Kapitel 62

Taehyung

Ich kehre dem Jungen den Rücken zu, dabei ein verschmitztes Lächeln tragend und einen Frieden in meinem Inneren spürend, wie schon seit langem nicht mehr.
Trotz der vergangenen Ereignisse, die weitere tiefe Wunden auf Jungkooks Seele hinterlassen haben müssen, sind noch immer Funken seines alten Selbst existent.

Von unmenschlichen Sorgen geplagt, habe ich vor sieben Tagen den Dienst auf der in Verruf geratenen Station angetreten. Zu Beginn ist es mir nicht wirklich möglich gewesen Jungkook auch nur ansatzweise zu Gesicht zu bekommen. Er spukte als Gespenst aus Worten durch die Flure. Die Pfleger sind sich einig gewesen, denn
unberechenbar solle er sein; gerissen; impulsiv.

Er hat es ihnen nicht einfach gemacht.

Ich empfinde ein wenig Stolz beim Gedanken an seine ungestüme Art.
Wie sehr ich ihn einfach in den Arm nehmen möchte, um mich für alles, was ich getan habe, zu entschuldigen. Ich sehne mich nach seiner Nähe; seiner sanften Stimme, wenn ihn etwas beschäftigt; seine neugierigen Blicke, wenn ich für ihn etwas zu Essen zaubern durfte.

Namjoon allerdings hat darauf beharrt, dass ich auf der Hut bleiben und mich von dem Jüngeren zuerst fern halten muss. Aber die Sorge und Sehnsucht nach ihm ist von Beginn an als Schatten meiner Selbst nicht von meiner Seite gewichen.

„Ich bin gleich zurück", berichte ich meinen Kollegen im Vorbeigehen, worauf ich anschließend das Treppenhaus am Ende des Flures im zweiten Stock erreiche. Meine Schritte hallen die kahlen Fliesenwände entlang, als wären sie mein Echo in einer Schlucht.

Station drei Gebäudetrakt besteht aus einem dreistöckigen Konstrukt von 20 Zimmern der Patienten, mehreren Sprechzimmern, einer kleinen Cafeteria, dem Ärztezimmer, wie zwei Aufenthaltsräumen und einer Besenkammer.
Um auf Nummer sicher zu gehen, habe ich mir von Schwester Ni, meine Vorgesetzte, jede auch noch so kleine Nische zeigen lassen.
Von Yoongi und Jimin weiß ich bereits, dass sich Jungkooks Zimmer 309 im dritten Stock befindet.
Im Falle des Falles, würde ich also einen Weg hier herausfinden, mit Jungkook zusammen natürlich.

Es kann nicht vorsichtig und vorbereitet genug sein, um die Sicherheit des Jüngsten zu gewährleisten.

Die zuständige Pflegerin Ni, die mich in die Arbeiten mit Patienten auf der neue. Station eingearbeitet hat, hat mir anfangs an den Versen gehaftet, wie ein lästiger Kaugummi. Beendete ich eine Aufgabe, lud die etwa Dreißigjährige mir geradewegs eine Neue auf.

Namsung war da völlig anders.

Ich renne seit her viel von einem Notfall zum anderen - haben sich diese Notfälle allerdings stets als verängstigte Patienten herausgestellt, deren Medikamente an Wirkung verloren haben.

Nicht eine Person auf Station drei weist bislang Auffälligkeiten auf, sodass besonders geschultes Personal benötigt werden würde.

Sie alle sind... leer.

Hohle Blicke treffe ich hier an, als wäre es das normalste auf Erden. Bis auf das muntere Unterhalten des Personals in den Pausen herrscht auf Station drei eine bedrückende Stille.

„Hr. Myung, haben Sie einen Moment?"

Kurz bevor ich das Pflegerzimmer, unseren Pausenraum, erreichen kann, um mein Handy für ein wichtiges Telefonat zu greifen, hält mich eine ältere Dame auf. Ich wende mich ihr zu.
Fr. Ni befindet sich in strenger Haltung hinter mir.

„Guten Tag, Fr. Ni. Wie kann ich Ihnen helfen?", entgegne ich und ziehe die Kappe von meinem Kopf.

