Kapitel 18
Taehyung
Die Straßenlichter rauschen an mir vorbei wie Irrlichter. Sie reflektieren in Pfützen, die sich an den Straßenrändern, zwischen Bordstein und Asphalt, angesammelt haben.
Es ist dunkel geworden und die Vorstadt liegt bereits weit hinter mir. Im Augenblick befinde ich mich zwischen den äußeren Bezirken im Herzen der Stadt. Grell-leuchtende Neonlichter, Reklametafeln und die ganz herkömmliche Straßenbeleuchtung weisen mir den Weg, den ich planlos auf meinem Motorrad hinter mich lege und bereits gelegt habe.
Es ist noch nicht einmal Mittag gewesen, als ich mit durchdrehenden Reifen das Anwesen Hals über Kopf verlassen habe. Mehr oder weniger freiwillig.
Ich habe ihn am Zimmerfenster beim Spähen erkannt. Ganz gleichgültig stand er da und hat mich beobachtet, wie ich mit eingezogenem Schwanz das Weite suchen musste.
Ich bin wütend gewesen. Ja, gebe ich auch ungeschönt zu.
Als die erste Welle an Zorn jedoch wieder abgeflacht war, hat mein Gewissen wieder die Zügel in die Hand genommen. Dieses Gefühl von Wut, das in mir gebrannt hat wie ein angeheizter Ofen, hat mir um ehrlich zu sein die Hände vor Augen gehalten.
Die Stille nach dem Schuss.
Ich habe mich hilflos gefühlt.
Ruckelnd kommt das schwarze Motorrad, das neben Titus mein ganzer Stolz ist, zum Stehen. Ich bin gerade in eine weitere Nebengasse abgebogen, die sich in der Nähe einer Allee befindet, deren Mietpreise ein halbes Vermögen kosten müssen. Die Umgebung sieht gepflegt aus, Bäume ordentlich gestutzt und Straßen frei von dem Dreck der Großstadt. Eben genau das, was man unter einem Nobelbezirk versteht.
Wie genau ich hier überhaupt hingelangt bin, weiß ich nicht. Mein Zuhause liegt mindestens eine Stunde Fahrweg von hier entfernt.
Übertriebenermaßen habe ich mich vielleicht etwas von der fast 200 Ps starken Maschine leiten lassen. Jedes Abbiegen habe ich zufällig getroffen. Man sieht, wohin es mich geführt hat. Ich bereue es zutiefst - aber nicht alleine das.
In meinem Schädel sind nur dieser Junge und seine Worte umhergekreist. Sein Verhalten, seine Expression. Ich sollte damit doch umgehen können? Warum beschäftigt es mich dann so? Ich wäre nie als ein Pfleger zugelassen worden, würde ich nicht wissen, mit diesen Situationen, mit diesen unvorhersehbaren Ereignissen umzugehen.
Diese Spazierfahrt ist als Art Erholung gedacht gewesen, um den Kopf etwas freizubekommen. Damit habe ich mir aber schön ins eigene Fleisch geschnitten.
„Das darf doch nicht wahr sein", fluche ich, sodass sich meine Kiefermuskeln verspannen und die Backenzähne aufeinandertreffen. Die Kopfschmerzen sind dann wohl auch nicht mehr weit.
„Leck mich doch am Ar—"
Meine Worte sind ein einziges Fluchen und Bereuen. Ich könnte mir förmlich selbst in den Hintern beißen, denn ich habe auf alles geachtet, nur nicht auf den Benzinstand meines Gefährts. Zusätzlich wird es langsam kälter, Wind zieht hastig durch die Straßen und der Geruch in der Luft verrät, dass es jeden Augenblick anfangen könnte zu regnen.
Wenn man vom Teufel spricht.
Ich blicke in den dunklen Himmel, an dem keine Sterne zu erkennen sind, und erblicke bereits die ersten Wassertropfen, die am Visier meines Helmes abperlen. Dieser Anblick lässt mich aufseufzen und die Hände über dem Haupt zusammenschlagen. In diesem Augenblick befinde ich mich meilenweit von meinem Zuhause entfernt. Die Strecke beträgt mindestens eine Laufdauer von knapp zwei Stunden, wenn ich das Schieben des Motorrads mit einberechne.
