Kapitel 2
Jungkook
Gestrüpp und Sträucher peitschen ihn wie die Postkutscher durch die Dunkelheit. Das tote, herabgefallene Geäst bricht unter den gehetzten Schritten seiner Sohlen. Ein Gefühl des Gejagtwerdens schwelt in seinen Adern, während seine Gedanken und Ängste ihm auf den Versen sind und stetig aufholen. Die Muskeln in seinen Waden brennen, wie kleinste Glassplitter in der Haut. Jeder Schritt wird schwerer und schwerer.
Es ist dunkel. Das Mondlicht ist zu schwach, um durch das Blätterdach des Waldes zu scheinen. Man sieht kaum die Hand vor Augen, doch er rennt und rennt und rennt und rennt...
Der Untergrund ist rutschig, steinig, uneben. Vermehrt kommt er ins Straucheln, als die Musik zwischen den Bäumen verklingt.
Aber er ist immer noch nicht weit genug davon. Er muss weiter, einfach weiter. Jeder Gedanke schmerzt und bremst ihn aus. Wie lange er wohl schon durch die Dunkelheit hetzt?
Er weiß es nicht.
Seine Umgebung verliert immer mehr an Sichtbarkeit und bis auf das dröhnende Pochen seiner Herzens, kann er nun keinen fremden Ton mehr ausmachen.
Bodomm. Bodomm.
Das, was er hört, das ist einzig sein Herz.
Sein rasendes Herz. Es stürmt ihm beinahe voraus und treibt seine Glieder dazu zu beben. Wann wird er endlich zum Stehen kommen?
Er weiß es nicht.
Rücksichtslos saugen sich die Socken unter den schwarzen Oxfordschuhen voller kaltes Wasser. Augenblicklich ziehen sich die Muskeln seiner Zehen zusammen und behindern seine Flucht drastisch. Befindet er sich gerade fast knöcheltief in einer Pfütze? In einem See?
Er weiß es nicht.
Sein Blick streift umher, unfähig auch nur etwas zu erkennen, doch er bleibt nicht stehen. Das Wasser spritz ihm entgegen. Er kann nicht stehen bleiben, er muss immer weiter. Schritt für Schritt watet er dem vermeidlichen Ufer entlang. Irgendwohin müsste es doch führen.
Ist da wer?
Das Flattern von aufgeschreckten Vögeln weckt seine Aufmerksamkeit. Er kann sie nicht erkennen. Nur das kraftvolle Schwingen ihrer Federn ist zu hören. Verwundert bremst er seine Flucht, doch er darf nicht zum Stehen kommen. Unruhig schaut er zum wiederholten Mal durch das Düstere und steht nun bis zu den Knien in kaltem Wasser.
Es hat sich so angehört, als würde etwas aus tiefster Kehle grollen. Äste knacken. Seine Atmung geht schwerer, denn die Anstrengung und Furcht haftet an seinen Sohlen. Seine Lippen beginnen zu zittern. Ob es die Kälte oder das brodelnde Gefühl der Angst ist, das durch seine verkrampften Adern fließt.
Er weiß es nicht. Also läuft er weiter. Sein Körper setzt sich wieder in Bewegung, bis er dicht vor seinem Gesicht eine rasche Bewegung ausmacht.
Rote Augen fixieren ihn. Unfähig sich zu rühren, verliert er sich im satten Leuchten. Er sollte durch die Bedrohung von all seinen Sinnen gewarnt werden. Was tut er nur?
Er weiß es nicht.
Das Glühen der Augen bringt ihn in Trance.
Es kommt auf ihn zu.
Eine gewaltige Pranke prescht auf ihn zu und Federn fallen von dessen zerrupften Federkleid. Es hat Klauen, so groß und stark, wie die eines Drachen.
Monster...
Angeschlagen strauchelt er nach hinten und verliert schließlich doch die Balance. Er geht zu Boden und stürzt in das eisige Wasser. Hart treffen seine Handballen auf den spitz kantigen Grund. Er weiß noch gar nicht, was passiert ist. Seine Gedanken kreisen nur um eine einzige Person. Aber diese kann ihn nicht schon wieder retten.
Hilfe.