„Ich möchte mich im Namen der Stationsleiterin bei Ihnen bedanken, da es ihnen gerade möglich gewesen ist, den Patienten Jeon Jungkook unter Kontrolle zu bringen. Fr. Jung hat ihren Einsatz mit beobachtet, aber sie musste zügig weiter."

Ich nicke, freundlich lächelnd, doch bildet sich eine gewisse Skepsis in meinem Inneren. Diese Stationsleiterin ist wie Jungkook Geist aus Worten, der jedoch Augen und Ohren überall zugleich hat.

„D-das ist nicht der Rede wert. Verängstigten Patienten einen Weg zurück auf einen klaren Blick zu ermöglichen, ist meine Arbeit und diese tue ich gerne und mit Leidenschaft."

Würde meine Schwester mich jetzt hören...

„Das sehen wir als Team aber keinesfalls als: nicht der Rede wert. Es sind viele vor Ihnen an dem Patienten Jeon gescheitert. Sie sind der Erste, auf den er zu hören scheint."

Ihre Worte werden mir immer suspekter. Jungkook hat keinesfalls auf mich gehört.

Er ist doch kein Hund.

„Wenn das so ist", spüre ich meine Chance „Wäre es vielleicht möglich, mich in Zukunft näher mit ihm zu befassen? Um ihm zu helfen, versteht sich."

Ein Versuch ist die Frage wert.

„Das ist leider nicht möglich. Auf Wunsch der Angehörigen des Patienten ist es dem Personal strikt verboten sich Hr. Jeon anzunähern. Wir haben einen Plan entwickelt, indem wir alle abwechselnd bei der Arbeit mit ihm rotieren. Das heißt, dass alle zwei bis drei Tage ein anderer Angestellter sich um ihn kümmert."

Verstehend nicke ich. Ein bitterer Geschmack liegt in meinen Mund. Jungkooks Vater hat im Voraus bereits an alles gedacht.

„Das ist bedauerlich", entgegne ich, doch kommt mir anschließend ein kleiner Einfall „Darf ich Ihnen aber etwas ans Herz legen, dem Personal hier allgemein?"

Fr. Ni nickt, die Brauen hebend.

„Hr. Jeon wirkt, als würde ihm seine Umgebung stark zu schaffen machen. Vielleicht hilft es ihm in Zukunft seine Speisen in seinem Zimmer einzunehmen. An einem Ort, an dem Ruhe herrscht. Gibt es Angehörige in seinem Umfeld, die womöglich mit ihm essen können? Ihm einfach Gesellschaft dabei leisten?"

Meine Aussage bringt die Frau ins Grübeln. Sie legt ihre Hand an die Hüfte und beginnt zu grübeln.

„Das müsste möglich sein. Der Patient hat zwei sehr engagierte und äußert hinreißende Cousins, die ihn regelmäßig besuchen kommen."

Ich schenke ihr ein Lächeln, dabei denke ich an Yoongi und Jimin, die als einzige in der Vergangenheit an Jungkook herangekommen sind. Ihre Berichte über seinen Zustand lassen mich bis jetzt schwindelig werden.

Aber jetzt wird alles besser. Das muss es einfach.

~•~

„Ja?", ertönt Yoongis raue Stimme auf der anderen Seite der Leitung.

Voller Vorfreude sortiere ich erst einmal alle Worte in meinem Kopf, wie auch die Eindrücke dieses Tages, bis ich dem Älteren die gute Nachricht überbringen kann.

„Atmest du mir jetzt weiter in den Hörer, oder wird das noch was mit deiner Antwort?", gibt der Ältere leicht genervt von sich, als ich es nicht schaffen die Worte aus meinem Mund zu bringen.

Es gibt so vieles zu sagen, so vieles zu erklären. Ich weiß gar nicht-

„Es kann losgehen."

