Kapitel 53
⚠️Trigger warning ⚠️
Yoongi
Regen strömt unaufhörlich vom Himmel herab und ertränkt die Stadt vor meinen Augen. Es ist früh am Morgen und wieder sitze ich, gehüllt in Schweigen, vor dem bodenlangen Fensterglas in meiner Wohnung dicht unter den Wolken von Seoul. In meiner Hand halte ich einen Bilderrahmen. Das Bild darin wird bald 20 Jahre alt werden. Missmutig mustere ich die Fotografie, die einen zweijährigen Jungkook, einen vierjährigen Jimin und mein fünfjähriges Ich zeigen. Zu dritt sitzen wir auf dem Rücken eines kleinen gescheckten Ponys, das seitlich zur Kamera positioniert ist.
Zu unserer Rechten befindet sich mein Vater, der im Gegensatz zu seinem besten Freund wenigstens ab und an etwas Zeit für seine Familie gefunden hat; zu unserer Linken befindet sich Jungkooks Mutter, die einen gebürtigen Abstand zu dem Tier hält. Sie kann den Geruch der Tiere noch nie ausstehen.
Mein Daumen streicht über das fröhlich grinsende Gesicht des kleinen Jungkooks, den ich in meinen Arm halte, damit er nicht von dem Pony stürzt. Sein dunkles Haar liegt ordentlich, während meine Frisur ziemlich zerzaust ist. Ein Lächeln huscht über meine Lippen.
Ich erinnere mich noch recht gut an diesen Tag, trotz der Tatsache, dass fast 20 Jahre und viele Unannehmlichkeiten zwischen dieser Kindheit und diesem kargen Erwachsenendasein liegen. Es kommt mir manchmal vor wie gestern, dass meine Mutter den neuen Fotoapparat meines Vaters hervorholt, um uns Kinder zu fotografieren.
Der Gedanke an meine Mutter lässt mich den Bilderrahmen bei Seite legen. So vieles ist in der vergangenen Zeit zu Bruch gegangen. Es soll wenigstens die letzte schöne Erinnerung heil bleiben.
„Was hätte ich denn anderes tun sollen?", erklingen ihre Worte in meinen Gedanken, als sie mir nach Tagen der Ungewissheit endlich gestanden hat, dass durch sie Jungkooks Vater von Taehyungs und seiner... Beziehung erfahren hat. Durch die letzten Jahre und Ereignisse habe ich mich zwar ohnehin schon von meiner Mutter distanziert, doch möchte ich ihr deswegen nie mehr in die Augen schauen.
Jungkook ist verloren und das ihretwegen.
Als ich davon erfahren habe, dass Jungkooks Vater ihn ohne Umwege einweisen wird, ist für mich die einzige Welt zusammengebrochen — all die vergangenen Bemühungen; um sonst.
Das, wovor ich mich seit dem Tag des Unfalls gefürchtet habe, ist eingetroffen. Aufgrund meines Fehlers wird Jungkook nie mehr glücklich werden. Ich bin der Grund, weshalb dieses Chaos erst begonnen hat. Könnte ich die Zeit bloß zurückstellen. Ich wäre mit ihm gegangen, hätte ihn beschützt, was diesmal nicht nur ein leeres Versprechen gewesen wäre.
Mein schlechtes Gewissen hat mich dazu gedrängt über den nun kranken Jungen zu wachen, als der Beschützer an seiner Seite. Es mag meinem Vater zwar missfallen sein, dass ich für Jungkook jede freie Minute gegeben habe, aber hat diese Tatsache mein Gewissen bereinigt. Anders hätte ich mir nicht einmal mehr in die Augen schauen können.
Diskussion um Diskussion habe ich mit meinem Vater geführt, ihm jedes Prüfungsergebnis vorenthalten, um für Jungkook weiter da zu sein, selbst als Taehyung eingestellt wurde, nach Druck meines Vaters, um mich zu entlasten.
Was haben all die Mühe im Endeffekt gebracht?
Ich konnte mein Studium nicht retten, mein Vater... Ist tot, und Jungkook?
„Ich habe dich verloren."
Auf müden Knochen stehe ich nun vor der Tür meiner Terrasse und schaue in den Regen. Mein Körper fühlt sich an, wie von einer schweren Decke umhüllt. Sie hält mich nicht warm, sie erdrückt mich beinahe.
Ich drücke die Türklinke nach unten und trete in den Regen. Wind pfeift um mich, als wolle er mich vor etwas warnen. Unbeirrt trete ich die drei Stufen herab, die zum unteren Plato der Terrasse führen. Neben einem großen Glastisch und acht Stühlen findet sich auch eine schwarze Sonnenliege. Im Sommer, wenn die Sonne noch lange aufbleibt, habe ich dort oft gelegen und gelesen, um zur Ruhe zu kommen. Das war alles vor dem Unfall.
Die Steinplatten sind allesamt von einer dünnen Schicht Wasser bedeckt. Meine Schritte klingen wie ein Patschen.
Als ich das gläserne Geländer erreiche, blicke ich auf das Treiben der Stadt zu meinen Füßen. Menschen tummeln umher und versuchen sich vor dem Regen zu schützen. Ein Schirm nach dem anderen wird aufgespannt.
Das Metall der Reling ist bitterkalt, doch umschließe ich es fest, sodass meine Fingerknöchel ihre Farbe verlieren. Mit geschlossenen Augen blicke ich in den Himmel und die dicken Tropfen des Schauers treffen auf mein Gesicht. Ich bin durchnässt und mein Körper beginnt vor Kälte langsam zu frieren.
