Taehyung
Der Ausdruck des Jüngeren ist mir das reinste Rätsel. Leere Augen, Lippen zu einem geraden Strich geformt und auf der Stirn zeigt sich nicht eine Falte. Unsere Hände sind noch immer durch den dünnen Maschenzaun miteinander verbunden. Nachdenklich senkt Jungkook auf einmal sein Haupt. Sein Griff wird lockerer.
„I-Ich habe erst später durch meine Mutter erfahren, dass man dich - Gott sei Dank - gefunden hat. I-ich hätte mir nie verzeihen können", werde ich gegen Ende immer leiser, bis mir schlussendlich ganz die Stimme versagt, als mir bewusst wird, was beinahe passiert wäre.
„I-ich dachte, du wärst tot", gestehe ich und ein Schluchzen kommt über meine Lippen. Die Erinnerung tut weh, doch mag ich mir nicht ausmalen, was mein Gegenüber in diesem Augenblick fühlen muss.
Er hüllt sich jedoch weiter in Schweigen und hält den Kopf durchweg geduckt.
Die Stille nicht mehr ertragend, spreche ich einfach weiter; über die Tatsache, dass ich vor diesem verdammten Unfall ein verzogener, egoistischer und dummer Junge war, doch, dass er, Jungkook, mir in der vergangenen Zeit, unserer vergangenen Zeit, mich zu einem besseren Menschen hat, werden lassen.
„Du warst - nein, bist - meine zweite Chance, Jungkook. Ohne dich, ich wäre verloren." Ein schmerzverzerrtes Lachen.
Mit bebenden Finger wische ich mir Tränen aus den Augen. Auf meiner Haut bildet sich eine feste Gänsehaut, als der Wind eine stürmische Böe über unsere Köpfe schickt. Der Regen scheint auch nicht mehr fern zu sein.
Ich möchte erneut ansetzen und ihm erzählen, wie meine Mutter mich nach meinem Geständnis dazu gedrängt hat, mich nach ihm zu erkundigen und Himmel und Hölle in Bewegung versetzten sollte, um meinen Fehler, so weit es in meiner Macht stünde, wieder gutzumachen. Leises Murmeln des Jüngeren lässt mich meine Worte allerdings herunterschlucken.
„Wie bitte?", frage ich nach.
Er löst seine Hand von der meinen und tritt einen Schritt zurück. Seine Augen sind glasig und der aufblühende Ausdruck in seinem so bildschönen Gesicht lässt mein Blut gefrieren.
„Du hast es all die Zeit gewusst?", spricht er vorsichtig, „aber hast nichts gesagt?"
Seine Aussage bringt mich ins Stocken. Es stimmt, doch, was hätte ich denn sonst tun sollen? Ich schäme mich so sehr für diese Tat.
Verletzt mustert er mich und schlingt dir Arme um seinen dürr gewordenen Körper. Wir sind doch auf dem Weg der Besserung gewesen. Er war doch alles wieder in Ordnung.
„E-Es tut mir so unendlich leid... Es vergeht keinen Tag, an dem ich nicht bereue, was-"
Ein scharfes Einatmen seitens Jungkook lässt mich verstummen. Er blickt mir direkt in die Augen, fixiert mich förmlich.
„Hattest du wenigstens vor, es mir eines Tages zu beichten, ohne das Wissen, dass ich hier eingesperrt werde und bin? Sei ehrlich. Ich bin das Unwissen und die Lügen satt."
Schmerzlich wird mir klar, dass mein Handeln und mein Schweigen den Jungen mehr verletzt haben könnte, als ich mir in meinen dunkelsten Träumen je hätte vorstellen können. Die Realität bricht wieder einmal über mir in sich zusammen und die Trümmer verfehlen mich nicht.
