Kapitel 45

Taehyung

Seokjins Worten wollen mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. Nachdem Jungkook und Jimin mich und den außergewöhnlichen gut aussehenden Braunhaarigen am Tisch zurückgelassen hatten, um einen Tanz nachzuholen, den der Jüngere anscheinend einmal versprochen haben muss, wendete der junge Mann, den ich vor kurzem erst kennengelernt habe, an mich.

„Hast du es ihm schon gesagt, Taehyung?"

Seine Frage hat mich getroffen wie ein Tritt. Beinahe hätte ich das Glas in meiner Hand fallen lassen. An dem Stück Gebäck hatte ich mich ebenfalls verschluckt. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte ich ihn an, wie eine Kuh, wenn es blitzt.

Meinte er etwa mein Vorhaben, dass ich Jungkook erzähle, dass ich...

Das kann doch nicht sein!

Als mich dieser erneut Gedanke trifft, kehre ich zurück in das Jetzt. Ich befinde mich augenblicklich auf dem Weg zur Arbeit, zu Jungkook. Mein Körper steckt in meiner dicken Motorradkluft, die mich bei diesem nasskaltem Wetter vor der Kälte schützt. Die Straßen sind ertränkt durch den ganzen Regen. An diesem Tag heute besonders.

Ich möchte gerade in die private Einfahrt der Jeon-Familie einbiegen, da kommt mir ein großer schwarzer Wagen zuvor. Abgelenkt durch Seokjins Worte und meinem entsprechenden Grübeln, ist es mir nicht möglich rechtzeitig auszuweichen. Der glatte Untergrund tut seinen Teil dazu und das Hinterrad des Motorrads bricht beim Bremsen unkontrolliert aus. Ich stürze und schlittere samt der Maschine in den Straßengraben. Mit quietschenden Rädern kommt der gegnerische Wagen ebenfalls zum Stehen. Glücklicherweise sind wir nicht zusammengestoßen.

Ich ziehe den Helm ab, als sich die Welt um mich wieder beginnt zu stabilisieren. Alles hat sich gedreht, doch als der kühle Regen auf meine Haut trifft, scheint alles wieder in Ordnung zu sein. Bis auf mein linkes Handgelenk und meinen Hinter scheint alles von bester Gesundheit zu sein.

„Mir gehts gut!", rufe ich der anlaufenden Person zu, die zuvor aus dem Auto gestürmt ist, um nach mir zu schauen. Noch etwas wackelig auf den Beinen klettere ich aus dem etwa einen Meter tiefen Graben. Als meine Augen auf den anderen Unfallbedingten treffen, halte ich überrascht inne. Ihm scheint es nicht anders zu gehen.

„Yoongi?"

Kaum hat mich der alte Freund meines Schützlings erkannt, beginnen ihm die Tränen über die blassen Wangen zu laufen. Er schluchzt und geht anschließend vor mir auf die Knie.

„Es ist doch nichts passiert", beruhige ich ihn unbeholfen und knie mich neben ihn. Damit habe ich jetzt wirklich nicht gerechnet. Der Regen durchnässt seine dünne Kleidung.

„Deswegen brauchst du nicht zu weinen. Mir geht es gut, siehst du?"

Als meine Hand seine Schulter berührt, schaut er beinahe auf die Sekunde zu mir auf. Erst jetzt fällt erkenne ich, wie erschöpft er aussieht.

„Mir aber nicht!", entgegnet er mir wütend und löst sich von meiner Seite. Es kommt mir so vor, als hätte Jungkooks Freund seit Tagen kein Auge mehr zugemacht.

„Hast du dir gerade etwas getan? Soll ich den Notarzt rufen?"

Er schüttelt nur abwehrend den Kopf. Als er beginnt zu sprechen, beginnen neuen Tränen ihre Reise.

„M-mir ist nichts passiert. Es ist nur... Mein Vater ist heute Morgen verstorben."

~•~

Ich öffne dem Älteren die Haustür und lasse ihn eintreten. Seine Tränen sind bei der Herfahrt anscheinend abgeebbt. Der Schreck und die Trauer steckt ihm allerdings tief in den Knochen. Schweigend folge ich ihm, wie er die Stufen in den ersten Stock erklimmt.

Zu unserer beider Überraschung treffen wir eine munteren Jungkook an, der am Wohnzimmerfenster sitzt und in seinem Skizzenbuch zeichnet.

„Oh, Yoon! Was tust du hier? Guten Morgen, Taehyung."

Ich entschließe nach einem knappen Hallo mich den Frühstück zu widmen. Yoongi schreitet derweil auf einen verwunderten Jungkook zu und geht vor diesem in die Hocke. Tief seufze ich, als Yoongi seinem Freund die traurige Botschaft überbringt.