Sein Blick, befallen von Schmerz, sucht nach ihr. Benommen fasst er an seine Seite. Das Wasser ist unerträglich kalt. Von den Rippen, über das Schlüsselbein, bis zu seiner rechten Schläfe. Der Schmerz zieht sich quer über seine Haut, die Kälte verstärkt dieses Empfinden um das Dreifache.
Seine Kleidung ist von kaltem Wasser getränkt und beginnt ihm noch übler zuzusetzen. Es ist pechschwarz und ist dabei ihn zu verschlingen. Die Flüssigkeit umschließt seinen geschädigten Körper. Wie die Pranke des Wesens, so kraftvoll und ohne Entringen, zieht ihn der schwarze See zu Grund.
Und alles wird düster.
Yoongi, hilf mir.
~•~
,,Jungs! Hey, ich glaube, er wird wach."
Der Geruch von medizinischem Alkohol liegt in der Luft und ein gleichmäßiges Piepsen ist zu hören. Flatternd öffne ich meine Lider, denn anders ist es mir einfach nicht möglich. Sie wiegen viel zu schwer. Sie stechen. Es ist mir allerdings unmöglich etwas zu erkennen, da mir kaltes Licht die Möglichkeit nimmt meine Umgebung auszumachen. Ich möchte Luft holen, tief Luft holen, aber spüre ich, wie meine Lippen verschlossen bleiben, als wären sie versiegelt. Schwächlich befeuchte ich sie darauf. Sie haften durch bereits eingetrockneten Speichel aufeinander. Ich bemerke das Brennen, als ich meinen Mund öffne und die Haut sich ein wenig, aber sehr schmerzhaft, auftrennt. Keinen Wimpernschlag später schmecke ich auch den Geschmack von Eisen. Blut rinnt zart in meinen Mundraum und versickert dort.
„Koo...", spricht eine Stimme. Alle meine Sinne und Reflexe sind geschwächt, völlig ausgelaugt. Als ich diese Stimme höre, habe ich das verlangen mich aufzurichten, diese Person zu sehen. Sie beruhigt mich, sie lässt mich nicht in meiner dicken Angst versinken.
„Beruhige dich— Es ist vorbei. Wir sind alle bei dir."
Ich spüre eine zärtliche Hand an meiner Wange. Sachte streichen deren Finger über meine kalt schweißige Haut, wenn ich doch bloß dieses Gesicht erkennen könnte, doch ist es einfach zu hell.
„Ich kann nichts sehen..", verlässt es meine kratzende Kehle viel zu leise.
Hilflos versuche ich mich aufzurichten. Ich höre nervöses Getuschel, aber auch beruhigende Worte einer Person, die versucht meine aufsteigende Panik zu lindern.
„Wir sind alle bei dir, Koo. Du musst dich beruhigen", spricht die Person erneut, die ich einfach nicht erkennen kann.
„Bitte, ich... I-ich kann nicht." Ich möchte auf Knien bitten, dass dieses grelle Licht einfach erlöschen mag.
Eine Tür öffnet sich.
Zwei weitere Personen scheinen den Raum zu betreten, in dem ich mich wohl befinden muss. Die Schritte hallen quer durcheinander. Das Klacken von Absätzen ist ebenfalls zu hören. Es muss sich bei der einen Person wohl um eine Frau handeln, oder um Jimin. Dieser trägt auch für sein Leben gern Schuhe mit Absatz. Diese Erinnerung beruhigt mich.
„Was eine Erleichterung, Hr. Jeon. Sie sind endlich wach", meint eine Stimme, die ich noch nie zuvor gehört habe. Ich schlucke, da mein Hals vor lauter Trockenheit brennt. Ziellos lasse ich meine Augen umherirren, doch kann ich immer noch nichts erkennen. Die fremde Stimme, männlich müsste sie sein, tritt wohl näher an mich heran. Ich rieche ein starkes Deodorant, das beinahe den Geruch des medizinischen Alkohols überdeckt. Es ist kein schlechter Geruch, doch in diesem Moment, ist es mir einfach zu viel.
Leise wimmernd, wende ich den Kopf von der Quelle des Dufts ab und verschließe meine Augen. Nun ist es endlich wieder dunkel und die Hand, die zuvor über meine Wange gestrichen hat, ist wieder zurück. Eine angenehme Gänsehaut überzieht meinen Nacken, als die Finger wieder über mein Gesicht streichen. Ich weiß aber nicht wer das ist.
