Kapitel 5

Taehyung

Mit den Füßen in einer Pfütze stehend, harre ich für einen weiteren Moment auf meinem Motorrad aus und betrachte das, was vor mir liegt. Der Fahrtwind hat mir beinahe alle meine Gliedmaßen erfrieren lassen; werde ich mich wohl oder übel gleich an die Arbeit stürzen, um nicht an einer Unterkühlung zu verenden.

Wie auf einem Laufrad, bewege ich mich noch einige Meter voran, bis ich einen Unterstand in diesem gigantischen Innenhof inmitten von prunkvollen Gebäuden erreiche und dort mein Motorrad vorübergehend unterbringe. Den Helm ziehe ich mir ebenfalls vom Kopf. Zum Vorschein kommt mein völlig zerzaustes Haar. Damit habe ich schon gerechnet, also wuschele ich mir vorsichtig mit meinen Händen, die unter schwarzen Lederhandschuhen versteckt sind, durch die Strähnen. Der Regen ist von dem Leder zwar abgeperlt, trotzdem spüre ich die kalten Tropfen durch meine Haare rennen. Ein Schauer läuft elendig langsam meinen Rücken herab.

Das miese Wetter möchte nicht besser werden. Mit zusammengekniffenen Augen schaue ich auf in den grauen Himmel, sodass vereinzelte Regentropfen mein Gesicht treffen. Ich ziehe eine genervte Grimasse und entferne mich von meinem Motorrad, um endlich ins Warme zu gelangen. Der Schotter unter meinen Stiefeln knirscht — sich für eine kleine Pause von dem Gelände zu schleichen, ist also nicht wirklich möglich ohne ertappt zu werden.

Das wird ja noch lustig.

„Kim Taehyung?"

Erschrocken fahre ich herum und suche den Ursprung, von dem mein Name aus gerufen wird. Es ist eine Frau mittleren Alters. Ihr Haar ist streng gebunden und ihre Kleidung erweckt den Anschein, dass sie nichts dem Zufall überlässt. Ein enger und hoher Kragen schmückt ihren Hals, der ihre gerade Haltung noch einmal unterstreicht. Ich schlucke hart, doch versuche mir den Schreck, den sie mir eingejagt hat, nicht anmerken zu lassen.

„Ja? Ich... ähm. Ich bin hier für—" Sie unterbricht mich. „Sie sind zu spät."

Na toll. Der erste Tag und schon habe ich mich irgendwie in den Zeiten vertan, seufze ich innerlich.

„Arbeitsbeginn ist für sie, für den heutigen Tag um 10:00 Uhr gewesen. Es ist nach zwölf", wirft sie mir vor. Ich beiße mir derweil auf die Lippe, versuche die Unschuld in Person zu bleiben und komme leicht geduckt auf sie zu. Mein Rang ist im Vergleich zu ihrem nicht einmal der Staub unter den Garnituren. Ich darf es mir bei ihr nicht schon am Anfang verspaßen.

„Verzeihen Sie. Der Verkehr war eine reine Katastrophe. Es wird nicht mehr vorkommen, Frau—" Da sie ihren Namen natürlich nicht auf der Brust stehen hat, kommt meine Ausrede zum Schweigen und ich blicke sie Hilfe suchend an. „Lim. Für sie Madam Lim. Ich bin die Haushälterin dieses Familienstandes. Und jetzt folgen sie mir, bitte", entgegnet sie streng und dreht auf dem Absatz herum. Wieder knirscht der Schotter. Ich folge ihr wie ein verloren gegangener Hund.

Staunend betreten ich das Gebäude durch eine kleine Nebentür, die in einen längeren Flur führt, welcher mit Gemälden und Porträts von verschiedenen, herrschaftlichen Persönlichkeiten geschmückt ist. Die Beleuchtung in dem Raum ist zwar sehr dezent, doch hat sie sich automatisch eingeschaltet, als wir den Bereich betreten haben. Beeindruckt mustere ich die Bilder, doch versuche gleichzeitig Schritt mit Madam Lim zu halten. Ihr Gang wirkt elegant. Sie erinnert mich an die fromme Nachbarin meiner Großmutter.