~•~

Mit einem Wischmopp bewaffnet, streune ich den Flur vor Jungkooks Zimmer entlang.
Der Beruf eines Pflegers ist vielfältig.
Und die Bankbreite eines Neulings ist noch vielfältiger.
Schwester Ni ist es gewesen, die mich damit beauftragt hat, die Böden im dritten Stock zu wischen, da ein Patient heute Morgen den Speisewagen gekapert und dementsprechend das Frühstück und vor allem die zuvor noch trinkbaren Getränke auf dem gesamten Boden verteilt hat.

Ein beiläufiger Blick auf die Uhr verrät mir, dass sich die Zeit des Mittagessens, in der Jungkook seine Medikamente verabreicht bekommt, nähert.
Jimin müsste bald eintreffen.
Yoongi und ich habe alles besprochen und der Rest unserer Gruppe ist eingeweiht.

Das Spiel kann beginnen.

Nach meinem gutgemeinten Ratschlag, Jungkook einzig in Anwesenheit seiner Angehörigen auf seinem Zimmer mit Nahrung und den dazugehörigen Medikamenten zu versorgen, ist genau das eingetreten. Jetzt ist es uns endlich möglich, diese Pillen ordnungsgemäß zu entsorgen. Jungkooks Vater spürt nicht den leisesten Verdacht.
Für ihn spielen sein Neffe wie Yoongi immer noch auf seiner Seite.

„Morgen."

Jimins Stimme klingt kühl, als er an mir vorbei schreitet. Sofort hebe ich meinen Blick und unsere Augen treffen sich. Besorgt schaut er aus, vielleicht auch etwas nervös. Zuversichtlich nicke ich und deute auf die Tür 309. Ein Lächeln meinerseits folgt.

Es wird alles gut.

Kaum ist Jimin hinter der hölzernen Tür verschwunden, lasse ich von meiner Arbeit mit dem Wischmopp ab und nähere mich ebenfalls dem Zimmer. Wie zuvor vereinbart, hat Jimin die Tür einen Spalt breit offen gelassen.

Dunkel ist der Raum.

„Ich öffne die Rollos, in Ordnung? Anders kann ich dich nicht sehen, Koo."

Rascheln einer Bettdecke ist zu hören.

„Verdecke bitte deine Augen, mein Hase."

Langsam strömt das warme Licht der Vormittagssonne in den Raum. Von Jungkook ist ein kaum hörbares Grummeln zu vernehmen.

„Es gibt bald zu Mittag. Yoon war so nett, dir eine Kleinigkeit zusätzlich zu kochen. Wenn du magst, kannst du die Dumplings gleich essen."

Wieder ist ein Grummeln zu hören.
Jimin seufzt und das Rascheln von Bettdecken nimmt den Raum ein.

„Na los, mach Platz", kichert der Ältere. Ein leiser Kuss ist zu hören.

„Wie hast du geschlafen? Hast du noch immer diese Albträume?"

Jungkooks Antwort bleibt aus. Vielleicht hat er auf Jimins Worte mit dem Kopf genickt?

„Hast du gefrühstückt? Nein? Oke... Wie fühlst du dich?"

Eine Bedrücktheit macht sich in Jimins Stimme breit. Ich weiß ganz genau, worauf er anspielt.

„Ich bin müde, Jimin... So müde", antwortet nun endlich der Jüngere. Und wäre ich eine Katze wie Titus, würden sich in diesem Moment meine Ohren aufstellen.

„Es wird jetzt besser, mein Hase. Ich verspreche es. In einer der Dose von Yoongi ist zusätzlich ein kleines Küchlein, darin liegen zwei Tabletten für dich. Nimm sie bitte zu dir. Auch wenn sich alles in die sträubt. Tu es für uns, oke?"

Ich kann mir den abwesenden Blick des Jüngeren bildlich vorstellen. Es ist nicht nötig, auf der anderen Seite der Tür zu sein, um von der Schwere der Luft beeinflusst zu werden.

„Wir haben nicht mehr viel Zeit, Koo. Kurz nachdem sie dir dein Mittagessen bringen, muss ich wieder gehen. Gibt es etwas, das du tun oder sagen möchtest?", fragt Jimin, die Stimme beeinflusst von der Traurigkeit, die Jungkook umgibt.

„Du möchtest einfach hier sitzen? Ich halte dich fest, ich bin bei dir."

