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  „Die Nächsten bitte."

Ich wusste bereits in dem Moment, als der Mann einen Schritt nach vorne machte, dass er abgelehnt werden würde.

Vielleicht lag es daran, dass ich seit Tagen immer dasselbe machte und meine Nervenkapazitäten sich langsam dem Ende neigten, aber ich hatte keinen Funken Mitgefühl für ihn übrig.

Ich stieß genervt den Atem aus und wechselte einen vielsagenden Blick mit Cassandra, die neben mir auf einem Stuhl saß. Hilfe.

Es war der letzte Tag des königlichen Cyrinnions und ich war mehr als erpicht darauf, dass er endlich vorbei gehen würde.

Ich vermisste mein Bett, meine Dusche und meine Ruhe.

In den kleinen Baracken zu schlafen, die das gesamte Militärlager ausfüllten, hatte sicherlich keinen einzigen Vorteil, außer dass es im Winter nicht kalt war.

Ich vermisste es, mein eigenes Zimmer zu haben, meine eigene Privatsphäre.

Dieses Leben im Grenzviertel wäre ein Albtraum für mich. 

Früh aufstehen, trainieren, essen, schlafen. 

Dreimal in der Woche wurde geduscht und zweimal gab es frische Kleidung, die bei den Lebensbedingungen hier nach wenigen Stunden wieder so vollgeschwitzt war wie die alte.

Es erinnerte auf bizarre Weise an mein Leben als Straßendiebin.

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück. Die Soldaten, die hier trainierten, hier lebten hatten es sich selbst ausgesucht und konnten jederzeit wieder in ihr altes Leben zurückkehren.

Aber das taten sie nicht.

Die Ausbildung in den Lagern war hart. Härter als alles, was ich je in meinem Leben hatte machen müssen.

Aber sie machte sich bezahlt.

Sie ließ die jungen Männer und Frauen zu Soldaten, zu Wachen, zu Kriegern werden, wie die Welt sie selten gesehen hatte.

Aber der Mann, der nun vortrat, war schon durch die Prüfung gefallen, bevor er überhaupt angefangen hatte.

Ich musste nur einen Blick auf ihn werfen, um sein Schicksal zu besiegeln.

Er war groß und breitschultrig. Durchtrainiert bis auf den letzten Muskel seines wuchtigen Körpers, die alle stahlhart in der Sonne glänzten. Er trug kein Oberteil, was uns den Blick auf die vielen Narben auf seinem Oberkörper freigab.

Sein Gesicht war leicht rundlich, vermittelte aber unmissverständlich eine Botschaft des Krieges, des Todes und der Zerstörung. Er hatte keine Haare außer die seines rotbraunen Bartes, der sich wie Unkraut in seinem wüsten Gesicht verbreitet hatte.

Wüst. 

So nannte ich die schiefe Nase, die mehrfach gebrochen worden sein musste, die kleinen Augen, in denen die Mordlust funkelte, und die große Brandnarbe, die den oberen rechten Teil seines Gesichtes verschandelte.

Oh ja. Ich wusste definitiv, dass er keine Chance hatte, noch bevor ich die große zweischneidige Axt auf seinem Rücken erkannte.

Noch bevor ich das grausame Lächeln auf seinem Gesicht erkannte, das sich dort bildete, sobald er seinen Gegner vor sich sah.

Noch bevor er mir zuzwinkerte, als wäre ich eine Jungfrau, um die er werben wollte.

Ich spürte eine Bewegung neben mir und sah, dass Calin, der auf der Armlehne meines Stuhles hockte, angewidert die Nase rümpfte.

„Nicht dein Typ, Engelchen?", fragte ich ihn herausfordernd.

Er wandte den Kopf um, sodass ich ihm die Antwort an den Augen ablesen konnte. „Deiner etwa, Teufelchen?"

Ich schüttelte grinsend den Kopf und richtete den Blick wieder auf das Spektakel vor mir, konnte aber die Wärme in meiner Brust nicht verdrängen, die dort aufgekeimt war, als er mich Teufelchen genannt hatte.

Diese Woche mit ihm hatte mir definitiv nicht gut getan. Sie hatte ein Chaos in mir verursacht, das ich lieber nicht zu genauer betrachtete.

Dieser Idiot mit seinen dämlichen schlechten Flirtversuchen!

Um mich abzulenken sah ich den bulligen Kerl vor mir an, der den anderen Kandidaten – einen kleinwüchsigen Messerkämpfer – mit bloßen Händen zu Boden schmiss und dann seine Axt durch die Luft schwang, um ihm den Stoß zu geben, der ihn töten würde.

Spätestens dann wäre es mit seinen Chancen vorbei.

Die Regeln der Zeremonie – der Prüfung – waren einfach: Bis zum ersten Blut und nicht weiter.

Selbst wenn er ihn nur verletzen würde, hieß das noch lange nicht, dass wir ihn deshalb auswählen mussten.

Im Gegenteil, es hatte sogar schon Fälle gegeben, in denen Cassandra und ich beide oder keinen der Kandidaten ausgewählt hatten, um uns in den Palast zu begleiten. Ganz selten hatten wir auch nur den Verlierer gewählt.