Ich habe sie nicht leiden können.

„Den Angestellten dieses Haushalts ist es untersagt, durch den Haupteingang in das Gebäude zu gelangen. Merken Sie sich das."

Ich nicke eifrig. An einer weiteren Tür kommt die Frau zum Stehen.
„Ziehen Sie ihre Straßenschuhe hier aus. Sie möchten bestimmt nicht das Parkett scheuern", fügt sie beiläufig hinzu und reicht mir ein Paar Hausschuhe. Ich bin unaufmerksam und stoße beinahe mit ihr zusammen, doch kann ich die Unannehmlichkeit gerade noch so abwenden. Eine einzelne Stufe trennt den Flur von der folgenden Tür vor uns. Davor steht bereits ein Paar weitere Hausschuhe. Zügig schlüpfe ich aus meinen Motorradstiefeln und in die weichen Pantoffeln — danach das Parkett zu scheuern, ist mir nämlich wirklich nicht.

Ihre blassen Finger umgreifen die stumpfe Türklinke und drücken sie nach unten.

Mir bleibt etwas die Spucke weg, als wir eine eindrucksvolle Eingangshalle betreten, die mit kostbaren Skulpturen und einem beeindruckenden Kronleuchter dekoriert ist. Der Boden ist mit schwarzen und weißen Fliesen gefliest, doch er glänzt nicht, der Stein wirkt stumpf.
Erschlagen von der Masse an Prunk halte ich mich bevorzugterweise an Madam Lim, die bereits wieder einige Schritte vorausgegangen ist. Hastig trabe ich ihr nach. Mein staunender Blick wird für einen Bruchteil aufgehalten, als ich einen an der Wand hängenden Gegenstand sehe, der von einem dicken und großen Leinen verdeckt ist. Der Stoff bewegt sich leicht, als ich an ihm vorbeistreife. Unbedacht rümpfe ich die Nase und schreite weiter.

Schweigen trennt die Frau und mich, doch ich spüre, dass mich die stechende und strenge Stimme der Haushälterin jeden Moment wieder auf etwas hinweisen wird. Ich spüre es in meinen Knochen. Ihr muss es ähnlich ergehen, so alt, wie sie wohl schon ist. Madam Lim führt mich die Treppen herauf, einen kleinen Gang entlang, bis wir einen küchenartigen Raum erreichen. Große, offene Fenster erhellen die gesamte Etage, auf der wir uns befinden. Ich staune nicht schlecht und verstecke die Hände in meinen Hosentaschen. Ein abschätziger Blick lässt mich meine Körperhaltung wieder ändern, als die Hausdame sich mir zuwendet.

„In diesem Haus ist Anstand zu pflegen. Sie sind hier nicht zum Spaß. Der Sohn meines Arbeitgebers ist stark erkrankt und benötigt eine zuverlässige und kompetente Stütze. Bis jetzt sehe ich schwarz für Sie, Hr. Kim." Ich schlucke hart, als sie mir ihre Einschätzung an den Kopf wirft. Sie ist gnadenlos und direkt. Charakterzüge mit denen ich nie gelernt habe umzugehen.

Woher auch?

Das Zentrum der Etage wird von einem torbogenähnlichen Durchgang getrennt, der sich nun rechts von mir befindet. Der Raum, in dem wir uns befinden, ist mit einer großflächigen Kücheninsel ausgestattet. Die Wandschränke sind aus Glas, doch wurden sie unsauber erblindet. Ich runzele die Stirn ein wenig, als ich sie mustere. Auch die Herdplatten sind mit Tüchern verdeckt, auf denen zerkratze Töpfe stehen, um die Verdeckung daran zu hindern wegzuwehen. Ein merkwürdiges Bild, das nicht zu dem Restlichen hier passt.