„Sie sind der nächste Angehörige, der für den Patienten zuständig ist? Und sie alle sind Freunde? Mein Name ist Lee Sun-oh. Der zuständige Arzt", höre ich ihn sprechen, der seine Fragen an die restlichen Personen im Raum richtet. Es müssen sich also noch weitaus mehr Leute in meiner Nähe befinden, wie ich vermutet habe.
„Mr. Park und ich sind die zuständigen Angehörigen. Der Rest sind Freunde."
Das Streichen auf meiner Wange wird erneut kurz unterbrochen. Diese Stimme zu hören, ist jedoch ein genügender Trost.
Sie ist mir so vertraut.
„Wie es scheint, ist der Patient noch nicht wirklich ansprechbar. Dies ist eine völlig normale Entwicklung. In den kommenden Tagen wird er sich voraussichtlich wieder erholen", beginnt der Arzt zuversichtlich. „Wollen sie den vorliegenden Bericht der Untersuchung selbst lesen, oder kann ich die Angelegenheit offen in der Gruppe aussprechen?"
Die Person an meiner Seite, die nun zärtlich durch mein Haar streift, bejaht die Aussage des Mannes, dass die gesamte Gruppe und auch ich diesen Bericht zu Gehör bekommen darf. In diesem Moment ist es mir gar nicht möglich dagegenzuhalten, denn ich selbst möchte wissen, was in diesem Bericht steht. 'Was der Patient wohl hat?'
„Die Befunde mögen drastischer klingen, als sie sind. Lassen Sie sich davon nicht beirren. Mr. Jeon hatte mehr Glück als Verstand."
Ich höre das Rascheln von Papier, er muss wohl die erste Seite aufgeschlagen haben.
„Äußerlich des Patienten haben wir Traumata an den Händen, am Rücken und an der rechten Kieferpartie und Schläfe behandelt. Ebenfalls sind uns großflächige Hämatome an der rechten Rippengegend aufgefallen, die sich bis rauf zu seinem Schlüsselbein ziehen. Daraufhin haben wir uns den vermuteten, inneren Verletzungen gewidmet. Die Röntgenaufnahmen und weiteren Untersuchungen haben bestätigt, dass der Patient zusätzlich unter geprellten Rippen, einem gequetschten Knöchel und einem gestauchten Handgelenk leidet. Wir haben diese Traumata bereits erfolgreich behandelt und es wird einfach Zeit brauchen, bis Mr. Jeon wieder voll genesen ist."
Die Person an meiner Seite, die während des gesamten Berichts eine unheimliche Unruhe ausgestrahlt hat, scheint sich nun zu beruhigen. Ein schwaches Lächeln schmückt daraufhin meine Lippen, da ich mich für die Person so sehr freue, dass sie nicht mehr beunruhigt ist.
„Was uns jedoch am meisten Sorge bereitet hat, ist die Tatsache, dass sich der Patient für einen längeren Zeitraum unter Wasser befunden haben muss", berichtet der Mann anschließend und ein erschrockenes Raunen zieht sich durch den Raum. Und dahin ist die Ruhe, die die Person an meiner Seite empfunden hat.
„Und was heißt das für ihn?", spricht Jimin, dessen Stimme ich unter unzähligen wieder erkennen würde.
„Sind dabei bleibende Schäden entstanden?" Eine weibliche Stimme erhebt das Wort. Wieder ist das Geräusch von Absätzen auf dem Boden zu hören.
Ich kenne die Stimme. Diese Frau, ich kenne sie. Unruhe breitet sich in mir aus, als hätte ich etwas vergessen. Wie, als hätte ich meinen Topf auf der Herdplatte vergessen. Ich bin mir einfach nicht sicher. Nervös beginne ich mit dem Bein zu wippen und vergrabe das Gesicht weiter in meinem Kopfkissen, um der Hand, die stetig meine Haare streichelt, immer näherzukommen. Ich fühle mich so, als würde ich fallen.
