Kapitel 35
Jungkook
Ungeduldig sitze ich auf der obersten Stufe. Vor mir tut sich die gesamte Eingangshalle auf, die vom einfallenden Licht der Eingangstür und hohen Fensterfront durchflutet wird. Das Licht ist angenehm warm. Solche Sonntage habe ich schon immer gemocht.
Müde strecke ich mich und gähne. Das dünne Jäckchen um meine Schultern versucht sein Bestes. Es ist früh am Morgen und ich bin alleine. So bin ich auch heute Morgen aus dem Bett geklettert. Den Vorhang habe ich alleine aufgezogen. Mein Frühstücksei in der Pfanne habe ich beinahe anbrennen lassen.
„Dank dir habe ich völlig vergessen, wie man kocht, Tae", bemerke ich und schaue ungeduldig auf das alte Handy.
Es ist Sonntag, als Taehyungs freier Tag. Normalerweise würde ich nun mit Yoongi zusammen auf der Couch dösen und seinen Geschichten aus dem echten Leben lauschen. Währenddessen würde ich mir aber wie immer wünschen, wirklich dabei gewesen zu sein. Auch wenn es nur der Gang zum zuständigen Amt wäre, da Yoongis Antrag auf ein Wiederholen des Semesters abgelehnt wurde. Das würde mich so glücklich machen.
Ich habe ihm diesen Morgen abgesagt, ihn gebeten mir den Tag zu überlassen und zu gestalten, wie es mir beliebt. So habe ich Taehyung gefragt, ob er mit mir in die Stadt gehen möchte; diesen Spaziergang endlich nachholen. Ich möchte mit ihm nichts weiter als Zeit verbringen, in der ich nicht sein Patient bin. Ich möchte mehr sein. Dieses Haus, das mich an sich kettet, wie einen alten Hund, wirkt so, als wolle es mich langsam aber sicher erschlagen.
Ungeduldig warte ich auf eine Antwort des Älteren.
Mein Kopf liegt gestürzt auf meinen Händen. Die Beine habe ich überschlagen und nervös wippt mein Fuß auf und ab.
Wie viel Zeit ich bereits durch einfaches Warten verloren habe? Eigentlich würde ich nun beginnen für die kommenden Winterprüfungen zu lernen. Ob ich überhaupt noch weiß, wie man das tut?
Ein alles sagender Ton zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Es ist eine Nachricht von Taehyung.
Tae
Wenn es unbedingt sein muss, ich bin unterwegs. Mach' dich fertig.
Sent: 09:55 a.m
Strahlend springe ich auf und stürme zurück in mein Zimmer, vorbei an eine verwunderte Madam Lim. Das wird ein wunderbarer Tag in der Stadt.
~•~
„Und du denkst, dass das eine gute Idee ist? Wird das nicht zu viel nach... Na ja, nach dem Arzttermin?"
Überzeugt schüttele ich den Kopf. Ich mag meinen Nebenan zwar nicht sehen können, doch spüre ich seinen besorgten Blick durch meine Augenbinde hindurch.
Ich suche nach seiner Hand.
„Du hast es selbst gesagt. Wir werden es diesem Arzt, Fr. Jung und meinen Eltern zeigen, dass ich auf dem Weg der Besserung bin. Und wie kann
man einen Neustart nicht besser beginnen, als mit einem schönen Tag in der Stadt. Wir gehen spazieren, gehen etwas essen und/oder trinken. Wir können Sachen kaufen, die wir nicht brauchen. So viele Möglichkeiten."
Voller Vorfreude würde ich am liebsten zu Fuß in die Stadt rennen. Der Tatendrang erweckt förmlich unbekannte Stärken in mir.
„Nur langsam, Mr. Ich-Erobere-die-Welt. Wir bleiben vorsichtig und verantwortungsvoll in deinem Zustand. Ich freue mich, dass es dir immer besser geht, aber übertreiben wollen wir heute auch nicht."
Er wirkt überrascht. Ich werde ihm aber noch beweisen, dass er mir mehr zutrauen kann, als er derweil denkt. Habe ich mir etwas in den klaren Kopf gesetzt, lasse ich nicht mehr so schnell los.
„Ich möchte ein Eis."
