Kapitel 11

Taehyung

Es hilft nichts.

Egal welche noch so hirnrissige oder unrealistische Vermutung ich anstelle, verneinend schüttelt mein munterer Gegenüber seinen Kopf, sodass die kurzen Strähnen seines Schopfes mitschwingen. Es ist wortwörtlich zum Haare Raufen. Genervt, da mir diese ständige Falschantworterei gehörig gegen den Strich geht, lasse ich mich zurück in das weiche Polster der Couch sinken und atmete geschafft aus. Dieses Spiel bringt mich wirklich ins Schwitzen. Wäre ich wirklich ein so hundsmiserabler Detektiv. Mein Talent zum Schlussfolgern scheint wohl so ziemlich, auf der Strecke geblieben zu sein.

„Soll' ich es dir endlich sagen?", spricht Jungkook belustigt und lehnt den Kopf etwas schief. Ein ehrliches Lächeln ziert seine Lippen und zieht sie in die Breite.
„Bin ich wirklich so vom Weg abgekommen? Was hat er denn getan? Mir fällt nichts mehr ein!", beklage ich mich, die Tatsache ausblendend, dass mich der eigentlich sehr zurückhaltende junge Mann per du angesprochen hat.

„Nun ja... wie soll ich sagen?" Er zögert mit dem Verraten der Antwort, liest sie sich lieber noch einmal selber durch und hebt darauf die Braunen. Ich muss wohl wirklich mit all meinen Vermutungen völlig danebenliegen.
Ein tiefes Seufzen verlässt meine Kehle und ich halte dem Braunhaarigen meine offene Hand entgegen. Ich möchte die Antwort mit meinen eigenen Augen sehen, meiner Unfähigkeit endlich ein Ende bereiten.

Zögernd überreicht er mir die Spielkarte.

„Oh...", kommt es nun überrascht von mir. Damit habe ich mal so gar nicht gerechnet.
Ich beiße mir auf die Unterlippe, um mein aufkommendes Lachen zu unterdrücken. Das gelingt mir aber bloß mittelmäßig, denn als ich die Antwort auf der Rückseite der Karte lese, kann ich das Gelächter nicht mehr im Zaum halten. „Die willst mir jetzt wirklich erzählen, dass--" Ich muss eine kurze Pause einlegen, denn mir bleibt die Spucke etwas im Halse hängen. Kein Wunder, dass ich auf diese Antwort nicht gekommen bin.

Dämlich.

„Der Typ hat wirklich versucht, mit einer Gefängnisfreikarte aus dem Knast zu kommen?", verlaute ich ungläubig und lege die Stirn in Falten. Diese Antwort habe ich in 100 Jahren nicht erwartet.

„Wie kommt man auf sowas?", kichere ich, mich langsam wieder fangend, Tränen vor Lachen stehen mir dennoch in den Augen und erschweren mir die Sicht.
Erst als ich die salzige Flüssigkeit mit dem Ärmel meines Hemds wegwische, erkenne ich den erschrockenen Ausdruck meines Gegenübers.

Er ähnelt wieder einem Reh, dass im Scheinwerferlicht eines Autos zum Stehen gekommen ist. Seine Hände befinden sich angespannt zwischen seinem Schoß. Auch scheint er auf seiner bereits wunden Unterlippe nervös zu kauen. Sein Atem geht ganz flach.

Mitleid keimt in mir auf, als ich bemerke, dass ich unbeabsichtigt etwas in ihm ausgelöst haben muss. Vor lauter Kichern und Lachen, habe ich mich recht weit nach hinten gelehnt, sodass ich förmlich wie ein Seestern auf dem weichen Polster liege, teilweise bedeckt von den Kissen auf der Couch. Ruckartig erhebe ich mich wieder, richte mir schnell den verwuschelten Schopf und hoffe innerlich auf das Beste. Jungkooks bemerkenswert tiefbraune Augen verfolgen mich währenddessen, als bestünde ich aus hauchfeinem Glas. Jede Bewegung meinerseits nimmt er wahr, quittiert diese mit einem leichten Zucken. Auch wenn seine fahle Haut unter einigen Lagen Stoff verborgen liegt, erkenne ich an der freien Stelle an seinem Hals, dass ihn eine Gänsehaut überzogen hat.