So muss es Jungkook ergangen sein, als er im Dunkeln der Nacht verletzt an diesem See ausharren musste. Er muss gefroren haben, er muss Schmerzen gehabt haben, er muss solche Angst gehabt haben, bevor ihn die Ohnmacht in die Tiefe zog.
Ein Schluchzen entkommt mir. Die Last der Schuld erschlägt mich beinahe. Durch Wiedergutmachung habe ich mir erhofft, mich davon zu befreien. Mir hätte gleich bewusst sein sollen, dass es für mein Versagen keine Gnade geben wird.
Ich schwinge das Bein über das in Metall gefasste Glasgeländer und halte mich anschließend nur noch mit beiden Händen an das zurück, was ich Jungkook genommen habe: das Leben. Tief atme ich ein und zittere. Ich wusste, dass ich. Angst haben werden. Doch das hatte Jungkook auch.
Ein letztes Mal rufe ich mir die Gesichter der Personen ins Gedächtnis, die ich liebe.
Jimin, sein unermüdlicher Wille.
Hobi, sein unbezahlbares Herz.
Jin, seine unvergleichbare Güte.
Miga, meine kleine Blume.
Namjoon...
Und Jungkook, mein Jungkook.
Weinend lasse ich den Kopf hängen und streiche die Erinnerungen aus meinem Verstand. Ich weiß, dass es weh tun wird, aber das hat es zuvor auch. Alles tut weh und das schon so lange.
Entschlossen richte ich mich wieder auf, den Griff lockernd.
Es ist besser so
...
...
...
...
...
„Willst du das wirklich?"
Mein Körper erstarrt, als ich die so vertraute Stimme erkenne. Sie klingt völlig gefasst. Was anderes hätte ich nicht erwartet.
„Willst du sie wirklich gewinnen lassen?"
Die nassen Strähnen hängen mir im Gesicht und der Regen nimmt immer mehr zu. Es ist so bitterkalt.
Wissend schüttele ich den Kopf.
„Warum stehst du dann hier, Yoon?"
Ein Lachen.
Er von allen sollte am ehesten wissen, weshalb ich nun hier stehe. Er, neben Jungkook und Jimin, kennt mich am besten. Zumindest habe ich das gedacht. Vielleicht habe ich mich aber auch wieder einmal geirrt — wäre bei ihm nicht das erste Mal.
„Das Gleiche könnte ich dich fragen, Joon."
Er seufzt. Schritte kommen auf mich zu. Meine Finger krallen sich förmlich an das Metall. Ich werde mich von meinem Vorhaben nicht abbringen lassen. Mein Entschluss steht schon lange fest. Und diesmal bin ich nicht zu feige.
„Ich bin hier, weil ich für dich da sein möchte. Jin hat auch mir alles gesagt."
Die Schritte verstummen, doch klingt seine Stimme so nahe wie seit langem nicht mehr.
„In dieser Zeit brauchen wir uns gegenseitig mehr, als je zuvor."
Enttäuscht über seine Worte bildet sich ein bitteres Lächeln auf meinen Lippen. Seine Worte könnten einem billigen Taschenroman aus einem Kiosk entstammen.
„Und neben Koo brauchst du jetzt die meiste Hilfe", spricht er, was eine Riesenwut in mir auslöst.
„Woher willst du das wissen?! Der einzige, der euch gebraucht hat, ist Jungkook. Doch sieh, wo er nun ist", keife ich wütend, der Schmerz der vergangenen Tage in meinen Adern kochend.
„Dann lass' ihn nicht im Stich, Yoon. Er braucht dich. Wir brauchen dich. Ich brauche —"
„Hör auf. Jetzt ist es zu spät."
Die Tränen beginnen wieder zu laufen, als ich Namjoons Intentionen hinter seinen Worten erkenne.
„Weißt du, was das Schlimme an diesem Schleier ist, der dich von morgens bis abends umgibt?", spricht er, die Worte von Traurigkeit durchzogen.
„Du kannst erahnen, wo das Licht ist, doch ist der Weg für dich allein einfach zu weit."
Ich spüre seinen heißen Atem an meinem Hals, sodass sich eine Gänsehaut auf meiner eiskalten Haut bildet. Seine Hände legen sich auf die meinen, mit denen ich mich festkralle. Er hält mich fest.
„Es ist nur ein weiterer Schritt", schluchze ich leise. Der Wind heult förmlich mit mir.
„Lass dich von jemanden zurückleiten, dich stützten."
Er schmiegt sich an mich und küsst mich zärtlich auf den Hals. Seine Wärme umschließt mich wie ein Mantel, doch nicht wie der, dessen Masse mich erdrückt. Namjoons Nähe lässt mich beinahe schwerelos fühlen.
Ich lasse mich von ihm zurück auf die sichere Seite ziehe, das schlechte Gewissen aufgrund meines Vorhabens währenddessen über mich hereinbrechend. Es lassen in dem Moment auch Namjoons Kräfte nach und erschöpft sackt er mit mir auf die Knie. Von seiner vorherigen Kraft, um mich zu überzeugen, ist vieles aufgebraucht worden. Er hat er die Arme um meine Taille geschlungen. Sein Herz rast. Den Kopf in meiner Halsbeuge vergraben, versucht er sich zu beruhigen. Schweigen hüllt sich um mich.
„Tu das nie wieder."
Seine Worte sind nicht mehr als ein schmerzlicher Laut. Mein Gewissen bricht.
„Ich liebe dich, Namjoon."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top