13
„Also nur damit ich das jetzt auch alles richtig verstanden habe", meinte Jasmine, als ich meine Erklärungen über Merilla und den Tod meiner Eltern beendet hatte. „Du bist in Wahrheit eine synthische Adelstochter, die aber wegen des Todes ihrer besten Freundin den Zorn des Kronprinzen auf sich gezogen hat und dann fliehen musste, um zu überleben. Stimmt das so weit?"
Ich nickte.
„Gut, dann erzähl mal schön weiter, Schätzchen. Du hast meine ungeteilte Aufmerksamkeit."
Die anderen Anwesenden nickten nur.
Ich zuckte mit den Achseln. Jetzt konnte ich sowieso nicht mehr zurück.
„Mir blieb nichts anderes übrig als Synth zu verlassen, solange ich noch die Möglichkeit dazu hatte. Ich hatte keine Zeit, meine Flucht zu planen oder Gefahren zu berücksichtigen, weil ich sofort handeln musste", erklärte ich ihnen. „Er hat mich verfolgt, müsst ihr wissen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als eine schnelle, gefährliche Flucht."
„Wie bist du nach Akar gekommen? Die Grenzen zwischen Synth und Vinder werden streng überwacht und durch Ascalin zu fliehen wäre glatter Selbstmord", warf Dominic ein.
Seine tiefblauen Augen waren auf mein Gesicht gerichtet und ich erkannte so viel darin, das ich am liebsten ignoriert hätte.
Mitleid.
Neugier.
Dieses Gefühl, das ich auch für ihn verspürte, aber das durch seine königlichen Pflichten verboten wurde.
Und eine tiefe, glänzende Traurigkeit, weil er noch nicht über den Tod seines besten Freundes hinweg war.
Aber er war der König.
Er hatte ein Reich zu regieren und er durfte sich nicht mehr als einen Tag Pause erlauben.
Nicht mit Ascalin und Synth, die gegen uns aufrüsteten.
Ich verzog das Gesicht bei der Frage zu einer Grimasse. „Ich habe meine Wege", antwortete ich. „Ich möchte nicht darüber sprechen."
Wollte ich wirklich nicht.
Meine Erinnerung an diese lange, tödliche Flucht waren verschwommen, weil ich viel zu schnell die Konzentration verloren und das Rauschen des tosenden Flusses meine Sinne benebelt hatte.
Ich erinnerte mich nicht einmal mehr an das Gesicht des jungen Mädchens, das mir in jener Nacht das jämmerliche Leben gerettet hatte.
Verwirrt schüttelte ich den Kopf und richtete den Blick dann wieder auf Dominic Rays.
Mein König nickte, mit meiner Antwort sichtlich unzufrieden. Aber er wusste es besser und fragte nicht weiter nach.
„Ich hatte keine Freunde, lebte auf den Straßen Akars und tat mein bestes, nicht aufzufallen, niemandes Zorn auf mich zu ziehen und einfach zu... existieren. Zu atmen, zu blinzeln, zu essen und zu schlafen, aber nicht zu leben."
Ich spürte eine angenehme Dunkelheit, die mich einzufangen schien und mir aufmunternd das Gesicht umspielte.
Ein stiller Trost, der es mir ermöglichte, die Erinnerungen und die Tränen mit einem Blinzeln fort zu waschen.
„Bis Tray mich gefunden hat. Sie bildete mich aus, lehrte mich die Kunst des Stehlens und des Spionierens. Mir wurde beigebracht, wie man mit der Dunkelheit verschmilzt, wie man Schlösser knackt und sich mit Messern, Pistolen und Schwertern verteidigt. Ich wurde zu einer Meisterdiebin ausgebildet, deren einzige Sorge es war, nicht von irgendeinem Leibwächter erschossen zu werden", fuhr ich fort.
„Wusste Tray von deinem persönlichem Krieg gegen den synthischen Kronprinzen?", fragte Cassandra, die Stirn nachdenklich gerunzelt und die Augen zusammengekniffen.
„Ja und nein. Ich hatte ihr erzählt, dass ich viele mächtige Feinde aus meinem früheren Leben mit mir gebracht hatte. Außerdem habe ich sie vor ihm gewarnt", antwortete ich, wobei ich eine Vision von Trays vertrautem Gesicht so real vor mir sehen konnte, dass die Schmerzen ihres Verlustes mir die Kehle zuschnürten. „Ich habe sie schließlich irgendwann eingeweiht. Seit dem Tag, an dem der synthische König gestorben ist und er den Thron übernommen hat... Seit diesem Tag schlafe ich fast keine Nacht mehr, ohne von seinen grässlichen grünen Augen verfolgt zu werden, bis ich schweißgebadet aufwache."