Ich atme aus, der Druck auf meiner Brust bringt so langsam die Knochen darunter zum Bersten. Die Augen schließend, lehne ich den Kopf an den Türrahmen und lausche Jimins Worten. Er versucht den Jüngsten aufzuheitern. Alte Geschichten tanzen durch den Raum; Erinnerungen. Im Inneren, tief unten, ist schließlich noch dieser lebensfrohe Jungkook am Leben.

„Was tun Sie da?"

Wie vom Blitz getroffen, drehe ich mich um. Auf zwei verwunderte Augen treffe ich. Eine weiße Schürze tragend, steht eine junge Frau des Personals zu meinem Rücken. Etwas weiter befindet sich der Speisewagen. Ist es denn wirklich schon so spät?

„D-Der Besucher hatte eine Frage. Ich wollte gerade gehen", erkläre ich mein Lauschen an der Tür. Diese Ausrede scheint die Frau jedoch kaum zu überzeugen. Kopfschüttelnd, tritt sie zurück an den Wagen und nimmt das beladene Tablett für Jungkook an sich.

„Was stehen Sie dann noch hier rum? Haben Sie keine Arbeit?"

Hektisch nicke ich mit dem Kopf. Um ehrlich zu sein habe ich mehr Arbeit für diesen Tag, als ich die gesamte Woche über stemmen kann, doch bin ich für hier und nicht für andere Patienten, was keine wissen darf.

„Doch, doch! Mehr als genug. Entschuldigen Sie", gebe ich unverzüglich nach und trabe davon. Der in Skepsis gebadete Blick der Älteren folgt mir dabei.

~•~

„Was meinst du damit: Er hat nichts gegessen?"

Jimins Aussage verwirrt mich. Es ist abends und die Sonne ist gerade dabei unterzugehen, als mich das Klingeln meines Handys zu einer kleinen Raucherpause nach draußen getrieben hat. Nachteil des Ganzen ist: Ich rauche nicht, stehe ich aber dennoch augenblicklich in der Kälte.
Kleine Wölkchen erscheinen vor meinen Lippen, als mich der Frost umarmt.

„Was es aussagt, soll es heißen! Er hat nichts gegessen, Mensch!"

Jimins erzürnte Stimme ist durchzogen von einem Beben. Ich kann seine Angst um Jungkook beinahe auf meinem Trommelfell kratzen hören.

„Die Tabletten von Yoongi also auch nicht...", schlussfolgere ich seufzend.

„Nein, wenigstens habe ich diesen anderen Dreck endlich mit nehmen können. Joon ist schon dabei nachzuforschen, worum es sich bei diesem Mittel handelt", erklärt Jimin und die starken Emotionen in seinen Worten ebben ab.

„Wenigstens etwas", seufze ich und fahre mir mit der freien Hand durch das Gesicht „Aber was tun wir jetzt? Er kann nicht noch weiter das Essen verweigern. Er..." Ich wage es nicht, diesen Gedanken auszusprechen. Mein Schweigen ist für Jimin Antwort genug.

„Was ist, wenn du etwas schnell zubereitest, was er von früher kennt?"

Überrascht bleibt es einen Augenblick still zwischen uns. Diese Idee ist gar nicht mal schlecht. Aber woher soll ich dir Lebensmittel finden, um zügig etwas zu kochen?

„Jimin, wie schnell kannst du jemanden herschicken, der mir etwas vorbeibringen kann. Deine Idee könnte nämlich funktionieren."

Es sind nicht viele Dinge, die ich benötige, um für Jungkook etwas zuzuschreiben. Zuversichtlich sage ich dem Älteren alles auf, was ich benötige.

„Yoongi ist auf dem Weg. Komm' in einer Stunde an den Zaum am Wald. Schau, dass dich niemand zu Gesicht bekommt, wenn du nachts durch den Park streunst", ermahnt er mich. Kurz darauf legt es auf.

Niemand wird mich zu Gesicht bekommen. Ich werde der Schatten, welcher Jungkook so lange bereits quält, doch diesmal spielt er auf seiner Seite; dafür sorge ich.

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