Ich konnte nicht anders, als schon vor Ende des Kampfes meine Meinung auszusprechen. „Der Kerl mit der Axt wird es auf keinen Fall."

„Sehe ich auch so", stimmte Cassandra mir nachdenklich zu. „Er ist die Art von Soldat, die dir die Axt in den Kopf stoßen, wenn du ihnen nicht den Posten zuteilst, den sie haben wollen."

Ich nickte und neben mir brummte Calin zustimmend.

„Wie heißt er noch gleich?", fragte Lyane, die an dem Sonnenschirm lehnte, den wir hier aufgestellt hatten, und ein Klemmbrett mit einer Liste in der Hand hielt. „Dann kann ich ihn gleich von der Liste streichen."

„Marlon", antwortete Cassandra. „Marlon Crass. Der Steinmagier."

Lyane nickte und wedelte abwesend mit der Hand, als wäre sie schon viel zu sehr darin vertieft, den Namen auf ihrer Liste zu suchen, als dass sie Cas antworten könnte.

Ich wandte schließlich den Blick von der Kommandantin ab und sah mir das brutale Duell vor mir an.

Der Messerkämpfer war wieder auf den Beinen und wich Marlons Hieben mit der Axt aus wie eine Eidechse. 

Vielleicht wäre er kein schlechter Kandidat, würde er nicht immer wieder über seine eigenen Beine stolpern.

„Der Kerl mit den Messern ist auch raus", sprach meine Freundin meinen Gedanken aus, woraufhin ich zustimmend brummte.

Lyanes Frage nach seinem Namen hörte ich gar nicht mehr, weil ich meinen Gedanken erneut freien Lauf ließ.

In den letzten Tagen war das öfter passiert, da wir von morgens bis abends, fünfzehn Stunden am Tag, mit nur einer viel zu kurzen Pause dasselbe machten.

Das nächste Paar aufrufen, das Duell bewerten, die Namen entweder streichen oder nicht.

Es war stinklangweilig.

Nicht, dass es mich gestört hätte, dass ich nichts von Ryn oder Kaya oder Chandra gehört und gesehen hatte.

Aber es verursachte ein ungutes Gefühl in meiner Brust, dass der synthische König nun schon so lange nicht mehr zugeschlagen hatte.

Ryn Toxxalver war kein Mann, der schnell aufgab.

Er würde erneut einen Schachzug ausführen, der unsere gesamte Aufstellung ruinieren würde. Es war nur eine Frage der Zeit.

Aber je länger er wartete, desto überlegter würde sein Zug sein und desto mehr Schaden würde er anrichten.

Mit einer Spinne in Cassandras Bett konnte er wenig ausmachen, aber mit einer ewigen Dunkelheit über Akar konnte er ganze Leben zerstören.

Ich fragte mich, ob es das war, was er plante. Eine ewige Dunkelheit über ganz Akar.

Es würde definitiv seinem Stil entsprechen, auch wenn es nur für die Genugtuung wäre.

Abwesend trommelte ich mit den Fingern auf meine Armlehne, als ich langsam meine Aufmerksamkeit wieder auf das Duell lenkte.

Marlon hatte die Axt erhoben und war kurz davor, sie auf das Bein des Messerkämpfers niedersausen zu lassen. 

Dieser war von magischen, steinernen Ketten am Boden gefesselt und ich erkannte Feuchtigkeit in seinem Gesicht, die nicht vom Schweiß stammte.

Weichei.

Marlon setzte zum Schlag an.

„Halt!", rief ich und lenkte somit die gesamte Aufmerksamkeit, die auf den beiden Männern vor mir gehaftet hatte, auf mich.

Cassandra neben mir sah mit eisernem Blick auf das, was ich nur um wenige Augenblicke verhindert hatte. Ihre Hand zitterte leicht.

„Das wird nicht nötig sein", wandte ich mich an Marlon. „Das Duell ist beendet. Wir wünschen, keinen der beiden Kandidaten mit nach Neun Rosen zu führen."

Ich sah die Wut und den Hass in Marlons Augen kurz aufleuchten, als er die Axt sinken ließ, sich jedoch keineswegs entspannte.

„Vielen Dank", sagte ich und entließ die beiden damit aus ihrem Duell.

Marlon wandte sich ab, als wolle er von der kleinen Fläche, auf der sie gekämpft hatten, verschwinden. Aber er drehte sich blitzschnell wieder zurück, hob die Axt über den Kopf und ließ sie mit ungeheurer Kraft und Schnelligkeit auf das Bein des am Boden gefesselten Kämpfers niedersausen.

Angewidert wandte ich den Blick ab.

Ein Knall ertönte, als Marlons Axt an Calins Kraftfeld zerbrach und der andere Mann durch die Luft geschleudert wurde, bis er gegen eine der kleinen Baracken krachte.

Marlon stand nicht wieder auf.

Ich unterdrückte ein Kichern und warf Calin einen Blick von der Seite zu, den man nur als schelmisch beschreiben konnte.

Der Dualmeister zwinkerte mir zu und das warme Gefühl seines Charismas stieg in mir auf.