„Und dann ist er in Akar aufgetaucht und hat dich beschatten lassen", schlussfolgerte Spencer. „Vor ein paar Monaten, als das Bündnis zwischen Mavar und Vinder ausgehandelt werden sollte. Es muss ziemlich einfach gewesen sein, sich hier einzuschleichen, um an wertvolle Informationen zu gelangen."
„Und diese Gelegenheit hat er außerdem dazu genutzt, an dich heranzutreten und das Unmögliche zu verlangen: Die Schatzkammer ausrauben", murmelte Dominic. „Ich kann es einfach nicht fassen."
Ich lächelte traurig. „Gäbe es Kaitanjane DiMarcoPhy nicht, hätte ich es sogar getan. Aber er hat Tray vor meinen Augen von einer Klinge durchbohren lassen und dann euch allen mit dem Tod gedroht, indem er mir heute seine kleine Assassinin geschickt hat."
„Macht Sinn", meinte Lyane, die es sich ebenfalls nicht hatte nehmen lassen, meine Erklärungen anzuhören.
Sie, Calin und Ivory hatten an der Abschlussbesprechung für den morgigen Aufbruch teilgenommen und sich dann dazu entschieden, dass sie bleiben wollten. Zuhören.
Mich störte es nicht. Ich hätte es ihnen früher oder später sowieso erzählt.
„Kannst du mir mal ganz kurz erklären", wandte Cas sich an mich. Sie wirkte aufgebracht. „Wieso du mir nie erzählt hast, dass du eine Adelige bist, obwohl ich dir doch alles anvertraue?"
„Das ist doch unwichtig", kam es von Spencer, was ihm einen mörderischen Blick einbrachte.
„Nicht für mich", zischte die Seherin ihn an, woraufhin er nur die Augen verdrehte und sich mit verschränkten Armen zurücklehnte.
Ich lächelte entschlossen. „Weil ich keine Adelige bin."
Verwirrt sahen mich alle an.
„Ariadne Skensnyper mag vielleicht eine Adelige gewesen sein", erklärte ich mit eiserner Stimme. „Aber Ariadne Skensnyper ist an jenem Abend gestorben, an dem ihre Eltern aus dem Leben geschieden sind. Sie gibt es nicht mehr. Ich bin Aria Pencur. Nicht Ariadne, nicht Ari, sondern Aria. Ich war nie eine Adelige, ich bin keine Adelige und ich werde niemals eine Adelige sein."
Ich bemerkte natürlich, dass Dominic bei diesem letzten Satz leicht zusammenzuckte und anschließend die Schultern hängen ließ.
Aber ich bemerkte auch, dass Cassandra und Jasmine mich anlächelten und dass Calin mir einen bewundernden Blick zuwarf.
Sogar Lyane nickte anerkennend.
„Also", mischte sich jetzt endlich Ivory ein, die seit meinem Auftauchen hier noch kein einziges Wort gesagt hatte. „Mal angenommen, dass dieser synthische König uns wirklich alle nacheinander abschlachten will. Wo würde er zuerst zuschlagen?"
„Das hat er schon", murmelte ich bitter. „Zweimal."
Jasmine runzelte die Stirn und auch in Spencers Kopf schienen die Zahnräder langsam an der richtigen Stelle einzurasten.
Alle anderen warfen mir verwirrte Blicke zu.
„Die Explosionen", murmelte Spencer. „Du meinst, der synthische König ist dafür verantwortlich? Das Feuer? Meine Mutter? Das ist alles seine Schuld?"
Ich hörte die stumme Frage, auch wenn er sie nicht aussprach.
Finn?
Spencer und Finn waren in den letzten Wochen mehr zusammengewachsen als irgendwer sonst und manchmal – nur manchmal – hatte ich das Gefühl gehabt, dass Dominic deshalb sogar leicht eifersüchtig auf den Eismeister gewesen war.
Finn.
Und jetzt war er tot. Einfach tot.
Spencers Schmerz traf mich erneut wie ein Schlag ins Gesicht. Er hatte meinetwegen seine Mutter, seinen besten Freund und fast auch Cassandra verloren.
Das würde ich mir nie, niemals verzeihen.
„Es tut mir so leid, Spencer", flüsterte ich nur.
Er schüttelte den Kopf. „Es ist nicht deine Schuld. Nichts von dem, was passiert ist, ist auch nur in irgendeiner Hinsicht deine Schuld, Aria."
Mir fiel ein Stein vom Herzen.
„Es ist nur die Schuld von diesem kleinen Schneemann."
„Schneemann?", fragten alle gleichzeitig, wobei sie Spencer verwundert anstarrten.