„Ich liebe dich, Jungkook. Das ist mir im Laufe unserer Zeit immer klarer geworden. Auch, wenn ich mich anfangs dagegen zu sträuben versucht habe, da alles in mir geschrien hat, dich nicht an mich oder ich mich an die zu binden", ich mache eine kurze Pause. „ Aber ist mir, als ich dich in deinen glücklichen Momenten, aber auch während deiner Tiefpunkte erlebt habe, klar geworden, dass ich an deiner Seite sein möchte, dich nicht verlieren will. Ich hätte dir alles gesagt, wenn der richtige Moment gekommen wäre, glaube mir das."
Ich trete näher an den Zaun heran und kralle mich mit den Händen an das dünne, kalte Metall.
„Und ich lasse dich nicht zurück, nicht noch einmal."
Der Jüngere, der meinen Worten reglos und emotionslos gelauscht hat, gleicht einer Statue. Sein Schweigen brennt auf meiner Seele, wie das bösartigste Gift.
So abgelenkt von der Reaktion Jungkooks, die ausbleibt, bemerken wir beide nicht, wie sich von dem großen Gebäude zwei Personen in weißer Kleidung auf uns zubewegen. Der Regen setzt so langsam ein.
„Jungkook ich-", unfähig weiter gegen das Schweigen anzusprechen, schaue ich ihn flehend an. Ich darf ihn einfach nicht verlieren und ich werde erneut Himmel und Hölle in Bewegungen setzten, um ihn wieder an meine Seite zu bringen.
„Vater hatte recht."
Dicke Regentropfen fallen auf uns und durchnässen von Sekunde zu Sekunde unsere Kleidung.
„Du hast mein Leben zerstört."
Wie der Stich eines scharfen Messers fühlen sich die ausgesprochenen Worte an, die ich seit fast einem Jahr nicht einmal zu denken gewagt habe.
Das habe ich nie gewollt.
„Durch dich habe ich a-alles verloren. Sogar Yoongi wollte ich es für eine Zeit lang in die Schuhe schieben."
Seine Stimme wird von Mal zu Mal zorniger, lindert allerdings aufkommendes Schluchzen seine Tonlage. Seine Augen stehen unter Wasser und die Tränen vermischen sich auf seinen Wangen mit den herabgefallenen Regentropfen.
„I-Ich wollte es dir sagen. A-alles wollte ich sagen, aber-"
Erst jetzt erblicke ich die zwei bulligen Gestalten in Weiß und wie sie sich hinter Jungkook auftun, wie eine unüberwindbare Mauer. Ihre Mimik ist grimmig, vermutlich dem Regen verschuldend.
Erschrocken trete ich einen Schritt zurück und breche mein Sprechen endgültig ab. Dies scheint den Jüngeren jedoch noch mehr zu erzürnen, als zuvor schon. Ich schulde ihm alle Antworten der Welt.
„Aber was? Was verheimlichst du noch?! Ich habe dir all meine Geheimnisse anvertraut und du hast mir gesagt, du glaubst an mein Monster." Tief holt er Luft.
„Du hast gesagt, dass ich es mir nicht einbilde! Du hast gesagt, ich bin nicht verrückt!"
Seine Worte wandeln sich in klagenden und anklagende Schreie, sodass es mir die Nackenhaare in die Höhe treibt und mir schlecht wird vor lauter Schuld.
„Da bist du ja, Ausreißer Jeon."
Die brummende Stimme von einem, der beiden bullenhaften Männer bringt Jungkook zum kurzweiligen Innehalten. Erschrocken wendet er sich um und wirkt auf einmal um einen ganzen Meter kleiner im Vergleich zu dem Personal der Klinik.
„Deinetwegen bin ich verloren!", sind seine letzten Worte, bevor die beiden weißen Gestalten nach ihm greifen und ihn von dem Zaun wegzerren. Er wehrt sich mit aller Kraft, die ihm geblieben ist; tritt, faucht, beißt, ruft. Er tut alles, um sich von ihnen zu befreien, doch hat er wie zu oft nicht den nötige Kraft, um dagegen anzukämpfen.