„Alles in Ordnung?", erkundige ich mich, die Stimme dabei völlig heiser und Schuld schwingt in ihr mit.
Es scheint, als traue er sich nicht einmal auffällig zu atmen, geschweige denn, sich nur einen Hauch zu rühren. Das schlechte Gewissen steigt in unbekannte Höhen, lässt meine Wangen erröten.

„E-Es tut mir wirklich leid...?"

Er benötigt einen Moment, dann blinzelt er, den Kopf sachte schüttelt, um danach kalt in meine verwundert dreinschauenden Augen zu blicken. Ich habe die Vermutung, er wird mich mit diesem gefühlskalten Ausdruck gleich erdolchen, entkomme ich ihm nicht. So reiche ich dem verstört wirkenden Jungen meine Karte und schenke ihm ein warmes Lächeln.

Ein Versuch das Eis zu brechen.

„Wie wäre es, wenn Sie jetzt mal mit dem Raten dran sind?"

Das Eis scheint wirklich zu schwinden, denn der monotone, fast schon Angst einflößende Ausdruck, verschwindet. Zum Vorschein kommt ein gequältes Mundwinkelzucken. Doch Jungkooks Augen wirken wie erloschene Sterne. Mich von diesem alles umfassenden Schleier an Furcht und Schreck nicht beirren lassend, lange ich frohen Mutes nach dem Kartenstapel und reiche sie meinem Gegenüber. Vorsichtig, als würde jede zu flotte Bewegung eine Lawine auslösen, lockert der Braunhaarige seine ineinander verkeilten Hände und deutet auf einer der ihm entgegengehaltenen Karten.

„Diese?" Er nickt als Antwort auf meine Frage. Seinen Ausdruck habe ich dabei stetig im Blick, doch bleibt er ruhig, als wäre nie etwas geschehen. Zufrieden ziehe ich die Karte nun heraus und lege die Anderen beiseite. Erleichtert beginne ich vorzulesen. Jungkook schaut nun etwas abwesend an mir vorbei. So nachdenklich, wie der erfahrenste Mathematiker.

„Sie fragen sich bestimmt, was dieser Aufstand soll..."

Er ergreift das Wort. Seine Stimme klingt so anders.

„Ein erwachsener Mann. Alleine nicht einmal mehr fähig, im Haus umherzuwandern. Lächerlich sowas", spricht er abfällig, seine Augen starr auf den Boden gerichtet. Auch wirkt sein Körper erneut so schrecklich angespannt. Dieser Anblick versetzt meinem Herz einen Stich. Verwunderlich.

Ein junger Mann, der am Anfang eines erfüllten Lebens gestanden hat, ist nun ein Gefangener verschiedenster Ängste und Gedanken. Ich kann und möchte mir nicht das Chaos im inneren Jungkooks vorstellen. Was er erlebt haben muss, was er gesehen und gehört haben muss? Seine Seele muss kauernd in ihm sitzen, als wäre sie Opfer und zugleich Zeuge eines schrecklichen Verbrechens. Sie ist verletzt, angeschlagen und es ist ihr nicht vergönnt, anständig zu heilen. Immer wieder reißen diese Angstzustände neue Wunden in ihre zarte Gestalt. Es muss doch so ermüdend sein.

„Um ehrlich zu sein, nein. Ich wusste, was auf mich zu kommen wird. Mach dir— machen Sie sich darüber keinen Kopf. Ich bin dafür da, Sie zu unterstützen."

Es ist eine Antwort, die der junge Mann verdient, ihm aber nicht viel bringt, denn sie ist nicht wahr. Zögerlich hebt er daraufhin sein Haupt. Die Tränen, die sich in seinen Augen gesammelt haben, lassen mich schlucken.

Wie verloren er sich wohl fühlen muss....?

„Also haben Sie sich damit abgefunden auf ewig mit mir, in diesem Verlies eingesperrt zu sein. Von einfacher Angst an dieses Haus gekettet zu sein? Lächerlich...", haucht er die letzten Worte und wischt sich zittrig die Tränen aus den Augen.

„Wo ist das denn bitte lächerlich?", entgegne ich unvorhergesehen.