Ich wandte mich ab, wobei ich es mir nicht nehmen ließ, die Augen zu verdrehen und ihn mit dem Ellenbogen in die Seite zu stoßen.

Er schnaubte nur.

Ich lehnte mich zurück und genoss einfach das Gefühl seiner Anwesenheit an meiner Seite, während ich den Duellen zusah.

Ein Scharfschütze trat gegen einen anderen Scharfschützen an. Eine Frau mit einem Speer kämpfte gegen einen Mann mit einem Schwert. Zwei Männer knurrten sich während ihres Fechtkampfes ununterbrochen wie wilde Tiere an.

Ich schweifte mit den Gedanken immer wieder zu verschiedensten Dingen ab.

Zu Ryn, dessen Schatten sich immer wieder über mich legte wie eine Decke, die mich erdrückte und erstickte.

Zu Kaya, deren seltsame Warnung noch immer in meinem Kopf widerhallte.

Zu Calin, der seit Tagen in meinem Kopf herumspukte.

Wann war es ihm nur gelungen, mich so weit um den Finger zu wickeln, dass ich seine Anwesenheit genoss?

Ab und an gab ich ein paar passende Kommentare ab, wenn mir ein Kämpfer besonders gut gefiel oder besonders negativ ins Auge stach, aber meistens überließ ich den anderen das Urteil.

Ich war durch die schlaflosen Nächte der letzten Monate, die sich neuerdings angehäuft hatten, einfach zu abgelenkt, zu müde und zu unaufmerksam, um eine so wichtige Entscheidung zu treffen.

Als es schließlich etwa elf Uhr sein musste – wir arbeiteten seit sechs Stunden und in einer weiteren wäre erst Mittagspause – entschuldigte ich mich unter dem Vorwand, dass ich meinen Kreislauf etwas in Schwung bringen musste, und erhob mich von meinem Stuhl.

„Calin wird mich vertreten", erklärte ich und wies den Dualmeister an, sich auf meinen freigewordenen Stuhl zu setzen.

Anschließend stieg ich über Ivory, die in Gestalt eines schwarzen Panthers mit amethystfarbenen Augen, passend zu ihrer Kette, auf dem Boden lag und mir zum Abschied ein Schnurren schenkte.

Dann ließ ich meine Beine die Arbeit übernehmen und lief einfach eine Weile durch das Viertel, in dem die ganzen Militärlager befindlich waren.

Akar war in insgesamt sieben Stadtviertel unterteilt, von denen das Grenzviertel jenes war, das am weitesten im Westen lag.

Neben diesem gab es noch das Außenviertel im Norden, das Gebiet der Bars und Restaurants, und das Innenviertel in der Mitte der Stadt, wo man am besten einkaufen und seinen Vergnügungen nachgehen konnte.

Das Palastviertel und das Elite-Viertel, deren Namen eindeutig für sich sprachen, lagen eher im Süden, während das Geschäftsviertel mit den vielen Bürogebäuden und das Handelsviertel, auf dem sich der Schwarzmarkt, mein früheres Zuhause befand, den Osten bildeten.

Das war mein erster Besuch hier im Grenzviertel, da es eigentlich nur zur Ausbildung von Kriegern verwendet wurde und für einfache Leute wie mein früheres Ich tabu war.

Ich passierte unzählige Baracken und Trainingshallen, sowie Versammlungsplätze und Kantinen.

Springbrunnen voller Trinkwasser waren die einzige Dekoration weit und breit.

Ich war mir definitiv sicher, dass ich hier nicht länger als diese eine Woche leben könnte, umgeben vom Geruch nach Schweiß, Blut und anderen Körpersekreten, dem Geräusch von Kämpfen, stöhnenden Kriegern und Schlägen auf Holz, Metall oder Fleisch.

Das Grenzviertel schien fast trostlos zu sein, mit den vielen gleich aussehenden Häusern und den wenigen Farbklecksen zwischen den Braun-, Grau- und Weißtönen.

Ich beschloss, diesen Teil hinter mir zu lassen und lief stattdessen in Richtung Westen, wo die Stadt in eine weitläufige Wiese überging, die schließlich in einen Wald mündete.

Ich lief einfach dem leisen Zwitschern der Vögel nach, ließ mich leiten vom Geräusch der flatternden Flügel, die sich ganz dezent vom Lärm des Trainings abhoben.

Nur eine kleine Pause, dann würde ich wieder zum Cyrinnion zurückkehren.

Nach weniger als drei Minuten hatte ich den Stadtrand erreicht und atmete die frische Wald- und Wiesenluft ein, die mir einen angenehmen Schauer über den Rücken laufen ließ.

Es duftete nach Kiefernharz und Blumen, die ich nicht kannte. 

Ich hörte das Rascheln der Blätter im Wind und die Gesänge der Vögel, die den Morgen ausklingen ließen und den Nachmittag ankündigten.

Eine sanfte Brise blies mir das Haar aus dem Gesicht und ich seufzte.

Ich ließ mich vom Wind ergreifen und er wehte all meine Sorgen, all meine Gedanken an Ryn, Kaya, Chandra, Dominic und Calin weg und erfüllte mich mit einer Lebensfreude, die ich lange nicht mehr gespürt hatte.