Er grinste nur boshaft. „Mehr wird nicht von ihm übrig sein, wenn ich mit ihm fertig bin."
Ich erwiderte seinen Gesichtsausdruck nicht.
„Es sei denn, ich komme schneller an ihn heran", knurrte ich. Ein Versprechen.
„Oder ich", murmelte Jasmine leise. „Oder ich."
Jetzt hatten auch Dominic und Cassandra es begriffen.
„Der Clown", murmelte die Seherin. „Der Clown und diese Dämonen, die diesen Ballsaal überfallen haben, am Tag vor der Ankunft der Cylter. Das war auch er, hab ich recht?"
Ich nickte. „Auch das tut mir leid."
Jasmine wedelte wegwerfend mit der Hand. „Ach, kein Thema."
Eine weitere Last, die von mir abfiel, obwohl ich die Leere erkannte, die sich in Jasmines Blick geschlichen hatte. Die Gefühlslosigkeit.
„Aber wie?", warf Lyane ein. „Wie kann er einen Palast einfach so in die Luft jagen? Wie kann er Dämonen und Clowns erschaffen?"
Da war sie also. Die Frage, von der ich mich schon gefragt hatte, wann ich sie endlich beantworten müsste.
Ich holte tief Luft, bevor ich ein einziges Wort sagte. „Angst."
Ivory kniff die Augen zusammen. Sie verstand mich sofort. „Er ist ein Angstmagier? Sowas gibt es?"
„Ja, die gibt es. Sollte es nicht, ich weiß. Aber es gibt sie."
Dann brach die Hölle los.
Alle redeten durcheinander, stellten Fragen und begannen, Schlussfolgerungen aus meinen Worten zu ziehen, sodass ich keine Chance hatte, mitzukommen.
Ich sah, dass sich ihre Lippen bewegten, sah, dass sich ihre Münder öffneten und wieder schlossen und hörte kleine Fetzen ihrer Sätze.
„... Synth den Krieg erklären..."
„... unmöglich zu verteidigen..."
„... sein nächster Schachzug?"
„... kann ein ganzes Heer ausschalten..."
Nach wenigen Augenblicken kehrte allmählich wieder Ruhe ein, bis niemand mehr ein Wort sagte.
Ich ließ meine Augen von Gesicht zu Gesicht gleiten und sah sie nacheinander an.
Braune Augen, deren Pupillen von einem roten Ring umgeben waren.
Ein nachtblaues Auge, das im Kontrast zu einem grauen stand.
Augen wie flüssiger Bernstein, der sich zu Amethyst verfärben konnte.
Schwarze Augen, die das Licht aufzusaugen schienen.
Violette Augen, die aufgrund einer langen Narbe eine unterschiedliche Helligkeit besaßen.
Hellblaue Augen, in denen kalte Splitter lauerten, bereit jeden zu erdolchen, der etwas Dummes tat.
Schließlich dunkelblaue Augen, die mich an den Ozean denken ließen.
Sie alle erwiderten meinen Blick, niemand senkte den Kopf.
Für Helena. Für Saraphina. Für Finn.
Ich holte tief Luft und fragte sie schließlich etwas, von dem ich lange gewusst hatte, dass ich es tun musste.
„Wovor habt ihr Angst? Wovor habt ihr am meisten von allem auf der Welt Angst?"
„Spinnen", schoss es aus Cassandra hervor. „Eindeutig Spinnen."
Das wusste ich.
„Diesem Clown mit seinen Dämonen", antwortete Jasmine, ein Zittern konnte sie nicht unterdrücken.
Auch das wusste ich.
„Davor, die Menschen, die ich liebe, zu verlieren."
Spencers Angst war ebenfalls klar.
„Diese beiden hat er bereits ausgespielt. Ich denke nicht, dass wir mit einem weiteren Anschlag auf euch rechnen müssen", überlegte ich laut, wobei ich Jasmine und Spencer erneut einen entschuldigenden Blick zuwarf. „Die anderen?"
„Dunkelheit", antwortete Lyane.
Hm, damit könnte er verdammt viel anfangen.
„Ich habe extrem Angst davor, andere Menschen zu enttäuschen. Ihnen gegenüber zu versagen, meine Ziele nicht zu erreichen oder ihren Ansprüchen nicht gerecht zu werden", murmelte Calin.
Erstens war das definitiv der perfekte Albtraum, um zu einer Wahrheit gemacht zu werden.
Und zweitens blickte er mir die ganze Zeit über in die Augen.
Es schien fast so, als hätte er speziell Angst, dass er mich enttäuschen würde, dass er meinen Ansprüchen nicht gerecht würde.
Ich musste schlucken, um meine trockene Kehle zu befeuchten.