Ein hölzerner Essenstisch mit edlen Verzierungen und Schnitzereien steht zum Rücken der elterlichen Frau an der beeindruckenden Fensterfront. Sie faltet ihre Hände und mustert mich für einen weiteren Moment. Ich spüre ihre Augen auf meiner Haut und wie sie alles über mich herauszufinden scheint.

— wenn sie bloß wüssten.

„Sie werden wohl einige Frage über ihre genaue Arbeit als Pflegefachkraft von Herrn Jeon haben", spricht sie und wendet sie dabei dem verzierten Tisch zu. Ihre strengen Gesichtszüge bleiben kalt. Ich höre das Rascheln von Papier.

„Dies ist ihr genauer Arbeitsvertrag." Ein gefalteter Brief wird mir entgegengehalten, den ich auch gleich an mich nehme. Gespannt gleitet mein Blick über die Zeilen.


Ich atme einmal durch und wende meinen Augen wieder auf die feine Dame. Meine Begeisterung ist beinahe zu schneiden.

„Montags, mittwochs und freitags erscheinen Sie bitte pünktlich um zehn Uhr. Ihre Schicht endet, wie Sie sehen, gegen 21:30 Uhr. Um diese Zeit müssen alle Lichter ausgeschalten und die gesamten Vorhänge dieser Etage zugezogen sein. Dienstags, donnerstags und samstags sind sie jedoch schon um sieben Uhr morgens vor Ort, um Mr. Jeon zu wecken. Dafür dürfen sie schon um acht am Abend nach Hause. Die Bedingungen des Lichts und der Vorhänge betreffend bleiben bestehen. Der Sonntag ist ihnen frei überlassen, wie 20 Urlaubstage im Jahr", schildert sie, den Blick direkt auf mich gerichtet. Wie Pfeile durchbohren sie mich. Ich fühle mich etwas überrumpelt, doch mit diesem Korsett an Vorschriften und Bedingungen lässt es sich schon irgendwie rangieren. Ich versuche mein Bestes.

Das Unwohlsein, das durch meine Adern wabert, ich werde es nicht wirklich los. Diese Frau beunruhigt mich auf das Äußerste. Regeln scheinen für sie das Ultimatum zu sein.

„Ihre gesamte Zeit, die sie mit Mr. Jeon verbringen, wird sich auf diese Etage begrenzen und gegebenenfalls auf den Weg zu einem der Ärzte des jungen Herrn. Da es der Gesundheitszustand nicht zulässt, möchten die Eltern von Mr. Jeon, dass Sie ausschließlich das tun, was er für nötig und möglich hält. Für seine Genesung sind Sie dementsprechend nur indirekt zuständig."

„Also bin ich nur sein Aufpasser?", antworte ich etwas überrascht. Zu Beginn meiner Anstellung sind nicht viele Details über diesen Jungen gefallen, doch konnte ich durch einen Blick in seine Krankenakte so eines zur Erfahrung bringen.
Er soll um die 20 Jahre sein und unter Angstzustände und Anzeichen von Halluzinationen leiden. Ob diese Symptome auf Schizophrenie zurückzuführen sind, ist nicht bekannt. Seine lückenhafte Akte hat mich nur über einiges aufgeklärt, das mir bevor stehen wird; über vieles weiteres werde ich im Dunkeln gehalten.

Für Jeon Jungkook, der Sohn eines erfolgreichen Unternehmers und der mehr Geld erben wird, als ich mir erträumen kann, sind spiegelnde Gegenstände und flackernde Lichter eine rote Flagge. Laut seiner Eltern sind alle Spiegel in seiner Gegenwart entweder mit Bleichmittel erblindet oder wurden abmontiert. Nach den restlichen Berichten verfolgt ihn eine Angst vor dem eigenen Spiegelbild. Das erklärt das große Laken im Eingangsbereich, dass wohl einen Spiegel verdecken muss. Ich schmunzele bei dem Gedanken an die verkratzten und stumpfen Kochtöpfe.

Sie haben wirklich an alles denken müssen.