~•~
In der Mittagssonne spazieren wir gemeinsam am Flussufer. In meiner Rechten halte ich ein Eis, das mir Taehyung gekauft hat. Schokolade schmeckt so toll. Ich habe das schon fast vergessen. Zu meiner Linken befindet sich der Blonde, dessen Schal ihm das halbe Gesicht verdeckt. Seine Haare sind etwas zerzaust. Bei seinem Anblick muss ich lächeln. Sein aufmerksamer Blick liegt ununterbrochen auf mir.
Ich greife nach seiner Hand. Er hält sie fest.
Die Sonne spiegelt sich im Wasser des Flusses und es schaut aus, als würde die Strahlen darin tanzen. Neugierig beobachte ich das Schauspiel. Sowas habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Ich trete näher an den Rand, der abgegrenzten ist von einer metallenen Reling. Den Älteren ziehe ich hinter mir her.
„Warum ist die Welt draußen so schön? Ist das schon immer so?"
Ich wende mich dem jungen Mann zu, der an meiner Seite wacht. Seinen Ausdruck kann ich nicht genau ausmachen. Er seufzt.
„Komm', lass uns was essen gehen."
Wieso wirkt er so nervös?
~•~
Es ist mittlerweile Abend. So funkelnd habe ich die Sterne schon seit langen nicht mehr gesehen. Dass der Himmel so klar bei Nacht ist und das noch im September, wie konnte ich das bloß vergessen.
Wir sitzen im Wintergarten eines italienischen Restaurants, das ich einmal mit Jimin besucht habe, nachdem er mich kurzerhand überfallend eingeladen hat. Er hatte an diesem Tag einen Streit mit seinem Verlobten, der damals noch sein Freund war. Hoseok kam allerdings, während ich Jimins Worten über den Streit lauschte, mit einem überdimensionalen Blumenstrauß angestolpert, die Augen verweint, unverhofft auch dazu. Wenn ich so zurückschaue, denke ich, dass die beiden sich an diesem Abend enger in der Armen lagen, als die Nächte zuvor.
„Guten Abend, die Herren. Möchten Sie zu ihren Speisen vielleicht auch etwas Spezielles trinken?"
Bei dieser Frage werde ich hellhörig. Jimin erwähnte damals den grandiosen Rotwein, den dieses Restaurant ausschenkt. Das letzte Mal bin ich leider nicht in den Genuss gekommen.
„Zu ihrem besten Rotwein würden wir beide nicht nein sagen", lächele ich.
„Jungkook! Ich muss nur fahren. Und du! Du bist nicht gesund!", flüstert der Ältere schockiert. Seine aufgeflammte Sorge bringt mich zum Lachen. Ich nicke dem Kellner anschließend zu, worauf dieser uns wieder verlässt.
„Ich weiß, aber ein Glas wird uns beiden nicht schaden. Außerdem, ich habe dich auf dieses Essen eingeladen. Wir sind hier als Freunde und nicht als... Als das, was wir bei mir zu Hause sind. Ich möchte dir einen schönen Abend machen und dazu gehört eben ein Glas an gutem Rotwein. Genieß es, Tae. Bitte."
Während ich spreche, greife ich wieder nach seiner Hand. Er trägt ein dunkles Armband. Die Aufschrift kann ich nicht lesen.
„Na, wenn du meinst. Sage mir aber sofort, wenn es dir nicht gut geht. Wir werden dann unverzüglich wieder nach Hause gehen. Verstanden?" Ich nicke ihm zustimmend zu, kann mir aber ein Lächeln nicht verkneifen. So glücklich wie heute war ich schon seit langem nicht mehr.
Es dauert nicht lange, da wird auch unser Essen serviert. Während ich mich für ein einfaches Pastagericht entschieden habe, Tae ist schon beim einfachen Anblick der Worte, das Wasser im Mund zusammengelaufen.
„Ich wusste gar nicht, dass man hier sowas wie Fleisch in Rotwein überhaupt aufgetischt bekommt."
Große Augen bewundern das schöne Stück Fleisch in einer Rotweinsoße, verziert mit den verschiedensten Kräutern und Brotbeilagen. Taehyung mustert das Gericht, als hätte er so etwas noch nie zu Augen bekommen.
„Meine Mutter hat das mal zu Hause selbstgemacht. Eines Tages kam sie mit einem Kochbuch nach Hause und kochte nur noch so etwas."