Lachend drehte ich mich.

Wie lange war es her, dass ich mich so frei von Sorgen, so frei von der Welt gefühlt hatte?

Ich machte einen Schritt nach vorne und betrat die saftig grüne Wiese.

„Achtung!", rief jemand und ich wirbelte zu der Stimme herum.

Zu spät wurde mir bewusst, dass die Wiese zum Training für die Bogenschützen verwendet wurde.

Zu spät erkannte ich, dass hinter mir eine Zielscheibe stand und die Schützin bereits einen Pfeil abgefeuert hatte.

Zu spät wurde mir bewusst, dass der Pfeil sich genau in meine Brust bohren würde. Er war schon zu nah.

Die Freiheit und die Freude, die der Wind in mir verursacht hatten, waren wie weggeblasen.

Der hölzerne Pfeil, mein unterschriebenes Todesurteil, flog mit rasender Geschwindigkeit auf mich zu und in einem Bruchteil einer Sekunde hätte er mein Herz durchbohrt...

Der Pfeil wurde von etwas getroffen, das silbern aufblitzte und von seiner Bahn abgelenkt.

Er verfehlte mich meilenweit.

Maximal ein Atemzug war vergangen, als der nächste Pfeil mit silbernem Schaft und eiserner Spitze an meinem Ohr vorbei segelte und mich nur um wenige Zentimeter nicht bluten ließ.

Ein dritter Pfeil war auf meine Kehle gerichtet, bevor ich überhaupt realisierte, dass der erste mich nicht getötet hatte.

Ich sah die Schützin mit den silbernen Pfeilen an, deren Gesicht unter einer blauen Kapuze verborgen lag, die an den Rändern mit einer aufwendigen Silberstickerei verziert war, welche sich auf ihrem gesamten Outfit fortsetzte.

Die Frau war etwas kleiner als ich, aber man erkannte sofort, dass sie trainiert war, obwohl ihre blaue Tunika, die schwarze Jeans – ebenfalls beide mit silbernen Fäden durchzogen, die in der Sonne glänzten – und die Kapuze fast alles verdeckten.

Mein Blick schweifte zu dem Köcher mit den silbernen Pfeilen und dem silbernen Bogen in ihrer Hand, dessen Sehne zum Zerreißen gespannt war, ein Pfeil zum Schuss bereit.

Eindeutig zu viel Silber an einer einzigen Frau.

„Du hast einen Satz", sagte sie mit fester, femininer Stimme. „Einen einzigen Satz, um mir einen Grund zu liefern, dich nicht auf der Stelle mit meinen Pfeilen zu durchlöchern."

Ich kniff die Augen zusammen.

Ich begann zu überlegen, als ich ihre Worte hörte.

Einen einzigen Satz, an dem mein elendes, unbedeutendes Leben hing, das auf einmal gar nicht mehr so elend und unbedeutend war.

Einen Satz.

Nur welchen?

Ich konnte ihr sagen, dass ich die Anführerin der königlichen Garde war oder dass ich hier war, um Wachen für den König ihres Reiches auszuwählen. Aber das würde sie mir vielleicht nicht glauben und dieses Risiko war ich nicht bereit einzugehen.

Ich konnte ihr erzählen, dass ich Aria Pencur war. Mein Name war seit meinem legendären Einbruch in den königlichen Palast mehr als bekannt in den Straßen Akars und vielleicht würde sie mich verschonen, wenn ihr klar wurde, dass ich für den König arbeitete. Aber vielleicht würde sie auch das für eine Lüge halten.

Ich konnte ihr erklären, dass ich unbewaffnet war und somit keine Gefahr für sie darstellte. Aber ich wusste, dass auch das mir nicht viel bringen würde, wenn sie sich entschloss, trotzdem die Sehne ihres Bogens loszulassen.

Ich öffnete die Lippen und flüsterte das einzige, was mir richtig erschien, den einzigen Satz, mit dem ich vielleicht mein jämmerliches Leben retten konnte.

„Bitte lass mich am Leben."

Dabei vermied ich bewusst die Worte „töte mich nicht", um nicht allzu flehentlich zu klingen, sondern die Stärke einer Kämpferin zu zeigen, auch wenn diese Kämpferin festgenagelt war.

Die mysteriöse Schützin in der blauen Tunika zog die Sehne ihres Bogens noch weiter zurück, spannte den Bogen ein kleines Stückchen mehr. 

Ich hätte es nicht gemerkt, wäre da nicht dieses leichte Zucken ihrer Finger gewesen, das sie verriet.

„Wer bist du?", zischte sie. „Was willst du hier?"

Ich atmete aus, als mir bewusst wurde, dass ich meinen Satz richtig gewählt hatte, weil ich noch nicht auf dem Boden ausblutete.

Jetzt konnte ich ihr genauso gut die Wahrheit auftischen.

Wer ich war, wo ich herkam, was ich hier wollte.

Und dass ich ihre Scharfschützenfähigkeiten bemerkt hatte.