„Jungkook, beruhige dich", spricht mir die Stimme der beunruhigten Person zu, doch ich kann mich nicht beruhigen. Meine Atmung beschleunigt sich und das Piepsen, das zuvor noch völlig ruhig gewesen ist, nimmt drastisch zu.
'Ich habe etwas vergessen. Aber was?'
„Ich denke, wir brechen diese Besprechung jetzt ab und verlegen sie auf außerhalb des Zimmers. Mr. Park, Mr. Min, wenn sie mir folgen wollen. Ich werde ihnen natürlich Rede und Antwort stehen." Mit diesen Worten bewegt sich der Mann aus dem Raum. Die Unruhe haftet jedoch in der Luft, wie sein starkes Deodorant.
„Ich bleibe bei ihm. Er braucht jetzt Ruhe. Am besten ist, dass—"
Jemand unterbricht die Person neben mir. Diese Stimme kenne ich auch.
„Ist in Ordnung. Wir lassen euch allein. Ruf' uns aber, falls du einen Wachwechsel brauchst." Mit diesen Worten verlassen viele Schritte den Raum. Ich kann gar nicht mitzählen, da es mir viel zu viele sind. Nur die Schritte der Absätze kommen nähe auf mich zu. Und als eine Tür in ihr Schloss fällt, herrscht völlige Stille.
Der kühle Stoff des Kissenbezugs lindert die Hitze, die in meinem Kopf wütet. Mir fällt einfach nicht ein, was ich vergessen habe. Meine ganzen wirren Gedanken verfallen ins Chaos. Die Person an meiner Seite muss bestimmt auch so beunruhigt sein. Die Matratze zu meinen Füßen senkt sich ein Wenig, als sich jemand sachte darauf setzt.
„Oh, Jungkook", spricht die weibliche Stimme voller Sorge. Ihre Anwesenheit erinnert mich immer noch an etwas und es macht mir Angst.
Warum fällt mir nicht ein, was ich vergessen habe?
„Beruhige dich, du bist in Sicherheit."
Ich spüre einen Kuss auf meiner Stirn und die Hand, die mir zuvor Halt gegeben hat, in dem sie mich zärtlich berührt hat, ist nun am Zittern. Mir fällt der Name der Person, deren Geruch mir so vertraut vorkommt, einfach nicht ein. Ich weiß, dass ich ihr vertrauen kann. Ein starkes Gefühl von Zuneigung geht von ihr aus. Aber der Name ist weg, einfach weg.
„Soll ich euch allein lassen? Er wirkt durch meine Anwesenheit... Das tut ihm jetzt nicht gut." Die Tonlage der Frau schwächt ab, sie wirkt kleinlich, sogar etwas traurig. Dass sie recht hat, das spüre ich, als sie den Raum schnellen Schrittes verlässt und endlich das grelle Licht ausschaltet. Sie klopfte davor der Person noch auf die Schulter, worauf hin diese sich bei ihr entschuldigt. Die Stimme ist ganz heißer geworden.
„Es tut mir so leid... das ist meine—"
Wieder wird die Person unterbrochen.
„Rede keinen Stuss. Wir allen wissen, wer daran die Schuld trägt. Und keiner davon befindet sich in diesem Raum." Mit diesen Worten verlässt sie uns. Das Klacken ihrer Absätze ist noch für eine ganze Weile zu hören.
Sachte wage ich es meine Augen zu öffnen, nachdem ich mein Gesicht aus dem weichen Kissen winde. Es kostet mich etwas Überwindung, doch nach einigen Wimpernschlägen gelingt es mir. Nur das angenehme, warme Leuchten einer Nachttischlampe erhellt den Raum. Ich schaue an die Decke. Das schwache Licht ist ein Segen. Ich danke der Frau vom ganzen Herzen.
Der Person an meiner Seite habe ich noch keinen Blick widmen können. Meine Hand, die ihr am nächsten ist, ist an unzählige Gerätschaften angeschlossen, die beweisen sollen, dass ich mich noch unter den Lebenden befinde. Mit dieser etwas beeinträchtigten Hand greife ich nach den Fingern der Person, dessen Name mir entfallen ist. Ich öffne den Mund, um ihr etwas zu sagen. Hoffentlich wird sie mir weiterhelfen.
„Ich— Ich weiß nicht mehr. Wer bist du?"
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