Kapitel 17

Jungkook

Das Fahrzeug ist noch nicht einmal ordentlich im Angesicht des Anwesens meiner Familie zum Stehen gekommen, da schnellt der Anschnallgurt bereits wie ein Säbel an meiner Kehle vorbei und ich suche hastig und getrieben von einer Angst - meiner Angst - nach dem Türgriff, um mich schnellst möglich in Sicherheit zu bringen.

Was und wo diese Sicherheit sein soll, weiß ich selbst noch nicht so genau. Doch steht das Wort 'Flucht' großgeschrieben vor meinem inneren Auge und lässt mich das Weite suchen. Weg von meinem Nebenan, von dessen zuvor besorgtem Blick, von diesem Auto und dem Stoff auf meinen Augen.

Einfach weg.

Der Schotter unter meinen Schuhen bohrt sich tief in die Sohlen und ich habe das Gefühl, jeden Schritt barfuß zu beschreiten. Auch zieht der Wind durch den Innenhof, als würden wir uns auf hoher See befinden, doch kann
ich jeden einzelnen meiner Schritte so laut vernehmen, dass ich langsam die Vermutung habe, auf lauter kleine Glasstücke zu treten. Es knirscht, klirrt und knarrt. Diese Laute brennen in meinen Ohren und lassen mich unangenehm das Gesicht verziehen. Doch ich kann und darf nicht stehenbleiben.

Zitternd greifen meine Finger an meinen Hals, um den Fetzten Stoff endgültig von meinem Haupt zu entfernen. Der zuvor weich- samtige Stoff fühlt sich auf einmal völlig rau und kratzig an. Die Gedanken neben mir tanzen habend, lasse ich die Augenbinde unachtsam fallen, stur auf die Eingangstür zu stürmend.

Einfach weg.

Ich achte nur auf mich, auf mich und meine wankelmütigen Schritte - andere würden mich bei meiner Flucht bloß behindern.

So trete ich hastig und gehetzt in die Eingangshalle, den Blick starr zu den Treppen herauf gelenkt, in dessen Richtung ich mich mit schweren Schritten bewege. Meine Schuhe ziehe ich nicht einmal aus, meine Jacke lasse ich nicht einmal zu Boden gleiten, um mich von dieser unsagbaren Wärme und Enge zu befreien. Bald habe ich es geschafft, da kann ich mich mit diesen Kleinigkeiten nicht beschäftigen. Ich muss in Sicherheit, so schnell wie möglich.

Aber wo ist diese Sicherheit überhaupt?

Besorgte Blicke Madam Lims streifen mein Antlitz, lassen sie in ihren Bewegungen erstarren und lassen auch mich für einen Moment bremsen. Sorge keimt in ihrer sonst so strengen Miene auf, was ihrem Ruf keinerlei Ehre macht. Gleichgültig entgegne ich ihrem Ausdruck.

Was hat sie denn?

Ihre verzerrte Miene, bestehend aus Mitleid und Furcht, wird mich auch nicht reparieren.

Ich bin kaputt.

Doch dieses ständige Behandeln aller Leute um mich herum, als wäre ich eine Porzellantänzerin, zu zerbrechlich, um den Auftritt zu überstehen.

Armer Jungkook.
Armer Junge.
Armer...

„Yoongi", kommt es beinahe hauchend von meinen Lippen, denn den folgenden Wimpernschlag darauf, wende ich mein Haupt ab, dem Missbehagen in des Haushälterins Ausdruck keine Beachtung schenkend.

Sie wird wissen, was ich mit diesem Namen meine, wer mir in diesem Moment bestimmt helfen kann. Er ist zuvor auch zu jeder Zeit an meiner Seite gewesen, hat mich gestützt, ist das für mich gewesen, was ich nicht mehr konnte.

Ich werde in meinem Zimmer auf ihn warten. Ich werde mich nicht rühren, bis er da ist.
Ich werde jetzt nicht verbogen.

Meine Vorhaben sind gefasst. So erklimme ich die Treppe, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend, mit dem Wissen, dass es alles bald für einen Moment besser werden wird. Yoongi weiß, was zu tun ist. Er weiß es mich zu stützten, er weiß es einfach. Nicht so, wie dieser... Taehyung.