Gott sei Dank antwortete schließlich auch Ivory. „Ich habe Angst davor, meine Magie zu verlieren."
Ich kniff die Augen zusammen.
Auch das war wie maßgeschneidert für seine Psychospielchen. Ivory einfach ihre Macht zu nehmen.
Plötzlich fielen mir Kayas Worte wieder ein.
Hüte dich vor den Wünschen eines toten Königs.
Ich sah jetzt Dominic an.
Es wäre schließlich eine wahre Sünde, wenn jemand mit so viel Potential wie du nicht das gesamte Ausmaß seiner Magie erfahren könnte, findest du nicht?
„Meine größte Angst ist es, mein Volk zu enttäuschen und ein schlechter Anführer für Mavar zu sein", gestand er, die Augen auf den Boden gerichtet als würde er sich schämen.
Lüge!, schrie eine Stimme tief in meinem Inneren.
Lüge! Lüge! Lüge!
Was verschwieg er? Wovor hatte er wirklich am meisten Angst?
Wollte er es nur nicht vor allen anderen sagen oder war es etwas so Grausames, dass er es besser nicht zur Sprache brachte?
Ich wusste es nicht, aber wenn Kaya recht behielt, würde ich es herausfinden.
Und zwar eher früher als später.
Ich hieß für einen kurzen Moment die Stille willkommen, die sich im Besprechungsraum ausbreitete.
Nachdem aber geschlagene zwei Minuten lang niemand etwas sagte, räusperte sich Calin schließlich. „Er hat dir also Kaya auf den Hals gehetzt, nur um dich zu warnen? Wieso der Aufwand? Wieso nicht einfach eine Taube schicken?"
„Weil Kaya eine Legende ist. Ihre Macht, sich selbst aus der Existenz heraus zu nehmen ist anders als alles andere auf dieser Welt", antwortete Dominic.
„Sie hat ein gesamtes Königreich vernichtet. Hat es einfach ausgelöscht ohne mit der Wimper zu zucken. Ihr Auftreten verursacht Unruhe und löst eine Angst aus, wie es nicht viele andere Dinge können", ergänzte Cassandra.
„Außerdem ist sie eine Assassinin. Sie könnte es mit Aria aufnehmen, wenn sie wollte", warf Jasmine ein. „Kaya als Trumpf auszuspielen war der perfekte Schachzug."
Ivory hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt. „Tut mir leid, aber da klingelt bei mir nichts. Ich glaube, ich kenne die Legende nicht."
„Du kennst die Legende von Kaya nicht?", fragte Cas ungläubig.
„Bildungslücke!", rief Jasmine.
„Jeder kennt doch die Legende von der Geisterassassinin!", unterstrich Dominic.
Aber Ivory zuckte nur mit den Achseln. „Ich eben nicht. Kann sie vielleicht jemand erzählen?"
„Eine Märchenstunde?", fragte Calin. „Ich bin dabei!"
„Vielleicht ist es echt ganz praktisch, diese Legende einmal genauer zu betrachten. Immerhin kann man besser gegen einen Geist kämpfen, wenn man ihn kennt", stimmte Jasmine zu, aus der jetzt ganz die Strategin sprach.
Spencer seufzte. „Muss das sein? Ich habe ehrlich ziemlich wenig Bock auf Geschichtsunterricht."
Aber Cassandra lächelte nur strahlend und rückte näher an den Eismeister heran. „Ach Spencer, entspann dich doch einfach mal und genieß' die Geschichte! Es wird dir gut tun, eine Weile aus dieser Welt zu verschwinden und in eine andere einzutauchen."
Spencer lächelte nur etwas benebelt.
Hoffentlich wurde er so von ihrer Nähe abgelenkt, dass er ihre Worte nicht einmal gehört hatte.
Ich grinste.
„Also dann", sagte Lyane. „Ich kenne keine bessere Art, Geschichten zu erleben als meine Mentalmagie. Lehnt euch zurück und lasst euch entführen."
Sie erhob sich von ihrem Platz und stellte sich neben mich. „Setz dich ruhig, Aria. Ich übernehme das Erzählen. Du hast heute schon genug erklärt."
Ich nahm zustimmendes Gemurmel von meinen Freunden wahr und ließ mich seufzend in den freien Stuhl neben Dominic gleiten.
„Ist es komisch, dass es mir lieber wäre, wenn du die Legende erzählen würdest?", fragte ich ihn.
Er hatte mir damals bei unserer ersten Begegnung eine Legende erzählt, die mich immer noch begleitete.
Sei bereit zu vergessen, was war, und zu akzeptieren, was kommt.
„Nein", antwortete er leise. „Ganz und gar nicht."