Mich meinem Schicksal unterwerfend, steige ich von dem Vehikel herab und schiebe es die Straße entlang. Bis auf sich im Wind wiegende Bäume und Hecken befinde ich mich alleine in diesem Wohnviertel. Die Lichter in den Häusern sind erloschen und nicht mal eine Katze huscht an mir vorbei.
„Ab acht Uhr ist hier ja wirklich tote Hose," kommentiere ich, als ich meine Umgebung in Augenschein nehme, da ich nicht wirklich etwas Besseres zu tun habe. Vielleicht tut mir dieser viel zu lange Spaziergang ja gut und ich komme auf andere Gedanken. Jungkook sollte sich das auch einmal zu Herzen nehmen.
Aber wer bin ich, der so etwas behauptet?
Nun beginnt die Umgebung wieder mehr wie die Großstadt auszuschauen, für die sich ausgibt. Die Gegend wird karger, geprägt von Beton verschiedenster Gebäude, die etwas weiter bis in den Nachthimmel ragen.
Dieses Gesicht der Stadt, mit dem ich aufgewachsen bin, ist mir kein Freund. Es ist mir nicht fremd, keineswegs, doch fühle ich mich nach Jahren immer noch wie der Teenager, der sich damals zwischen den Häuserschluchten verloren hat.
Das Vibrieren meines Smartphones in der Jackentasche meiner Motorradkluft lässt mich überrascht zusammenzucken. Nachrichten der Gruppe in der alte Freunde von mir und ich noch etwas flüchtigen Kontakt pflegen, werden mir angezeigt auf dem grellen Display.
Selbst meine Schwester hat eine Nachricht hinterlassen. Aber ich lese sie nicht.
Han
Hey Jungs, ich wollte euch nur wissen lassen, dass ich mit meiner Familie nach Japan ziehe. Vielleicht können wir uns dort ja eines Tages treffen.
Sent: 08:15 p.m
Archer
Bei mir wird das in naher Zukunft zwar nichts (Vaterschaftsurlaub...), aber ich wünsch' dir viel Glück dort, Han. Du wirst uns fehlen... Wir hätten uns in der vergangenen Zeit mehr bemühen müssen, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Wir haben so viel zusammen erlebt und... ja. Du wirst uns fehlen.
Sent: 08:18 p.m
Shaggy
Wird da etwa einer wehmütig? XD
Sent: 08:19 p.m
Chris
Halt doch die Klappe, Shaggy.
Sent: 08:19 p.m
Archer
Halt die Klappe!
Sent: 08:20 p.m
Archer
Danke, Chris.
Sent: 08:21 p.m
Shaggy
Ich mach' doch nur Spaß. Ihr seid ja schlimmer als Chris' Mutter o.O
Sent: 08:22 p.m
Han
Ich werd' euch auch vermissen, ihr Idioten. Ich hoffe, ihr wisst das.
Sent: 08:22 p.m
Chris
Wir dich auch. Viel Glück dort drüben!
Sent: 08:22 p.m
Chris
@shaggy, ich mach' dich gleich nen Kopf kürzer. Lass' meine Mutter da raus!
Sent: 08:23 p.m
Shaggy
Ich wünsche dir alles Gute dieser Welt. Übertreib' es nicht mit den Leuten dort drüben. Wir wissen ja was du gern' tust ;)
Sent: 08:23 p.m
Shaggy
@chris, ich beteilige deine Mutter in unseren Gespräche so oft ich es wünsche. Sie ist eine wirklich liebreizende Dame —im Gegenteil zu ihrem verkorksten Sohn.
Sent: 08:24 p.m
Han
Ich beende die Sache, bevor das hier noch eskaliert.
Sent: 08:25 p.m
Archer
Machs' gut. Die Kleine ist gerade wieder wach geworden... Ich muss euch leider verlassen. Schreibt ruhig mal wieder öfters.