Im Türrahmen der großen Eingangstür ausharrend mustert mich der junge Mann mit den auffällig hellen Haaren. Das Licht der mir so befremdlichen Außenwelt lassen seinen Schopf noch weiter hell strahlen und dieses Bild erinnert mich, an Momente aus Filmen. Dieser Mensch verfügt jedoch nicht über die Erleuchtung. Es weiß gar nichts. Und so wird es auch bleiben.

„Ich benötige ihre Hilfe nicht."

Einen Klos im Hals spürend, trete ich in die Dunkelheit des Flures, geradewegs in Richtung meines Schlafzimmers. Mein Herz pocht verstärkt gegen meinen Brustkorb und ich höre das Blut in meinen Ohren rauschen.

Zuvor ist es doch gar noch so stark gewesen?

Es sind Anzeichen von Angst, Fluchtangst, zu vergleichen mit der eines scheuen Rehs. Sie haftet seit Beginn an mir, wie eine zweite Haut. Doch weshalb kann ich nun nicht mehr rennen? Meine Schritte werden immer schwere und leichte Abriebspuren meiner Schuhe, bleiben auf dem blanken Parkett zurück. Es ist mir kaum noch möglich die Füße zu heben.

„Ich hasse dich..."

Das Beben meiner Unterlippe hindert mich beinahe daran, zu sprechen. Ein so überwältigender Schwall an Wut lässt meinen Körper erzittern. Ich hasse, doch weiß ich nicht einmal wen genau.

„Meine Eltern?", frage ich laut, doch verwerfe diese Gedanken wieder auf der Stelle.

Sie wollen doch nur mein bestes, oder etwa nicht?

Das verwirrt mich alles so sehr.

„Frau Jung?", kommt die Erinnerung an die elegante Psychologin auf, doch tut sie nur ihre Arbeit. Sie tut schon das Rechte.

„Tae ... Nein, das Monster? Nein..."

Verunsichert lange ich mir an die Stirn, mich mit der anderen Hand an der Wand abstützend, um heile am Ende des Flures anzukommen. Es scheint, als würde meine Umgebung zerbrechen, doch das dazugehörige Knacken und Knarren splitternder Dielen fehlt.

„Ich."

Meine Augen fixieren den Namen, der auf der Tür meines alten Kinderzimmers geschrieben steht.

Ist das die Antwort auf alle meine Fragen - bin ich es?, huscht es mir durch die bröckelnde Gedankenwelt und ich betrete nach Betätigen der Türklinke mein Schlafzimmer.

Eine angenehme Wärme kommt mir entgegen und lässt mich ein wenig wohlig aufseufzen. Kurz darauf lasse ich meine Jacke von den Schultern gleiten, befreie mich von den lästigen Schuhen und bewege mich, als wäre auf einmal alles stumm und taub, auf meinen Schreibtisch zu. Dieser Ort ist mir bislang mein liebster Platz, den ich fast immer sofort aufgesucht habe, wenn mein Verstand mit mir einen unfairen und beängstigenden Tanz eingegangen ist.

„Bin ich an alledem Schuld?", spreche ich laut, die Zeichnungen auf der Tischplatte begutachtend. Unzählige Radiergummispäne liegen auf der gesamten Fläche verteilt. Einmal mehr und einmal weniger. Auch Pinsel und Bleistifte sind wild auf dem hellen Holz verteilt. Die angefangene Zeichnung eines Gesichts krallt meine Aufmerksamkeit völlig auf sich. Es ist bedeckt von Schmutz. Die Stirn runzelnd, streiche ich mit dem Handrücken darüber, die Absicht habend, es von dem Dreck zu befreien.

Als ich das Papier jedoch sachte berühre, kommen darauf verzerrte, schwarze Striemen zum Vorschein. Sie ähneln den Abdrücken von vier Krallen.

„Die gleiche Form, wie die Narben auf meiner Haut", flüstere ich, eine bebende Hand zu der Stelle führend, an dem diese Wunde meine Haut ziert. Der zuständige Arzt hat zu Yoongi gemeint, es würden keine sichtbaren Schäden auf meinen Körper zurückbleiben. Eine Lüge, haben wir die Monate darauf festgestellt.
Das Zeichen von diesem Ding - dieser Kreatur - steht auf meinem Rücken. Eine stetige Erinnerung könnte ich in den Spiegel blicken.