Ich seufzte, konnte aber nichts mehr erwidern, weil Lyane ihre Geschichte begann.
Der rote Ring in ihren braunen Augen begann sich auszubreiten und in ihren Händen entstand eine seltsame Energie, die um ihre Finger zu tanzen schien.
„In einer Zeit, als die Kriege zwischen den Königreichen noch heftiger tobten und die Grenzen ein Gebiet der Zerstörung waren..."
Uns war natürlich klar, dass sie die Zeit vor wenigen Jahren meinte, als Freytor gefallen war und Synth nach dem Herrscherwechsel in der Rangfolge aufgestiegen war.
„... spielt die Geschichte einer jungen Frau, die nichts mehr zu verlieren hat. Die Geschichte von Kaya, einer Assassinin mit besonderer Macht..."
Ihre Worte wurden zu Bildern, die sich vor meinen Augen verbanden und mich mitnahmen, in eine Welt des Krieges und in eine Zeit, zu der ich damals auf den Straßen Akars als Diebin mein Überleben sicherte.
Aber an einen anderen Ort.
An einen Ort, wo eine junge Kaya vor ihrem König mit den schwarzen Haaren und den giftgrünen Augen kniete.
„... Die Geschichte der Geisterassassinin, die ein ganzes Reich dem Untergang weihte und nun hierzulande zu einer Legende aufgestiegen ist..."
Langsam verblassten ihre Worte vollständig und ich wurde in die Welt des Geschehens gesaugt.
„Die Legende von Kaya. Schlächterin eines Königreichs."
---
Der Schein der Fackeln spiegelte sich auf der Krone aus schwarzem, glänzendem Onyx, die wie ein Heiligenschein den Kopf des Mannes umgab, der auf dem dunklen Thron saß.
Die große Flügeltür aus Eichenholz knarrte, als die junge Frau, die zu jener Zeit vielleicht zwischen siebzehn und neunzehn war, den Saal betrat, der ihr Schicksal besiegeln sollte.
Sie wusste nicht, weshalb sie hier war oder was sie machen sollte.
Sie wusste nur, dass der Mann auf dem Thron, der ungefähr in ihrem Alter sein musste, unglaublich schön war und sie vor einem Jahr von den synthischen Straßen geholt hatte, damit sie trainieren konnte.
Er hatte immer gesagt, sie diene einem großen Zweck. Einem Zweck, der größer war als ihr eigenes Leben.
Die dunklen Locken umspielten Kayas junges Gesicht, als sie mit entschlossener Miene auf ihren König zuschritt.
Ihre grauen Augen hatte sie nach vorne gerichtet und betrachtete den Mann vor sich mit einem verführerischen Blick, den sie durch einen leichten Hüftschwung noch verstärkte.
In seinen grünen Augen blitzte kurz eine Emotion auf, die sie nur als Genugtuung und Verlangen beschreiben konnte.
Sie lächelte leicht.
In ihrer Zeit hier hatte sie die Aufmerksamkeit des Königs bereits auf mehr als eine Art und Weise genießen können.
Manchmal fragte sie sich, ob er sie nur in sein Bett ließ, damit sie tat, was er von ihr verlangte.
Sie kam immer zu dem Schluss, dass genau das der Grund für seine Zuneigung ihr gegenüber war, aber es war ihr trotzdem egal.
Sie ließ sich nur darauf ein, weil sie so einen gesicherten Platz am synthischen Königshof hatte.
Wäre er nicht der König, hätte sie ihm sowieso schon längst die leichenblasse Kehle mit einem ihrer Messer durchgeschnitten, wie sie es schon bei so vielen anderen ehemaligen Liebhabern getan hatte.
Seine giftgrünen Augen bohrten sich in ihre eigenen und als sie vor ihm auf die Knie fiel, umspielte ein zufriedenes Lächeln seine Lippen.
Sie bemerkte es natürlich, obwohl sie den Kopf unter seinem stechenden Blick senkte.
Manchmal fragte sie sich, ob der Mann auf dem Thron und der Mann, mit dem sie seit Monaten das Bett teilte, überhaupt derselbe war.
Außer den tiefschwarzen Haaren, den grünen Augen und der blassen Haut sprach nichts dafür.
Die Zärtlichkeit, mit der er sie betrachtete, wenn sie ihre Kampfmontur nicht trug... und auch nichts anderes...
Diese Zärtlichkeit war verschwunden, sobald ihre Messer an ihrem Gürtel glänzten und er die Onyxkrone auf seinem Haupt stolz präsentierte.
Heiß.