Ich richtete meinen Blick auf die Stelle, wo sich ihre Augen unter der Kapuze verbergen mussten, ließ sie die Aufrichtigkeit und die eisige Kälte in meinem Gesicht sehen und sagte mit stählerner Stimme: „Mein Name ist Aria Pencur."

Wenn sie diesen Namen schon einmal gehört hatte, ließ sie es sich jedenfalls nicht im Geringsten anmerken.

Eine weitere beeindruckende Fähigkeit, die mir nicht entging, sondern positiv ins Auge stach.

„Ich bin die Leiterin der königlichen Garde und die offizielle Hauptwachtmeisterin im Palast Neun Rosen. Ich habe die Leitung über die Armeen Mavars und führe sie durch den Krieg." Meine Stimme war eisig kalt, fest und unnachgiebig, obwohl ich mir der messerscharfen Pfeilspitze durchaus bewusst war, die immer noch auf meine Kehle zeigte.

„Was sollte ein Mitglied der königlichen Garde hier im Grenzviertel machen?", fragte sie misstrauisch.

„Wir sind hier, um das jährliche Cyrinnion auszuführen. Wir wählen die besten der besten aus allen Militärlagern aus, um ihnen ein Angebot zu machen."

„Für die Garde?", fragte die Frau.

Ich nickte einmal. Bestimmt. Autoritär.

„Außerdem", fuhr ich fort. „Müsstest du das wissen, wenn du offiziell Mitglied in einem der Lager wärst, was mich zu der korrekten Annahme führt, dass du genau so wenig das Recht hast, dich hier aufzuhalten, wie ich. Stimmt's oder hab' ich Recht?"

Die Schützin zuckte leicht zusammen. Eine minimale Bewegung, die einem normalen Menschen vielleicht nicht aufgefallen wäre.

Aber ich hatte jahrelang auf den Straßen gelebt und dort gelernt, die Körpersprache eines Menschen genau zu studieren.

Wer war eine Bedrohung? Wer nicht?

Es brauchte nur einen flüchtigen Blick, um zu entscheiden, ob von Personen Gefahr ausging und wie groß diese Gefahr war.

Der Pfeil, der nur wenige Sekunden von meinem Hals entfernt war, gehörte eindeutig in die Kategorie sehr sehr groß.

Aber dank dieser Instinkte blieb das leise Zucken ihrer Hand nicht unbemerkt und zauberte stattdessen ein kühles Lächeln auf meine Lippen.

„Also, Schätzchen. Wieso legst du nicht den Bogen weg und wir unterhalten uns ein kleines bisschen", flötete ich, weil ich wusste, dass ich gewonnen hatte.

Ich hatte es gewusst, sobald sie mich nach meiner Identität gefragt hatte.

„So von Mensch zu Mensch", fügte ich hinzu, als sie den Bogen nicht senkte. „Nicht von bewaffneter Schützin zu unbewaffnetem Opfer."

Sie knurrte, aber ich ließ mich davon nicht einschüchtern. „Nenn mir einen Grund, dich nicht hier und jetzt zu erschießen und dann einfach so zu tun, als hätte ich dich nie auch nur gesehen", zischte sie.

Mein Lächeln wurde noch kälter, als ich nach oben blickte und dort eine Krähe entdeckte, die ihre Kreise hoch über uns zog, außer Reichweite eines Bogens.

Ich winkte Ivory Star, die mich seit meinem Aufbruch vor etwa einer halben Stunde verfolgt hatte.

Wenn man darauf achtete, war sie gar nicht so unbemerkbar wie ich anfangs erwartet hatte.

Andererseits wusste ich, dass die Gestaltwandlerin eine Spionin erster Klasse war, eben weil man nicht darauf achtete.

Die Krähe stieß als Antwort einen Ruf aus, den man nur als Beleidigung deuten konnte, selbst ohne ihn genau zu verstehen.

„Du dachtest nicht ernsthaft, dass die Anführerin der Garde alleine hier im Viertel herumspazieren würde, oder?"

Sie fletschte geräuschvoll die Zähne.

„Also, willst du jetzt endlich den Pfeil auf etwas anderes richten als meine Kehle?"

Seufzend senkte die Schützin den Bogen und steckte den silbernen Pfeil in den Köcher auf ihrem Rücken.

„Bitte verrate mich nicht. Ich brauche einen Ort, um mit meinem Bogen zu trainieren", meinte sie, ihre Stimme plötzlich viel weicher und angenehmer als noch vor wenigen Augenblicken. „Hier ist es ungefährlich, weil hier überall Bogenschützen mit ihren Waffen trainieren. Niemand verurteilt mich, niemand schreibt mir vor, dass ich lieber schöne Kleider kaufen soll und keine bestickten Kapuzen und Tuniken."

Ich folgte ihr, als sie mich zu einer Bank am Rand der Wiese lotste und sich schließlich mit einem erleichterten Seufzer darauf niederließ. Ihre Kapuze verhängte nach wie vor ihr Gesicht, aber ich meinte, einen Schimmer von hellem Haar darunter zu erkennen.

„Danke, dass du mir das Leben gerettet hast", sagte ich und meinte es auch so.

„Ich hätte dich genauso schnell töten können wie dieser Pfeil."