„Sie sind eine Hilfe im Alltag. Neben der ärztlichen Behandlung, die Mr. Jeon erhält, von einem Psychologen und verschiedensten Neurologen, sind sie dafür zuständig darauf zu achten, dass er seine Medikamenteneinnahme nicht vernachlässigt, Arzttermine einhält und sich nicht in einer Depression verliert."

Sie wirkt genervt. Sie muss mir meine Arbeit eigentlich nicht erklären, da ich mir der Sache bewusst bin. Doch etwas ist hier seltsam.
In meinem vorläufigen Arbeitsvertrag meiner Agentur stand bereits notiert, dass ich in seiner Anwesenheit Smartphone ähnliche Geräte nicht anfassen, noch mit mir führen darf. Selbst die Lichter im Haus dürfen ab sechs Uhr abends nicht mehr eingeschaltet werden, bevor die Vorhänge nicht zugezogen sind.

Innerlich seufzend, verstaue ich den Brief in meiner Jackentasche. Die Wasserperlen, die seit der nassen Fahrt noch an dem Leder gehaftet haben, haben sich nun an den untersten Rändern gesammelt. Ab und an hört man ein leises Tropfen. Es ist zwischen nun wirklich totenstill.
„Da sich der Gesundheitszustand von Mr. Jeon in den letzten Wochen drastisch verschlechtert hat, mussten wir ihre Agentur unverzüglich benachrichtigen. Fühlen sie sich im Angesicht der Bedingungen und—"

Eine Tür fällt laut in ihr Schloss und erschreckt mich, wie auch Fr. Lim. Schritte sind zu hören, die sich stetig nähern.

„Madam Lim, Yoongi ist auf dem Nachhauseweg, wären sie so gütig mir die Vorhänge in meinem Schlafzimmer zuzuziehen?" Eine muntere Stimme hallt von der Eingangshalle bis zu uns herauf. Gegen Ende wird sie jedoch immer leiser, bis sogar die Laute der Schritte abebben.

„Selbstverständlich. Ich werde vorausgehen", bestätigt sie ohne zu zögern. Sie richtet ihre blaufarbene Strickjacke und kommt auf mich zu.
„Doch mein Herr, ihr zukünftiger—", weiter vermag es Fr. Lim nicht zu sprechen. Ihre Gesichtszüge entgleiten ihr einen Hauch, als die Geräusche von stolpernden Schritte zu hören sind. Die Schritte sind aber gar nicht mehr weit entfernt. Ich runzele die Stirn.

Was hat sie denn?

Unbeirrt drehe ich auf dem Absatz herum und schaue in ein sehr blasses, doch überaus hübsches Gesicht. Die Lippen der Person mir gegenüber sind zart rosafarben, wie auch dessen Wangen. Der Junge wirkt recht zierlich, doch als ich mich in seinen tiefbraunen Augen verfange, verliere ich den Faden. Jeon Jungkook, flüstern meine Gedanken und ich blicke den eitlen jungen Mann schweigsam an. Die Worte scheinen sich in meiner Kehle verkeilt zu haben.

„Oh, nein", spricht eine Stimme kaum hörbar. Erst nach einigen Augenblicken verstehe ich, dass es Fr. Lim gewesen ist, die ihren Gedanken nicht für sich behalten konnte. Ich strecke unbeirrt meine Hand meinem zukünftigen Mündel entgegen, versuche ihm ein freundliches Lächeln zu schenken.

„Hi, ich bin Kim Tae—"

Erst jetzt erkenne ich die Emotion im Gesicht des Jungen im Türrahmen vor mir. Seine Augen sind geweitet, gerötet - als hätte er einen Geist gesehen. Meine Geste straft nun die Nichtachtung. Jungkook schluckt hart, beißt sich dann auf die Unterlippe. Er mustert mich, doch ich kann seinen Ausdruck einfach nicht deuten. Was ich erkennen kann, ist Angst. Er gleicht einem verschreckten Reh.

„Es war da. Genau vor mir."

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