Kaya hob ihren Kopf wieder, um seinen Anblick in sich aufzusaugen. Jedes Detail, von der engen schwarzen Jeans, die seine durchtrainierten Beine betonte, zu der hellgrünen Tunika mit den goldenen Verzierungen, die sich über seine Brust spannte und deren oberster Knopf provokativ offen gelassen worden war, bis hin zu dem attraktiven Gesicht.
Ein raubtierhaftes Funkeln schlich sich in ihre Augen, als sie bemerkte, dass er die Beine überschlug.
Um etwas vor ihr zu verbergen, vielleicht?
„Was kann ich für Euch tun, Majestät?", fragte Kaya ihren König, nachdem sie sich vom Boden erhoben hatte.
„Kaya", flüsterte ihr Liebhaber mit vor Verlangen belegter Stimme.
Sie schmunzelte, als sie in einen Knicks sank, bei dem sie ihm einen Blick auf ihren wohlgeformten Ausschnitt gewährte, der jeden anderen Mann zum Sabbern gebracht hätte.
Aber nicht den König von Synth.
„Ich habe eine Aufgabe für dich, meine Liebste."
„Eine Aufgabe?", schnurrte sie ihn an. „Was denn für eine Aufgabe?"
Der König schmunzelte. Ein triumphierender Ausdruck lag in seinen Augen, als er sie von ihrem Dekolleté auf ihr Gesicht richtete. „Du bist die beste Assassinin des ganzen Kontinents", schmeichelte er ihr, wobei er eine seiner Hände zu dem zweiten Knopf seiner Tunika führte und ihn langsam öffnete.
„Ich möchte, dass du etwas sehr, sehr Wichtiges für mich erledigst", murmelte er.
Jetzt löste er die Kreuzung seiner Beine wieder auf und stellte sie stattdessen extra weit voneinander entfernt auf den Boden vor dem Thron, was ihr von ihrem Standpunkt am Fuß der Treppe einen sehr detaillierten Ausblick auf das gab, was nun seine schwarze Jeans spannte.
Kaya lächelte. „Ihr seid ziemlich gut darin, die Wahrheit zu umgehen."
Er lehnte sich nur zurück und sah sie erneut mit ernsten Augen an. „Es geht um den König von Freytor. Ich will, dass du ihn tötest."
Ihr Lächeln verblasste. „Der König von Freytor? Warum? Wie? Wann?"
Er fuhr sich mit einer vernarbten Hand durch das schwarze Haar. „Weil seine Magie der einzige Grund ist, dass Freytor noch nicht unter unserer Belagerung zusammengebrochen ist und ich es leid bin, ewig zu warten. Weil du mit deiner Magie dort eindringen kannst, ohne auch nur den leisesten Verdacht zu erregen. Weil du ein Geist bist, Kaya."
Sie biss die Zähne zusammen.
Also hatte sie recht gehabt und er hatte all die Male nur mit ihr geschlafen, um sie auf seine Seite zu ziehen. Um sie für diese eine Mission zu gewinnen.
Aber das war ihr immer noch egal.
Sie ging eigentlich als Gewinnerin aus diesem Deal hervor.
Sie durfte ihrem Dasein als Assassinin nachgehen und bekam obendrein noch guten Sex als Geschenk.
Sie lächelte wieder. Ein bösartiges, katzenhaftes Lächeln. „Soll ich seinen Kopf oder seine Kronjuwelen auf einem Silbertablett servieren?"
Ihr König schenkte ihr ein noch viel boshafteres Lächeln, als er erwiderte: „Welchen Teil eines Mannes magst du denn lieber?"
Er ließ eine seiner Hände über seinen Oberschenkel gleiten und öffnete langsam den obersten Knopf seiner Jeans, während er sie auffordernd ansah.
Kaya war sich den Blicken der Wachen nur zu bewusst, als sie mit übertriebener Geschmeidigkeit die Stufen zum Thron hinaufstieg und sich ihrem Befehlshaber gefährlich näherte.
„Willst du es herausfinden?", raunte sie ihm zu, als sie eine Hand an den Verschluss der engen Jeans legte, und begann, sie aufzuknöpfen.
Er trug keine Unterwäsche.
Natürlich nicht.
Er war ja auch ein Arschloch, das sie hiermit nur auf ihre Seite ziehen wollte.
Sie nahm sich vor, heute so gut zu sein, dass er seine Motive für ihre heißen Nächte änderte, sobald sie ihre Aufgabe erfüllt hatte.
Sie ließ die gebräunte Hand unter seine Hose gleiten, was ihm ein befriedigtes Zischen entlockte.
Kaya nahm nur noch aus den Augenwinkeln wahr, dass die Wachen sich eiligst aus dem Staub machten, sobald sie sahen, was hier gleich geschehen würde.