Sent: 08:25 p.m
Shaggy
*schreibt*
Chris
*schreibt*
You
Viel Glück, Han.
Sent: 08:29 p.m
Kaum ist meine Nachricht in dem Chat aufgetaucht, befinde ich mich dort alleine. Es bräuchte und dürfte mich nicht wundern, geschweige denn irritieren, doch verpasst mir diese Tatsache einen Tritt. Es macht mich traurig - tut weh - aber ich weiß, dass ich nicht das Recht habe gegenüber meinen alten Freunden, Wut zu empfinden. Ich bin meines eigenen Glückes Schmied gewesen und die Klinge ist in etliche Teile zersplittert.
Ich trage die Schuld allein.
Juri/Schwesterbär
Antwortest du mir eines Tages auch noch?
Sent: 08:34 p.m
Juri/Schwesterbär
Ich kann sehen, dass du online bist.
Sent: 08:37 p.m
Juri/Schwesterbär
Du weißt, es ist unhöflich, die eigene Schwester zu ignorieren?
Sent: 08:38 p.m
Juri/Schwesterbär
Sind Sie anwesend, Hr. Kim?
Sent: 08:39 p.m
Juri/Schwesterbär
Tae, antworte mir doch bitte...
Sent: 08:40 p.m
Etliche Nachrichten meiner älteren Schwester erscheinen auf meinen Bildschirm, als ich durch die alten Chatverläufe zwischen meinen Freunden. Das, was dort zu lesen ist, erinnert mich stark an die vergangenen Monate, an die Zeit, die vor meiner Einstellung als Pfleger herrschte. Es fühlt sich an, als läge dieser Abschnitt bereits Jahre in der Vergangenheit.
Ich habe kaum noch Erinnerung daran. Und wenn ich es doch kann, dann sind es ausschließlich negative Ereignisse.
Anders habe ich es wohl nicht verdient.
*Anruf von: Juri/ Schwesterbär*
Augenverrollend nehme ich den Anruf entgegen, nachdem ich mich zügig von meinem Motorradhelm verabschiedet habe. Anstatt einem 'Hallo' oder einem „Entschuldige", antworte ich meiner Schwester mit einem tiefen Seufzen. Wie ich sie kenne, verrollt sie sehr wahrscheinlich ebenfalls ihre Augen. Da bin ich mir sicher. Wir kennen uns zu gut.
„Ich dir auch einen schönen Abend, du Hirndeckel", spricht sie und ihre Angekratztheit ist klar und deutlich herauszuhören. „Ich bete für deine Wohlergehen, dass du eine gute Ausrede parat hast, die mir erklärt, warum du seit Tagen nicht auf meine Nachrichten reagierst. Ich war kurz und dran Mama zu benachrichtigen, damit sie dir die Hölle heiß macht."
Da ich es ungemütlich finde, während des Schiebens des Motorrades mit Juri zu sprechen, steuere ich die nächste Bushaltestelle an, um dort eine kleine Pause einzulegen. Ein langer Weg trennt mich noch von meinem Bett. Der Verkehr im hiesigen Bezirk, in dem ich mich nun befinde, nimmt etwas zu. Es ist zwar noch nicht einmal nach zehn Uhr, doch ist es neben den Lauten vorbeifahrender Autos und Motorroller still.
„Was ist los, Tae? Wächst es dir jetzt schon über den Kopf? Ich kann deine Sorgen bis hier herspüren." Ein Auflachen kann ich mir nicht verkneifen. Meine Schwester kennt mich zu gut.
Müde fahre ich mit den ledernen Handschuhen durch das Gesicht. Ich bin müde. Der Regenfall, der langsam an Fahrt aufnimmt, prasselt auf das gläserne Dach der Bushaltestelle, unter der ich Schutz gefunden habe.
„Was soll schon los sein...", entgegne ich ihr und lehne mich an das Glas zurück. Der schwarze Motorradhelm liegt zu meiner Rechten und mein Blick fällt auf das gleichfarbige Motorrad, das ich im Regen auf dem Gehweg habe stehen lassen.