„Ich weiß."

„Und trotzdem bist du nicht sauer auf mich?", fragte sie.

„Nein", antwortete ich nur.

Und das stimmte.

„Vermutlich liegt es einfach daran, dass ich weiß, wie es sich anfühlt, nicht akzeptiert zu werden", seufzte ich und lehnte mich auf der Bank zurück, sodass sich das Holz in meinen Rücken drückte und mir ein angenehmes Gefühl der Realität, der Verbundenheit mit der Welt vermittelte, das ich heute den ganzen Tag vermisst hatte.

Deshalb waren auch meine Gedanken ständig abgeschweift.

Sie nickte nur. „Ich nehme an, das ist bei Meisterdieben wohl keine große Überraschung."

Ich erwiderte die Geste, sagte aber nichts. Wenigstens konnte ich mir jetzt sicher sein, dass sie Bescheid wusste, über das, was ich war, was ich getan hatte.

Ich wünschte mir, dass ich auch wissen würde, ob ich das für gut oder schlecht hielt.

„Weißt du, es ist echt anstrengend, mit jemandem zu reden, dessen Gesicht man nicht sehen kann", meinte ich schließlich, als mir das angespannte Schweigen zwischen uns auf die Nerven ging.

Sie lachte bitter. „Was versichert mir dann, dass du mich nicht in den Kerker sperren lässt, weil ich hier heimlich und illegal trainiere? Wenn du mein Gesicht kennst, bin ich deiner Gnade ausgeliefert."

„Wenn ich dich wegsperren wollen würde, könnte ich das auch hier und jetzt machen, ohne deinem Gesicht auch nur Beachtung zu schenken."

Trotzdem fiel mir auf, wie ähnlich sie mir war.

Gesichter sind Macht, hatte ich mir immer wieder gesagt, als ich auf den Straßen gelebt hatte.

Jetzt war diese Lektion immer mehr verblasst, weil mein Leben nicht mehr von gestohlenem Geld abhing, aber dennoch. Ich wusste, dass sie Recht hatte und ich verstand ihre Bedenken, ihre Unsicherheit was dieses Thema anging nur zu gut.

Sie seufzte, was ich als Zeichen der Zustimmung erkannte und nahm schließlich die Kapuze ab.

Das erste, was mir auffiel, waren die weißblonden Haare, die zu einem Zopf, aus dem sich einzelne Strähnen lösten, geflochten auf ihren Rücken fielen. Sie hatte hellblaue Augen, die denen von Spencer ziemlich ähnlich waren und ihre blasse Haut ließ sie wirken wie eine Eismeisterin höchster Klasse.

Hätten mir meine Instinkte nicht ausdrücklich versichert, dass sie keinerlei magische Begabung besaß, hätte ich sie vielleicht einfach so als Herrin des Eises abgestempelt.

Andererseits war ich mir bei Jasmine auch sicher gewesen und sie wiederum hatte sich anschließend als mächtige Herrin der Finsternis entpuppt.

Aber das hier war anders.

Die blasse Haut, die hellblauen Augen, die weißblonden Haare...

Aber keine Aura dazu.

Sie hatte einfach nicht die Ausstrahlung einer Magierin, auch wenn sie so aussah. 

Ihr fehlte etwas, das ich nicht genau benennen konnte.

Dennoch war sie hübsch mit ihren wohlgeformten Lippen, dem definierten Kinn und den schönen Wangenknochen, die ihrem Gesicht den letzten Touch gaben.

„Besser", entgegnete ich schließlich. „Wenn ich jetzt auch noch einen Namen zu dem Gesicht erhalten würde, wäre ich wunschlos glücklich."

Sie lächelte leicht, zuckte aber mit den Schultern. Eine ganz klare Was-soll's-Geste. „Artemis Silveris."

Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Ernsthaft? Du verarschst mich doch."

Sie lachte. „Nein, ehrlich nicht. Ich heiße Artemis Silveris!"

„Was soll das denn heißen?", fragte ich belustigt. „Die silberne Göttin der Jagd? Die Göttin mit dem silbernen Bogen?"

Sie schnaubte nur. „Eigentlich ist es einfach mein Name. Artemis wie die Göttin der Jagd. Diesem Namen verdanke ich meine Liebe zu Pfeil und Bogen. Silveris wie die Farbe der Sterne. Deshalb auch die silbernen Waffen und Stickereien auf meiner Tunika."

Jetzt lachte ich. „Das ist wirklich dein Ernst oder?"

„Absolut. Ich bin die Silberschützin von Akar."

Wir beide brachen in Gelächter aus, was das Eis zwischen uns endlich zum Brechen brachte.

„Also dann, Silberschützin", sagte ich. „Zeig mir doch mal, was du so drauf hast."

Sie starrte mich perplex an. „Was? Jetzt? Hier?"

Ich nickte nur, mein Gesicht erneut eine Maske aus Eis und Stahl. „Hier. Jetzt. Und beeil dich, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit."

Sie nickte nur, stand auf und stellte sich gegenüber einer der Zielscheiben auf. 