Schade, eigentlich.
Sie würden den ganzen Spaß verpassen.
Mit einem weiteren bösartigen Lächeln ging Kaya erneut vor ihrem König auf die Knie.
---
Der Schein der Fackeln spiegelte sich auf der Krone aus funkelndem Gold, die wie ein Heiligenschein den Kopf des Mannes umgab, der auf dem Thron aus Kupfer saß.
Die große Flügeltür aus Fichtenholz knarrte, als der junge Mann, der zu jener Zeit vielleicht zwischen dreißig und vierzig war, den Saal betrat, der sein Schicksal besiegeln sollte.
Mit erhobenem Kopf schritt der Kommandant der Armee auf den König von Freytor zu, dessen blondes Haar auf seine Schultern fielen. Die blauen Augen des Herrschers waren warm und einladend, was den Soldat jedes Mal wieder staunen ließ.
Er sank auf die Knie, um seinen Respekt in einer angemessenen Geste auszudrücken, die derjenigen so ähnlich war, die eine Assassinin wenige Stunden zuvor vor ihrem König ausgeführt hatte, und doch so anders.
Der Kommandant und sein König pflegten ein gutes Verhältnis miteinander, das in keinster Weise dem ähnelte, das die Assassinin zu ihrem König hatte.
Der Kommandant wusste nicht, dass es das letzte Mal war, dass er diesen Saal betreten hatte. Ebenso wie er keine Ahnung hatte, was er seinem König berichten sollte.
Die Grenze war ein Schlachtfeld. Ein Friedhof.
Die Schutzschilde würden nicht mehr lange standhalten und die Krieger waren erschöpft oder verletzt oder tot.
Der Kommandant wusste, dass Freytor nur noch an der Macht seines Königs hing.
Er wollte sich gar nicht ausmalen, was die Synther mit ihnen anstellen würden, wenn er nur nicht mehr da war.
Angst schnürte ihm die Brust zu, als er sich erhob und Bericht erstattete, wie es sein König von ihm verlangte.
„Serka ist gefallen, alle Soldaten tot, alle Bewohner verschleppt", erzählte er. „Mernum. Die ganze Stadt bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Estribor. Keine Überlebenden. Killene. Weiterhin Belagerung, doch der Widerstand droht zu brechen. Gemeldete Bombenanschläge auf Loriane und Ascel. Aufrüstung vor Korynn und Aphandis, Chancen gehen gegen Null."
Und so ging es weiter. Über zwanzig Dörfer und drei Großstädte waren im letzten Monat an die Synther gefallen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Mauern brachen und sie kapitulieren mussten.
Der König hörte aufmerksam zu. Mit jedem Wort schien die Last, die auf seinen Schultern lag, sich zu verdoppeln, verdreifachen bis ins Unendliche.
Seine blauen Augen glitzerten im Fackelschein.
Darin stand nichts als Trauer, Wut und Hoffnungslosigkeit, die den Kommandanten in seinem Herzen berührten.
Er wollte etwas für seinen König machen, wollte ihn zum Lachen bringen und ihm diese unendliche Last abnehmen, sei es nur, um ihn schmunzeln zu sehen.
Aber er wusste nicht wie.
Freytor würde fallen und Synth würde aufsteigen.
Es war nur noch eine Frage der Zeit.
Er spürte einen leichten Luftzug an seiner Wange und runzelte die Stirn.
Alle Türen und Fenster im Saal waren geschlossen und in Fyndyn wehten eigentlich sowieso keine Winde, weil die Hauptstadt von Bergen umgeben war, die sie wie ein Schutzschild vom Rest der Welt trennten.
Er fasste sich an die Stelle, an der er den Wind wie eine Berührung gespürt hatte, und fühlte warmes Blut aus einem Schnitt an seiner Wange rinnen.
Ein leises Lachen hallte in seinen Ohren wider, doch der König schien es nicht zu hören.
„Was haben Sie sich denn da für einen Schnitt zugezogen, Kommandant?", fragte er mit seiner ruhigen Stimme.
Der Soldat wollte gerade antworten, als er ein graues Paar Augen neben seinem König erblickte, die zu einem fast unsichtbaren Gesicht gehörten.
Dann grinsende Zähne.
Er sah wie hypnotisiert auf die Frau, die hinter seinem König erschienen war.
Eine seltsame Aura, eine seltsame Magie umfing sie.
Er war sich sicher, dass sie ein Geist war.
„Was starren Sie denn so an?", fragte der König.
Der Kommandant zeigte mit dem Finger auf die Geisterfrau, die nun fast vollständig aus dem Flimmern entstanden war.
Der König drehte den Kopf.
Der Kommandant sah das Messer erst, als das Blut floss.