„Ich weiß es nicht genau, sag' du es mir." Ein zartes Kichern ist zu hören. Zusätzlich wird ihre Stimme etwas fordernder. Das tut sie immer, wenn sie etwas um jeden Preis aus jemandem herauskitzeln möchte. Diese Eigenschaft besitzt sie bereits, seitdem sie ein Kind ist. Ich müsste es ja wissen, da ich es seit von Anfang an am eigenen Leib erfahre.
„Kann es sein, dass ein gewisser Jeon Jungkook deinen letzten Nerv raubt? Ein Vöglein zwitscherte mir, dass du mit seinen Launen arg zu kämpfen hast."
Natürlich weiß sie Bescheid. Sie weiß immer über alles Bescheid. Zusätzlich ist meine Mutter so fähig Sachen für sich zu behalten, wie ein Pinguin fliegen kann. Ich hätte es mir denken können. Die beiden spielen zu oft und zu gut, gegen mich. Da habe ich wirklich keine Chance.
„Mama hat, wie ich sehe, sehr gut ihr Versprechen gehalten, nichts zu sagen."
Sie lacht. Wenn sie lacht, bringt sie mich immer damit zum Lächeln. Auch dieses Mal zucken meine Mundwinkel nach oben und ich vermisse sie einmal wieder mehr als vorher.
„Du kennst sie, Tae. Du kennst sie", kicherte sie und fügt noch hinzu, was unsere Mutter alles für sich behalten sollte.
„Ist der Junge wirklich so, wie du Mama erzählt hast?"
Die Erinnerung an das, was ich meiner Mutter über Jungkook erzählt habe, tauchen in meinem Gedanken auf. Es waren teilweise Erzählungen, die von meinen Emotionen stark beeinflusst waren.
In meiner Ausbildung zu einem professionellen Pfleger und hilfreichen Händchen für Personen wie Jungkook, habe ich alle Anforderungen mit Bravour abgeschlossen. Waren es Hilfen für den Erkrankten im Bereich des Körperlichen oder der Anpassung an Ausnahmesituationen. Doch die hinterhältige Gefühlswelt des Jungen hat mich völlig unerwartet getroffen.
Ich passe mich jedes Mal auf das Neue an, nehme seine Attacken hin, doch kratzt das alles stärker an mir, als ich erwartet habe. Ich helfe ihm gern, das ist das Mindeste, was ich tun kann.
Was soll ich aber nun tun?
Mich mehr anstrengen? Mich mehr ins Zeug legen als gut für mich ist?
„Nimm es ihm nicht übel, kleiner Bruder. Du weißt, was ich meine." Und ob ich das weiß. Dieses Wissen kettet mich, es drängt mich jeden morgen aus dem Bett zu kommen.
Das Prasseln des Regens hat in der vergangenen Zeit stark zugenommen. Dicke Wasserperlen stürzen auf den Grund zu, platzen dort auf und sammeln sich an jeder Stelle, an denen es nicht ordentlich abfließen kann. Dieses Wetter macht mir das vor, was ich seit Jahren verbittert versuche zu vermeiden.
Ein vorbeifahrender Bus spitzt durch seine hohe Geschwindigkeit das Pfützenwasser auf, das sich vor einem Abfluss angesammelt hat. Es kann nirgendwo anders hin. Leidig schaue ich den fliegenden Tropfen entgegen und warte, bis sie mich erreichen.
„Das Universum hasst mich..."
„Rede nicht so einen Stuss. Wir sind alle für dich da", ermahnt sie mich.
„Kann es sein, dass du bei diesem Dreckswetter momentan draußen sitzt? Dass der Regen bei dir so laut ist, kommt mir schon die ganze Zeit so seltsam vor."
Ergebend erzähle ich Juri von den vergangenen Tagen. Ich lasse keine Höhe und keine Tiefe aus. Dieser Tag heute hat zwar am Morgen eine vielversprechende Wendung genommen, trotz des Zwischenfalls am vorherigen Tag. Was danach passiert ist, wissen wir ja.
Das alles hat mich anscheinend mehr mitgenommen, als es mir lieb ist.
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