„Verschwinde!" Ein Wimmern, mehr ist es nicht. Kein Hilfeschrei, kein Kriegsschrei, kein Brüllen. In einer einzigen Bewegung reiße ich alles auf meinem Schreibtisch befindende zu Boden. So wie mich selbst. Und alles ist taub.
Hart kommen meine Knie auf dem hellbraunen Dielen auf, meine Hände verdecken dabei mein Gesicht und werden von Tränen befeuchtet.

„Warum bis ich so kaputt. Ich wollte nie! Ich will..."

Ich befreie mein Gesicht von meinen Händen, um den salzigen Tropfen mehr Raum zu bieten. So stürzen sie nach und nach dem Boden entgegen und zerplatzen dort zu etlichen weiteren glitzernden Perlchen. Starr blicke ich ihnen nach.

Eine Skizze, ein unvollendetes Bild, wie so viele Weitere, flattert mir durch den leichten Windzug entgegen. Das Fenster scheint einen Spalt breit geöffnet zu sein. Diesmal habe ich der Zeichnung wohl alle Wichtigkeiten des Gesichts geschenkt. Vertraute Augen mustern mich gleichgültig. Das Porträt verfügt über keinerlei Ausdruck. Helle Strähnen zieren das schmale Gesicht und ein kleines Muttermal auf dem rechten Nasenflügel, ist ein markanter Akzent zu der sonst so makellosen Erscheinung.

Sachte streichen meine Finger über die fast vollendete Zeichnung, dabei ignoriere ich die schwarzen Striemen, die meine Fingerspitzen bei der zarten Berührung hinterlassen.

„Verdammtes Drecksteil! Das gibt's doch nicht!"

Erschrocken fährt mein Blick auf Richtung Fenster, von dort aus das laut halse Fluchen zu mir gedrungen ist. Neugierig erhebe ich mich, das Papier auf dem Boden nicht weiter beachtend. Ich trete zögernd näher, die Hände eng um meinen Leib gewunden. Die Vorhänge meines Schlafzimmers sind weitgehend aufgezogen, sodass ich in den augenblicklich leeren Innenhof schauen kann. Nur eine einzige Gestalt tummelt sich dort, wild gestikulierend, da anscheinend etwas nicht so funktioniert, wie es sich die in Leder gehüllte Person vorgestellt hat. Ein gleichfarbiger Helm befindet sich auf ihrem Haupt.

Ich weiß, wer sich darunter befindet. Mein Ausdruck erschlafft und ich mustere das kleine Schauspiel abwartend. Auch mein Atem wird flacher, als wolle ich um jede Möglichkeit verhindern, dass ich entdeckt werde.

Ein Brüllen der zuvor murrenden Maschine lässt mich zusammenfahren. Das Motorrad scheint endlich das getan zu haben, was der in Leder Gehüllte verlangt hat. Zuvor hat er in die Seite des Fahrzeugs getreten, als wolle er ein Pferd zum Galopp antreiben. Erst darauf ist das Ding angesprungen und das Fauchen des Motors hallte durch den gesamten Hof.

„Du schaust aus wie ein Schatten."

Durch geschwärztes und poliertes Glas mustert mich die Gestalt. Hart muss ich schlucken, denn deren Blick fühlt sich an, wie ein Dolch in meiner Brust.

Der steinige Untergrund wird durch das abrupte Starten der durchdrehenden Reifen auf geschleudert. Nach kurzer Zeit ist sogar das Fauchen der Maschine verstummte, denn die Gestalt unter der Lederkluft hat das Weite gesucht, worüber ich im Endeffekt doch etwas Wehmut verspüre. So neige ich den Kopf etwas zur Seite, die Unterlippe zwischen beiden Zahnreihen eingeklemmt, sodass es beinahe schmerzt.

„Entschuldige", hauche ich, als ich eine Hand auf meiner Schulter spüre. Schutz suchend, schmiege ich meine Wange an diese, davon ausgehend, die raue doch auch warme Hand meines alten Freundes Yoongi zu spüren, der unbemerkt mein Zimmer betreten haben muss.

Das auf meiner Schulter ist aber keine Halt spendende Hand. Ihre Oberfläche ist schuppig, beinahe scharfkantig. Erschrocken hebe ich den Blick und erkenne rot funkelnde Auge in der Spiegelung meines Zimmerfensters.

„Schatten."

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