Ich wunderte mich, wie sie von so weit hinten, mit so großem Abstand überhaupt treffen wollte, doch sie zog einen Pfeil heraus, legte ihn in ihren silbernen Bogen und zog die Sehne so weit zurück, dass sie fast reißen musste.

Dann sah ich zu, wie ihre Brust sich dreimal hob und senkte, als sie ihr Ziel fixierte.

Sie ließ die Sehne los, der Pfeil schnellte durch die Luft und bohrte sich in den Zielpunkt.

Dann ging sie drei Schritte weiter nach hinten, wiederholte die Geste und schoss erneut einen Pfeil ab, der den ersten genau in der Mitte gespalten hätte, wäre dieser nur aus Holz gewesen.

Sie schoss einen weiteren von höherer Entfernung und traf ihr Ziel erneut perfekt.

Ich stieß einen bewundernden Pfiff aus, der über die gesamte Wiese zu hallen schien.

Artemis schenkte mir nur ein Lächeln und wandte sich wieder der Zielscheibe zu.

Ich beobachtete sie ganze fünf Minuten, in denen sie jeden einzigen Pfeil unfassbar zielsicher abschoss, bis ihr Köcher leer war und sie sich vor mir verbeugte, um ihre makellose Vorstellung zu beenden.

„Vielleicht ist Silberschützin ja untertrieben", meinte ich, als sie sich erneut neben mich setzte. „Platinschützin finde ich passender."

Artemis lachte nur und spielte nervös mit ihrem Zopf, als würde sie über etwas nachdenken oder...

„Kann ich mich noch für die Garde bewerben?", schoss es aus ihr heraus.

Meine Augenbrauen hoben sich fast automatisch. „Wie bitte?"

Sie verzog das hübsche Gesicht zu einer nervösen Grimasse. „Naja... du weißt schon. Ich will mich für die Garde bewerben."

„Warum?"

„Damit endlich alle aufhören, mir zu sagen, dass meine Träume sich niemals erfüllen können", antwortete sie. „Ich kämpfe seit Jahren dafür, akzeptiert zu werden. Vergeblich. Ein Platz bei der Garde könnte das ändern. Könnte mein Leben wenden."

Ich presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen, als ich darüber nachdachte.

Schließlich antwortete ich.

Vielleicht war es die Hoffnung in ihrer Stimme, die mich in meinem Herzen berührte.

Vielleicht waren es ihre Fähigkeiten als Scharfschützin.

Vielleicht war es aber auch einfach diese verdammte Ähnlichkeit, die uns beide verband.

Ich nickte. „Komm heute Abend zur Statue der Ira und misch dich unter die restlichen Soldaten, die wir ausgewählt haben. Niemand wird dich bemerken, niemand wird Fragen stellen."

Ihre Augen funkelten im Licht der Mittagssonne. „Danke."

„Dank nicht mir", entgegnete ich. „Dank all den schlechten Scharfschützen in den Militärlagern. Sie könnten eine Silberschützin als ihre Anführerin gebrauchen."

Mit diesen Worten erhob ich mich von der Bank und verließ schließlich die Wiese.

Die Krähe folgte mir.

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Er saß am Rand eines dieser Springbrunnen, die hier im Viertel überall verteilt waren und polierte seine Axt, als ich ihn erblickte.

Marlon Crass schenkte mir ein anzügliches Lächeln, das mich mit den Zähnen knirschen ließ, als ich mich ihm näherte.

Ich wollte einfach nur die Straße hinter dem Marktplatz erreichen, die mich zurück in das Militärlager bringen würde, wo Calin, Lyane und Cassandra sicher schon auf Ivory und mich warteten.

Er hatte andere Pläne.

Mit einem Satz war er auf den Beinen und hatte sich mir in den Weg gestellt. Die zweischneidige Axt funkelte im Licht der Sonne und schien mir bösartig zuzuzwinkern.

Mein Magen verkrampfte sich, als ich das Glitzern in seinen Augen sah, das selbst durch die riesige Brandnarbe nicht verdeckt werden konnte.

Der Steinmagier hatte den Schweiß im klaren Wasser des Brunnens oberflächlich abgewaschen, war aber dennoch über und über mit Staub und Dreck bedeckt. 

Er grinste mich an, was den Blick auf leicht gelbliche Zähne freigab.

Ich schluckte, als ich meine innere Stärke sammelte, um mich ihm zu stellen.

Natürlich hätte ich ihn einfach umgehen können, aber das wäre sicher nur schlecht für mich geendet.

Mit einer Axt, die meinen Kopf spaltete zum Beispiel.

Wobei er das ebenso gut von vorne erledigen konnte.

Marlons Gestank nach metallischem Blut und salzigem Schweiß erfüllte die Luft, noch bevor ich ihm direkt gegenüber stand.

Kurz wünschte ich mir, Calin wäre bei mir und könnte mich mit seinen Kraftfeldern vor Marlon beschützen.

Aber diesen Gedanken verdrängte ich schnell.

Calin war egal, wenn ich jetzt hier von einer Axt in zwei Teile gespalten wurde.

Gegen Marlon hätte ich keine Chance.

Entfernt nahm ich das Kreischen einer Krähe wahr, die mit einer unglaublichen Geschwindigkeit der Straße folgte, die ich wegen Marlons breiten Schultern nicht erreichte.