Er sticht mit der Gabel in das zarte Fleisch und schneidet anschließend ein kleines Stück ab.
„Hier! Probier mal."
Da ich selbst noch vor einem unangerührtem Teller sitze, besteht meine erste Reaktion aus Zögern. Der Ausdruck des Älteren wird sanfter, als er meinen leichten Schreck erkennt. Wieder fordert er mich, diesmal viel achtsamer, auf das Fleisch zu probieren. Er lehnt sich über den Tisch und füttert mich, sodass ich probieren kann. Es schmeckt gut.
Wir verfallen in ein Gespräch über alles Mögliche. Es wird gelacht, gegessen und getrunken.
Taehyung bleibt bei einem einzigen Glas Wein, während meines sich zu zwei wandelt, zwei zu drei und—
„Jungkook, das reicht." Die Stimme ist strenger.
„Wieso? I-ich hab' doch noch nich so... Viel." Ich hickse auf und mein Blick fällt auf den halb gegessenen Teller Pasta und eine leere Flasche Wein.
„Wir sollten nach Hause gehen."
Unbeholfen reiche ich dem Blonden etwas später meinen Geldbeutel, damit er die dreistellige Rechnung des Restaurants bezahlen kann. Ich starre währenddessen stumm auf meine Hände, die leicht zitternd auf meinen Schoß liegen. Genervt schüttele ich den Kopf. Der Kellner ist mittlerweile wieder verschwunden. Nun zeigt der Alkohol in meinem Körper seine wahre Wirkung.
„Weißt du, Tae", beginne ich mit schwerer Zunge. Mein Kopf ruht auf Taes Schulter, während wir den Weg zurück zu unserem Auto schreiten. Es ist finster und nur die Sterne und Straßenlichter weisen uns den Weg. „D-du bist seit Anfang von dem Jahr jetzt... An meiner Seite. Und jetzt... Es ist Ende September. Ich hatte sogar schon Geburtstag." Jeder Schritt wird irgendwie immer schwerer. Wie weit ist es denn noch?
„Jimin und Hobi, die heiraten ja schon bald. November ist schon sooo nah", gestikuliere ich mit den Händen. Der junge Mann an meiner Seite hebt bloß die Brauen. Er ist so still.
„Die letzte Zeit war irgendwie die Schönste seit langem. Ich wünschte, das würde nie.... Sag'... Sag' das jetzt ja nicht meinen Pfleger. Oke?" Ich wanke weiter an seiner Seite, der Kopf völlig wirr.
„Er soll nicht wissen, dass ich dich mag. Nicht, dass er eifersüchtig wird oder so. Ich mag schließlich nur dich." Ich grinse breit, die Wangen glühend rot. Mir ist schwindelig und die Müdigkeit übermannt mich so langsam.
„Wir müssen nach Hause", entgegnet der andere und packt mich fest an der Hand, damit er mich hinter sich herziehen kann. Ich stolpere, aber beklage mich nicht. Der Nebelschleier in meinem Kopf lichtet sich langsam. Etwas anderes nimmt allerdings kriechend seinen Platz ein. Die Reflexion des Mondes im wiegenden Wasser des Flusses nimmt langsam die Gestalt etwas Abnormalem an.
Als wir kurze Zeit später am Auto ankommen, spüre ich mein Herz hektisch pochen. Anscheinend habe ich Angst oder bin beunruhigt. Der Blonde öffnet mit der Schlüsselkarte den Sportwagen, den mein Vater mir zu meinem 18. Geburtstag geschenkt hat. Er möchte mir gerade die Tür öffnen, damit ich einsteigen kann, doch überkommt mich etwas. Ich lege meine Hand auf seine Schulter und drehe ihm zu mir.
Seine Augen strahlen Verwunderung aus, doch hindert es mich nicht, ihn anschließend zu küssen.
Seine Lippen sind so weich. Ich schmelze förmlich in die Berührung und fasse ihm an die kalte Wange. Er erwidert zu Beginn, doch löst er sich nach einigen Sekunden der Nähe. Ich möchte ihn erneut küssen.
„Hältst du mich für verrückt?", frage ich, als ich in seine Augen etwas erkenne, was Furcht oder Schreck am nächsten kommt.
„Ja."
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