Kapitel 46
Jungkook
„Am Herzinfarkt soll er gestorben sein", tuschelt eine alte Dame einer anderen an ihrer Linken zu. Sie sind wie wir alle in tiefes Schwarz gehüllt.
Dicke Regenwolken hängen über dem Himmel des Friedhofs, auf dem wir uns aktuell befinden. Nach einem langen Gottesdienst, der uns daran erinnert hat, was Yoongis Vater in seinem 57 Jahre langen Leben erreicht hat, ist die schweigende Trauergemeinde den Sargträgern zur Stelle gefolgt, an der Min Shiwon seine letzte Ruhe finden wird.
Mit trüben Augen mustert mein Vater das Grab seines besten und ältesten Freundes.
Neben seinem wahren Bruder, Jimins Vater, hat er nun auch Yoongis Vater verloren. Das tut mir leid für ihn.
Zu meiner Rechten befindet sich Taehyung, der einen Regenschirm über unsere Köpfe hält. Er ist den ganzen Tag nicht von meiner Seite gewichen. An seiner Rechten, ebenfalls geschützt unter einem Regenschirm, stehen Jimin und Hobi Arm in Arm. Bedrückt schaut das baldige Brautpaar auf den steinigen Grund. Uns gegenüber, in Angesicht des Grabes, befinden sich meine Eltern, wie auch Yoongis Mutter. Ihr Sohn kniet vor dem Grab seines Vaters und lässt einen Brief, wie auch zwei Rosen in die Grube fallen. An seiner Seite, die Hand auf die Schulter des trauernden Sohnes gelegt, befindet sich Namjoon. Miga, seine Tochter, hält schweigend die freie Hand ihres Vaters.
Ich schlucke hart, als Yoongis Mutter ihre Trauer nicht mehr zurückhalten kann und in den Armen meiner Eltern nach Trost sucht. Yoongi scheint seinen Blick von der Grube nicht abwenden zu können. Seine Tränen rennen wie in Strömen und erst Namjoon ist in der Lage seine alten Freund aus seiner Trance zu lösen.
Den ganzen Tag sind die beiden sich breites sehr nahe, was mich etwas wundert.
„Der Herzinfarkt soll ausgelöst worden sein, da sein Sohn angeblich durch all seine Prüfungen gefallen ist." Die ältere Dame kommt ihrer Nachbarin ein Stück näher.
„Was dem alten Herrn das Wichtigste war, scheint nicht an den Sohn weitergegangen zu sein", entgegnet nun die andere Frau, die Hände dabei gestützt auf einem Gehstock.
Ich wende mich den alten Damen geschockt zu, die wieder in das reinste Tuscheln verfallen sind. Ich möchte meinen Ohren kaum glauben.
Es mag für den Außenstehenden vielleicht so ausschauen, dass Yoongis schlechte Prüfungsergebnisse dem alten Min einen Schlag verpasst haben, doch ist er schon seit Jahren gesundheitlich angeschlagen gewesen und die Arbeit an den Nagel zu hängen, wäre nie eine Option für ihn gewesen. Das alles hat nichts mit Yoongi zu tun.
„Ich darf doch bitten!", fahre ich die alten Hühner an, die darauf erzürnt das Weite suchen. Taehyung muss sich einen belustigten Ton verkneifen.
~•~
Das Wetter ist von Minute zu Minute schlechter geworden. So befinden wir uns jetzt alle in der Gemeindehalle der Stadt, um zusammen den üblichen Leichenschmaus einzunehmen. Der große Raum ist geschmückt mit weißen Blumen und im Norden des Gebäudes befindet sich ein Schrein auf dem ein großes Porträt des Verstorbenen platziert ist.
„Bitte halt still, sonst tut ich dir noch weh", bemerkt Taehyung, der mir freundlicherweise angeboten hat, aus meiner Jacke zu helfen. Ich leiste seiner Bemerkung folge und so kann er meine Jacke anschließend in der Garderobe verstauen.
„Dir geht es auch wirklich noch gut, Jungkook?", erkundigt sich der Ältere erneut. Bereits während der Autofahrt zur Gemeinde hin, hat er mir seine Bedenken offenbart. Er hat während der Fahrt meine Hand gehalten. Von der Augenbinde geschützt, konnte er meinen verwunderten Ausdruck nicht erkennen.
„Ja, alles in bester Ordnung. Falls ich etwas spüre, sag ich dir sofort Bescheid. Oke?"
Er nickt, doch ist ihm anzusehen, dass ihm meine Aussage nicht vollständig überzeugt. Wer kann es ihm verübeln?
Ich gehe bereits vor, um den großen Innenraum zu betreten, doch Taehyung bleibt für einen Moment noch stehen.
„Nicht nur dein Sohn ist unfähig, jetzt ist es meiner auch noch!"
Die erzürnte weibliche Stimme dringt jetzt auch zu mir hindurch. Verwundert bleibe ich stehe und schaue wie Taehyung mit Fragezeichen über dem Kopf in Richtung Foyer.
„Anstatt seinen Pflichten nachzugehen, hat er jede seiner freien Minuten bei eurem geisteskranken Sohn verbracht!", klagt Yoongis Mutter und erschrocken stelle ich fest, dass sie mit meinen Eltern spricht. Es wirkt so surreal, dass die beiden wirklich hier vor Ort sind und nicht am anderen Ende der Welt.
„Wäre er aus diesem Wald nicht mehr zurückgekehrt, hätte er euch wie auch uns so einiges erspart."