Die Killerin lächelte ihn an, als der König tot zusammensackte.
„Du hast mir Arbeit erspart", meinte sie.
Ihre Stimme klang wie die einer Frau, die ihn in ihr Bett bekommen wollte.
Oder aber in sein Totenbett.
„Du hast zwei Minuten, um – ohne irgendjemandem auch nur ein einziges Wort zu sagen – den Palast zu verlassen. Vertrau mir. Wenn du nur den Mund aufmachst, finde ich dich und deine Familie und schlachte sie alle vor deinen Augen ab."
Das ließ sich der Kommandant nicht zweimal sagen.
Er drehte auf dem Absatz um und stürmte aus dem Thronsaal.
Und dann rannte er.
Er rannte und rannte und rannte und rannte und rannte, bis der brennende Palast, in dem die Leiche des Königs lag, den er geliebt hatte wie einen Vater, nur noch ein flackerndes Licht in der Ferne war...
---
Langsam kehrte ich in die Wirklichkeit zurück.
Ich erkannte die Konturen des Besprechungsraums, in dem ich immer noch saß und spürte Dominics Wärme neben mir.
Irgendwann während der Geschichte war der König wohl näher an mich heran gerutscht.
Ich fragte mich, ob es die Stelle gewesen war, als die Assassinin und ihr König auf dem Thron miteinander geschlafen hatten.
Bei diesem Gedanken verdrehte ich die Augen. Natürlich, was sonst.
Lyanes Augen nahmen wieder ihre Braunfärbung an und die Energie, die immer noch um ihre Finger tanzte, wurde langsam weniger, als wir alle aus ihrer Vision aufwachten.
Lyane McCourtney war die beste Geschichtenerzählerin der Welt.
„Schließlich, als der Kommandant seine Familie erreicht hatte und mit ihnen nach Vinder geflohen war, verbreitete er die Geschichte von einer Geisterassassinin, die der Untergang eines ganzen Königreichs gewesen war", beendete Lyane ihre Erzählung. „Die Legende von Kaya. Schlächterin eines Königreichs."
„Wow", flüsterte Cassandra.
„Ich wusste gar nicht, dass Kaya irgendwelche Überlebenden im Palast zurückgelassen hat", murmelte Calin.
„Wer hätte denn dann die Legende verbreitet, Schlaumeier?", fragte ich quer durch den Raum, was ihn lächeln ließ und eine verräterische Röte in seine Wangen trieb.
Ich grinste zurück, doch dieses Grinsen verblasste schlagartig, als Dominic neben mir sein Gewicht verlagerte.
„Sie ist eine gute Assassinin", gestand Jasmine. „Vielleicht sogar besser als ich, mit ihrer Macht der Geister oder wie auch immer man es nennt."
Jasmine konnte sich ebenfalls aus der Existenz heraus nehmen, wenn man so sagen wollte. Aber sie war dann ein lebender Schatten, während Kaya einfach vollständig verschwand.
„Ich frage mich, ob sie noch andere Dinge mit ihrer Macht anstellen kann", warf Dominic ein, dessen Wärme mir immer noch viel zu bewusst war.
„Ich frage mich auch etwas", gestand Calin.
Er sah mich an.
Und ich wusste noch bevor er es aussprach, was er wissen wollte.
Was sie alle wissen wollten, das ich ihnen von Anfang an verschwiegen hatte.
„Du bist ziemlich gut darin, seinen Namen zu umgehen, weißt du? Aber wir alle wissen, dass du ihn genau kennst. Und deine Angst vor diesem Namen, deine Angst vor seinem Namen ist Beweis genug dafür, dass du nicht darüber sprechen willst", sagte er.
Ich wappnete mich.
„Aber vielleicht hilft es dir, wenn du es einmal aussprichst. Wenn du diesen Teil deiner Angst besiegst."
Ich nickte kurz. Abgehakt.
"Wer ist unser Feind, Aria? Wie heißt er?", fragte Calin
Ich atmete einmal tief durch, ehe ich den Mund aufmachte, um ihm zu antworten.
Ein Wort.
Es war nur ein Wort, das ich sagen musste und doch so viel mehr.
Ein Albtraum, den ich jede Nacht träumte.
Eine Erinnerung an etwas, das ich am liebsten vergessen hätte.
Ein Fluch, der seit so vielen Jahren auf mir lastete.
Ich flüsterte so leise, dass die anderen Mühe hatten, mich zu hören.
Aber jeder verstand es.
Dieses eine Wort. Diesen einen Namen.
Diesen Albtraum, diese Erinnerung, diesen Fluch.
„Ryn", sagte ich. "Sein Name ist Ryn."
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