Ohnmächtig und mit vor Tränen und Regen nassen Wangen kann ich dem Kampf bloß zuschauen. Die Angst treibt mich immer weiter zurück, doch sind Jungkook und meine Blicke immer noch miteinander verbunden.
~•~
Der Weg zurück zum Auto, indem Juri und Jin auf mich warten, fühlt sich in meinen Knochen an wie der Weg zurück aus einem Krieg. Die Bilder des kämpfenden und schreienden Jungkooks wollen mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. Diese Bilder werde ich nie mehr vergessen. Sie tuen so unbeschreiblich weh.
„J-juri, ich komme jetzt zurück", spreche ich unter Tränen zu meiner Schwester, die am anderen Ende der Leitung sitzt. Ihr beruhigendes Wort, das anschließend folgt, lindert wie vermutet meinen Schmerz um kein Stück, doch berührt mich die Wärme in ihrer Stimme. Wie kann sie unserer Mutter nur so ähnlich sein?
Als ich an dem vereinbarten Punkt ankomme, an dem das Auto auf mich warten sollte, finde ich einzig den Freund meiner Schwester vor, der mit einem Regenschirm bewaffnet am Ende des Waldweges wartet. Von Juri und dem Auto ist weit und breit keine Spur zu sehen.
„Ich frage erst gar nicht, wie es gelaufen ist", entgegnet der Ältere mit den dunklen Haaren, als ich zu ihm aufschließe. Sein Tonfall ist frei von jeglicher Emotion; übel nehmen, kann ich es ihm nicht.
Als wir uns gegenüberstehen, mir beiläufig bewusst wird, dass Seokjin doch ein ganzes Stück größer als ich bin, hebt er seine freie Hand. Erschrocken zucke ich zusammen, der Gedanke kreisend, dass er nach all den gelüfteten Geheimnissen seinen Frust Luft machen möchte und mir eine verpasst. Mit zusammengekniffenen Augen warte ich auf den bevorstehenden Schmerz.
„Wir haben eine Menge zu bereden, meinst du nicht?"
Verwirrt schlage ich die Lider auf und erkenne im Augenwinkel, wie der Ältere seine Hand auf meiner Schulter platziert hat. Anschließend hält er den Regenschirm über unser beider Häupter.
Ich muss ihn mustern, wie ein getretener Hund.
„Komm, wir gehen jetzt ein Stück."
Unfähig dem Mann zu widersprechen, folge ich ihm und halte mich unter seinem schützenden Regenschirm auf.
Mich unwohl fühlend, lasse ich die Hände in den Hosentaschen verschwinden und blicke unachtsam umher. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht.
„Juri ist vorgefahren, falls du dich fragst, wo sie gerade steckt", er lacht zart und leise auf, als würde ihn der Gedanke an meine Schwester mehr als glücklich machen.
„Du liebst sie sehr, oder?", hake ich mit rauer Stimme nach, als wir eine Straßenkreuzung erreichen und dort für einen Moment warten müssen.
„Du weißt ja selbst, wie das so mit der Liebe ist. Anfangs konnte wir uns nicht leiden - Rivalität wegen der besten Noten - aber nach einer gewissen Zeit kann man sich eben nicht mehr gegen etwas wehren, was einfach sein soll." Er widmet mir ein warmes Lächeln. Wie gerne ich ihm zustimmen würde.
„Sie hat mir nie etwas davon erzählt, wer du wirklich bist. Als ich dich das erste Mal gesehen habe, dachte ich zuerst, sie stünde vor mir und hätte sich die Haare geschnitten und gefärbt." Er lacht.
„Sehen wir uns wirklich so ähnlich? Ich war immer stolz darauf, dass es nicht so ist. Sie ist immerhin zwei Jahre älter als ich." Der Gedanke, dass Juri und ich uns so stark ähneln sollen, bringt mich fast zu lächeln.