„Was?", kommt er schockiert von dem Jüngsten. Er hält sich die Hand vor den Mund und ringt mit den Tränen.

„D-das tut mir so leid, Hyung... Weiß es deine Mama schon? Wie geht es ihr?"

Yoongi lacht bitter und schnieft anschließend, den Kampf gegen die Tränen verlierend.

„Sie alle wissen es, Koo", beginnt der Ältere und gibt seinem besten Freund einen Kuss auf die Stirn. „Ich wollte es dir nur persönlich sagen, da du ihn ja auch gut kanntest. Ich wollte nicht, dass die anderen dir über das Telefon Angst machen."
Kaum hat Yoongi diese Worte ausgesprochen, nimmt ihn Jungkook in den Arm. Leise weinen sie beide und spenden sich Trost.

Von meinem Platz in der Küche aus, wage ich es nicht einmal laut zu atmen. Ich fühle mich so fehl am Platz.

Bei dem Anblick des trauernden Sohnes überkommt mich das schlechte Gewissen. Die vergangene Zeit hat mich Yoongis Anwesenheit oft ins Stocken gebracht. Seine fuchsigen Blicken fühlten sich an, wie die des obersten Gerichts. Von Anfang an ist mir klar gewesen, würde mir mit Jungkook ein Fehler unterlaufen und würde Yoongi davon Wind bekommen, wäre ich der letzte der lacht.

Den jungen Mann allerdings nun so zu sehen, trauernd, klein und dennoch sich um Jungkook sorgend. Vielleicht habe ich ihn doch falsch eingeschätzt und seine teils bittere äußere Erscheinung auf sein Inneres projiziert. Jungkook hat selbst gesagt, dass man Yoongi erst einmal richtig kennenlernen muss, um seine gute Seite zu sehen.

Vielleicht hat der Sohn das jetzige Geschehen bereits im Voraus gespürt und war deshalb so rastlos und voller Sorge.
Wundern würde es mich nicht.

~•~

Schweigend richte ich den beiden am Tisch das Frühstück an. Jungkook sitzt dicht an Yoongis Seite und hält seine Hand. Zuvor habe ich dem Trauernden, dessen dunkles Haar ihm matt in die Stirn hängt, ein Glas Whisky angeboten. Nickend hat er das Getränk angenommen und in einem Schluck heruntergeschluckt. Er hat nicht ansatzweise gezuckt.

Ich nehme indessen auch Platz und mustere mit Sorge den Jüngsten und wie er sich innig an seinen Freund schmiegt. Er versucht ihn durch seine Wärme und Nähe zu trösten. Yoongis Augen sind rot umlaufen.

„Die Beerdigung findet wahrscheinlich kommendes Wochenende statt. Sie sind gerade dabei ihn aus dem Ausland hierher zu bringen. Deine Eltern sind auch dabei. Sie kommen dann auch wieder nach Hause", berichtet der Älteste, den Blick dabei starr aus dem Fenster gerichtet. Seine Stimme wirkt gebrochen.

„Hobi und Jimin haben deswegen auch ihre Hochzeit um einige Wochen verschoben, aber das werden sie dir bestimmt noch persönlich sagen, Koo. Tut mir leid."

Der Jüngste schüttelt den Kopf und gibt seinem Freund anschließend einen Kuss auf die Wange.

„Du musst dich doch nicht entschuldigen. Ich danke dir, dass du mir das alles gesagt hast und heute zu mir gekommen bist."

Er lässt seinen Kopf an der Schulter des etwas Kleineren liegen. Stummen rennen Yoongis Tränen herab.

„D-du musst auch nicht auf seine Beerdigung, wenn du nicht kannst. Das ist für uns alle verständlich", spricht Yoongi nach einigem Schweigen. Das Frühstück ist derweil wieder eiskalt. Mein Hals ist trocken.

„Ich begleite dich, auf jeden Fall. Wenn Taehyung allerdings mitgehen dürfte, wäre das für mich eine Entlastung."

Die Blicke der beiden wandern auf mich zu. Überrascht weiten sich meine Augen. Fehl am Platz.

„Oh... Ich", beginne ich stockend.
„Wenn das für euch in Ordnung ist und es niemandem bei diesem privaten Ereignis missfällt, dann... Ich begleite dich Jungkook", spreche ich unsicher, doch die Erleichterung, die mir auf einmal entgegenwirkt, lässt meine vor Aufregung verspannten Muskeln weich werden.

„Danke dir, Taehyung", bedankt sich Yoongi. Seine Stimme ist rau.

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