Ich konnte nur hoffen, dass Ivory schnell genug war und rechtzeitig Hilfe holen würde.

Bis dahin wäre ich auf mich allein gestellt.

„Hallo, meine Schöne", begrüßte er mich mit einer Stimme, die er hoffentlich nicht für sexy hielt.

Ein kalter Schauder lief mir über den Rücken.

„Hallo, mein Großer", antwortete ich ruhig.

Ich ließ mir meine Angst und meinen Ekel nicht anmerken.

Raubtiere witterten diese Gefühle und machten sie sich zunutze.

Und Marlon war definitiv ein Raubtier, das sich mich als Opfer ausgesucht hatte.

„Wohin des Weges?", fragte er mich, wobei er beinahe gleichgültig einen Finger über die Schneide seiner Axt gleiten ließ.

Beinahe.

Ich sah den Messerkämpfer vor mir, wie er am Boden gefesselt dalag und darauf wartete, dass Marlon ihm das Bein abschlug.

Diese Genugtuung hatte ich ihm verwehrt.

„Zurück zum Lager. Ich habe leider noch ein paar Stunden Arbeit, bevor mein Tag sich dem Ende neigt."

„Ah", antwortete er gedehnt. „Wenn du schon deine Arbeit ansprichst... Ich habe immer noch nicht ganz verstanden, wieso ich nicht als potentieller Kandidat aufgenommen wurde."

Ah. Darum ging es hier also.

Er wollte, dass ich meine Entscheidung bezüglich seiner Aufnahme noch einmal überdachte.

Natürlich hätte ich ihm einfach sagen können, dass wir bei der Garde keine brutalen Schlächter haben wollten, sondern loyale Soldaten, die sich gegenseitig unterstützten und voneinander lernen konnten.

Aber stattdessen legte ich den Kopf schief. „Ich weiß nicht so recht. Eigentlich hattest du echt Potential. Vielleicht passt dein Typ einfach nur nicht in unser Schema."

Er bleckte die Zähne wie ein Löwe, der gleich nach seiner Beute schnappen würde.

„Was gefällt dir denn an meinem Typ nicht?"

Alles.

„Ich mag es einfach nicht, wenn ein Mann Brutalität gegenüber Empathie vorzieht."

Marlon runzelte die Stirn, als habe er noch nie wirklich darüber nachgedacht.

„Das lässt sich ändern", entgegnete er.

Ich wusste nicht, ob die Aufrichtigkeit in seiner Stimme echt oder gespielt war.

„Unsere Entscheidung leider nicht. Du kannst es nächstes Jahr wieder versuchen."

Ich erkannte ein Glitzern in seinen Augen, das so mörderisch war, dass ich all meine Bedenken über Bord warf.

Ich trat näher an ihn heran und bewegte meine Lippen zu seinem Ohr.

„Außerdem", flüsterte ich.

Er brummte zufrieden, als ich mein Knie an seinem Oberschenkel hinaufschob, wie es eine Prostituierte vielleicht bei einem möglichen Kunden getan hätte.

„Wir können keine schlechten Menschen in der Garde gebrauchen."

Ich holte blitzschnell mit dem Knie aus und rammte es ihm mit aller Kraft in den Schritt.

Dann rannte ich.

Ich sah nicht zurück zu ihm, als er sich vor Schmerzen krümmte.

Als ich seine Worte hörte, wollte ich mich übergeben.

Keine Worte des Hasses oder der Wut.

Worte der Empathie.

Ein Versprechen, besiegelt mit Schweiß, Blut und Ehrlichkeit.

„Ich werde mich ändern!", rief er mir hinterher. „Ich werde mich für dich ändern!"

Ein Schauder lief mir erneut über den Rücken, als ich in die nächste Gasse einbog und mich so schnell von ihm entfernte, wie meine Beine mich tragen konnten.

Mein Atem ging rasselnd, als ich eine Baracke nach der anderen passierte, ohne auf die leise Stimme in meinem Inneren zu achten, die Marlons Worte weiter wiederholte, selbst als er schon außer Hörweite war.

Ich werde mich für dich ändern.

Ich hörte erst auf zu zittern, als ich Calin sah, der mir auf einer der engen Straßen entgegenkam, eine Krähe flog über ihm und zeigte ihm den Weg.

Ich hörte erst auf zu rennen, als ich mich ihm in die Arme geworfen hatte, seinen Duft einatmete und seinen Körper an meinem spürte.

Aber die Worte hallten weiter in meinem Kopf wider.

Ich werde mich für dich ändern.

Ein Versprechen.

Ein Fluch.

Ich vergrub den Kopf an Calins Brust, die sich rasch hob und senkte, weil er gerannt war, um mich so schnell wie möglich zu erreichen.

Er war gekommen.

Er war gekommen, um mich zu retten.

Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten, als die Angst mich erneut überwältigte und ich an seiner Brust zu schluchzen begann.

Unsere Herzen schlugen zusammen, während er mich hielt und mir leise beruhigende Worte zuflüsterte.

Er war hier.

Er war hier und nur das zählte.

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