„Mir kam es nur merkwürdig vor. Ich habe sie darauf angesprochen und nach etwas bearbeiten und viel Charme meinerseits hat sie ein wenig über euch verraten. Wie du sie kennst, verhielt sie sich dennoch sehr reserviert und achtete sehr darauf, was sie offenbart und was nicht."
Zustimmend nicke ich. Juri ist schon immer gut darin gewesen, nicht mehr zu verraten, als sie sollte. Ich hingegen verrate entweder alles oder gar nichts.
Und das dann noch stets im falschen Moment.
Wir steigen in eine Straßenbahn, die uns kurzerhand vom Stadtrand in das Innere Seouls bringt. Das Umland wird mehr und mehr zu einem Wunderland aus Beton. In der Nobel-Gegend der Stadt steigen wir aus und steuern auf einen kleinen Park zu.
„Jin, was tun wir hier? Wenn du mir weiter Vorwürfe machen möchtest, oder mir eine Lektion erteilen willst, dann tu es bitte gleich. Ich bin müde immer davonzulaufen." Niedergeschlagen senke ich den Kopf und bleibe inmitten des Spazierweges des Parks stehen, der am Ufer des Flusses entlangführt. Hier im Stadtteil regnet es noch nicht. Die schweren Wolken sind langsam.
„Lass dich überraschen, Taehyung. Ich hege nicht die Absicht meine Wut an dir auszulassen, keine Sorge. Das überlasse ich wem anders... Es gibt da jedoch etwas, was wir beide erledigen müssen. Und dazu benötigen wir Hilfe von anderen."
Er nimmt meine Hand und führt mich durch den auf den Winter vorbereiteten Stadtpark. Wir treffen keine anderen Leute an. Hinter dem blassen Grün erreichen wir eine lange Straße, die steil nach oben auf einen Berg führt. Ich mag mir nicht vorstellen, was eines der Häuser in dieser Gegend kosten mag. Fehl am Platz und unbedeutend klein stolpere ich dem zielstrebigen jungen Mann nach. Sein Regenschirm hat er kurzerhand zu einem Gehstock umfunktioniert. Er gleicht einem Edelmann und ich seinem tollpatschigen Gehilfen.
„Ganze zehn Minuten früher als vereinbart. Du kannst stramm laufen, Tae.", das verrät ihm der Blick auf seine Uhr. Er macht vor einem schwarzen Metalltor halt, das den Vorgarten einer kleinen weißen Villa einzäunt. Jin drückt auf die Klingel neben dem Briefkasten, doch kann ich den Namen nicht lesen.
Die Situation macht mich nervös. Seit Wochen irre ich ziellos umher und möchte meine Fehler eigentlich wieder gutmachen, mit den Leuten, die mir etwas bedeuten klaren Tischen machen, doch fehlt mir die Kraft und ohne Jungkook fühlt sich alles tun ohne Sinne und Zweck an.
„Du möchtest ihn zurück."
Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Ein Signalton ertönt, dass wir in den Vorgarten eintreten können und Jin führt mich die kleine Treppe zur imposanten Eingangstür der modern ausschauenden Villa hinauf.
„Tür ist offen!", hallt es von innen und wir betreten anschließend das Gebäude. Die Stimme habe ich nicht erkannt.
Ein mir bekannter Geruch kommt uns entgegen, als wir den Eingangsbereich betreten und uns von unseren Schuhen befreien. Der Waldweg hat meinen Sneakern arg zugesetzt.
„Hier sind die Leute, die dasselbe im Sinn haben wie du."
Jin schiebt mich förmlich in das Wohnzimmer des Hauses und die Personen, die ich antreffe, ihre Ansicht lässt mich förmlich das Weite suchen.
Zusammengequetscht auf der Couch sitzen Juri, Namjoon, Hoseok und Yoongi. Jimin linst von der anschließenden Küche in den Raum.
„Will jemand einen Schluck Orangensaft? Wir haben auch Cognac da, falls nötig..."
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