, dass seine Macht so groß war?
Der König von Mavar war tot, aber...
Schon merkwürdig, dass sich die Ängste des Königs jetzt, da er tot war, einfach so in Luft aufgelöst hatten.
Aber was, wenn die Ängste eines Toten genau so real waren wie die eines Lebenden?
Kayas Warnung hallte in meinem Kopf wieder. Immer wieder, bis ich die grausame Wahrheit darin nicht mehr leugnen konnte.
Hüte dich vor den Wünschen eines toten Königs.
Hüte dich vor den Wünschen eines toten Königs.
Hüte dich vor den Wünschen eines toten Königs.
Schlagartig fiel mir der andere Teil ein.
Es wäre schließlich eine wahre Sünde, wenn jemand mit so viel Potential wie du nicht das gesamte Ausmaß seiner Magie erfahren könnte, findest du nicht?
Das gesamte Ausmaß seiner Magie.
Vielleicht war das gar nicht auf mich bezogen, sondern auf Ryn.
Sein Ausmaß.
Das Ausmaß seiner Magie, die sogar die Grenzen zwischen Leben und Tod überschreiten konnte.
Eine wahre Sünde.
Die sieben Damen des Todes.
Die sieben Todsünden.
Es war ein verdammter Hinweis gewesen und ich hatte ihn einfach nur nicht verstanden.
Die Statue... sie hatte mir sogar zugezwinkert und ich war trotzdem zu dumm gewesen, die Hinweise zu verstehen.
Aber jetzt war es zu spät.
Ich konnte nur noch eine Warnung rufen, die meine Freunde herumwirbeln ließ.
Der Stein fiel wie eine zweite Haut von der Statue ab und ich erkannte rote, glänzende Haut darunter.
Die Ira ließ ihre gespaltene Zunge durch die Luft sausen und zog die Lippen zu einem Lächeln zurück.
Das Feuer in ihren Augen und ihrem Haar erwachte zum Leben und Rauch stieg in die Luft auf.
Ich schluckte.
Es konnte nicht wahr sein. Es durfte nicht wahr sein.
Ryn hatte den nächsten Schachzug ausgeführt und ich hatte ihn erneut nicht kommen sehen, Warnung hin oder her.
Ein kalter Schauder lief über meinen Rücken, als ich an die anderen sechs Statuen dachte, die ebenfalls in diesem Moment ihre steinerne Haut abstreiften und zum Leben erwachten.
Ich begann zu zittern.
Die Damen des Todes stiegen aus ihrem Grab empor.
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