Mein Alarmsignale schrille im Akkord, als Taehyung schnellen Schrittes auf die wetternde Frau zugeht. Mir wird beinahe schwarz vor Augen, als er das Wort gegen sie erhebt. Mein Vater steht schließlich direkt neben ihnen.
„Entschuldigen Sie bitte, aber was fällt ihnen ein derart über Jungkook zu sprechen? Mit Respekt, doch haben Sie keinen Anstand?"
Beinahe selbst an einem Herzinfarkt zu Grunde gehend, stürme ich auf Taehyung zu und versuche die Situation dort zu retten, wo sie noch zu retten ist.
Es gibt eine Regel: nicht meinem Vater, oder Personen die schätzt, in die Quere kommen.
Ich hätte Taehyung darüber aufklären müssen.
Meine Mutter hält sich wie gewohnt zurück. Wir haben seit ihrer Ankunft gestern kaum eines Wort gewechselt. Vater ist gleich in seinem Arbeitszimmer verschwunden. Er hat nicht einmal Hallo gesagt. Im Gegensatz zu gestern habe ich nun seinen völlige Aufmerksamkeit.
„Taehyung, bitte, schon in Ordnung. Fr. Min hat leider Recht. Komm' jetzt", flehe ich dem Älteren ins Ohr, der Yoongis Mutter böse anfunkelt. Innerlich bete ich zu allen Göttern, die es gibt.
„Ist dir deine Stelle etwa so wenig wert, dass du es wagst, die Witwe meines geschätzten Partners und Freundes zu beleidigen?"
Die für meinen Vater typische Antwort scheint Taehyung hart zu treffen. Bevor der Blonde zum Gegenschlag Luft holen kann, trete ich allerdings vor ihn und ergreife das Wort.
„Ich entschuldige mich für Hr. Kims Handeln und dafür, dass ich durch meine Erkrankung Yoongi von seinen Pflichten abgehalten habe. In Zukunft werde ich beide auf ihr Handeln und Position früher aufmerksam machen. Es tut mir leid."
Mit diesen Worten wende ich mich von den älteren Leuten ab und ziehe Taehyung hinter mir her. Ich spüre wie mein Körper beginnt zu zittern. Die giftigen Blicke der trauernden Witwe und die meines erbosten Vaters gehen uns noch eine Weile nach. Hoffentlich geht dieser schreckliche Tag nicht mehr all zu lange.
„Jung— Warte. Jetzt warte doch!", wehrt sich der Blonde gegen meinen festen Griff. Seufzend bleibe ich stehen.
„Lass' es, Taehyung. Wenn du für die letzten Monate noch dein Gehalt erhalten möchtest, dann verhalte dich ruhig. Man widersetzt sich nicht meinem Vater. Nicht, wenn man mit den Konsequenzen nicht umgehen kann. Du siehst, wo es mich hingeführt hat."
Ich senke den Kopf und erinnere mich an die unzähligen Diskussionen zwischen meinen Eltern und mir, als sie mich in diese zum Scheitern verurteilte Hochzeit drängen wollten.
„Bitte, lass mir diese letzten drei Monate noch in Frieden. Mehr verlange ich nicht."
Taehyung anfänglich bitterer Ausdruck wird weicher, als ich diese Worte aussprechen. Was er anschließend tut, verwundert mich wie selten etwas.
„Ich habe dich wirklich unterschätzt", spricht er und nimmt mich anschließend in den Arm. Genießen kann ich diese Umarmung allerdings nicht, denn er wird mich dich bald wieder von sich stoßen — diesmal endgültig.
~•~
Yoongi steht mit gesenktem Haupt vor dem aufgestellten Porträt seines Vater. Unsere Freunde befinden sich an seiner Seite, Miga hält wieder seine Hand. Seit der Beerdigung hat mein ältester Freund kein Wort mehr verloren.
Wie ich Yoongi kenne, den pflichtbewussten, fürsorglichen und gutherzigen Jungen, der, seit ich denken kann, auf mich Acht gibt, beschuldigt er eine einzige Person am Tod seines Vaters— sich selbst. Die Worte seiner Mutter kommen nicht von irgendwo her. Ich möchte mir nicht ausmalen, was Yoongi gefühlt haben muss, als sie ihm diese Worte an den Kopf geworfen hat.
Er ist die vergangene Zeit immer für mich da gewesen. Habe ich ihm deshalb eigentlich jemals gedankt?
Ohne mich wären das alles nie geschehen.
„Onkel Yoongi?" Namjoons Tochter bricht unser aller Schweigen. Mit Tränen in den Augen wendet Yoongi den Blick auf das kleine Mädchen, das ein hübsches schwarzes Kleid trägt.
Ihr Onkel kniet sich zu ihr und nimmt sie anschließend in den Arm. Zufrieden schmiegt sie sich an ihn.
Wir alle begutachten das Schauspiel mit gemischten Gefühlen.
„Du brauchst nicht weinen, Onkel Yoon", spricht Miga nach kurzer Zeit, was den Angesprochenen zum bitteren Kichern bringt. Jimin wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. Er hält noch immer Hobis Hand fest umklammert.
„Ich weiß, Engel", entgegnet Yoongi mit rauer Stimme und nimmt das Mädchen auf den Arm.
Namjoons Ausdruck wandelt sich zur Sorge hin.
Das ist allerdings kein Vergleich zu dem, was Yoongi anschließend offenbart und uns alle ebenfalls in tiefste Sorge stürzt.
„Das ist das Letzte, was ich jetzt tun muss."
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