„Natürlich hätte ich mir besseres vorstellen... Hören Sie zu, Jungkook. Wir sitzen nun beide in diesem Boot. Haus. In diesem Haus. Jetzt werfen Sie aber nicht gleich die Flinte ins Korn. Ich bin erst seit wenigen Tage an ihrer Seite, weiß noch nicht einmal wo sich das Besteck so wirklich befindet. Geben Sie mir wenigstens die Chance ihnen zu helfen."

Meine Stimmte verfestigt sich gegen Ende meiner Bitte, was den Anderen dazu treibt, sich kerzengerade hinzusetzen. Wie ein ermahntes Kind hockt er da. Wieder verspüre ich Mitleid.

„Sie sprechen gerne in Sprichwörtern, nicht wahr?"

Er entgegnet monoton. Seinen Ausdruck kann ich nicht einmal deuten.

„Möglich."

Ein genervtes Lachen, das eher einem Schnauben gleicht, hänge ich an meine Antwort hinten an. Nun beginnt er unfair zu spielen. Der Anfangs schüchterne und ängstliche junge Mann hat sich innerhalb kürzester Zeit von einer völlig anderen Seite gezeigt. Es ist interessant, aber auch erschreckend zugleich. Ich frage mich, ob die Medikamente damit etwas zu tun haben.

„Mr. Kim. Es wäre jetzt besser, Sie würden gehen."

~•~

Erledigt lasse ich mich in mein geliebtes Bett fallen. Die weichen Laken umschließen mich beinahe augenblicklich. So habe ich mir diesen Tag wahrlich nicht vorgestellt. Genervt rolle ich mich grummelnd auf den Rücken, betrachte die weiße Verkleidung meiner Zimmerdecke. Von weitem höre ich den Regen gegen die Fenster prasseln.

„Sie sprechen gerne in Sprichwörtern, nicht wahr? Mimimi", äffe ich den Braunhaarigen nach, trotz dessen, dass ich mir derartige Kommentare wirklich verkneifen sollte. Doch befinde ich mich schließlich gerade zwischen meinen Kissen und Decken. Hier kann ich mir so etwas erlauben.

„Ich weiß, dass es nicht seine Schuld ist. Es hat alleine 45 Minuten gebraucht, bis dieses Medikament angeschlagen hat. Er hat die ganze Zeit, wie als wäre er auf einem Trip, auf den Teller gestarrt. Gott, der Arme... Ich wünschte ich könnte es rückgängig machen..., oder? Was meinst du?"

Grüne Augen blicken mich fragend an, doch mit mehr als nur einem rauen Schnurren wird mir nicht geantwortet.

„Sie sind eine große Hilfe, Titus. Danke."

Der Kater tritt von der anliegenden Kommode auf mich zu, springt in einem großen Satz auf mein Bett, sodass die aufgeplusterte Decke unter seinem Gewicht etwas eingeht, und macht es sich darauf auf meiner Brust bequem. Der schwarze alte Kater rollt sich zusammen, beginnt leise zu schnurren, als ich ihn sanft kraule, den Blick immer noch in die Luft gerichtet.

„Das hättest du wirklich sehen müssen...", seufze ich, nicht wissend, wohin mit all den Gedanken. Sie schlagen förmlich einen Salto nach dem anderen. Zum Haare Raufen ist das.

Es wird langsam ziemlich spät, sodass nur mein schwächliches Nachtlicht den Raum in ein sanftes Gelb hüllt. Kein Stern ist durch das Dachfenster zu erblicken - haben sie sich wohl alle den dicken Regenwolken ergeben müssen. Selbst der Mond, der die letzten Tage über alles und jeden hellstrahlend gewacht hat, vermag es nicht hinter dem düsteren und Unheil verkündenden Schleier hervorzutreten.
Ironisch, wenn ich so darüber nachdenke. Ich kenne da noch so jemanden, der sich nicht in Hand hält, hinter den Schleiern — wohl eher Vorhängen — hervorzukommen. Wie Rapunzel gefangen in ihrem Turm bewegt er sich auf diesen Paar-Quadratmetern seines Zuhauses, versteckt sich vor der Außenwelt. Im Inneren verlangt es ihm doch sehr wahrscheinlich nach Freiheit, um endliche wieder ungebunden durchs Leben zu gehen. Wie die Stiefmutter Rapunzels Band an ihr hohes Verlies ist, so ist etwas in Jungkooks Kopf das Seine. Er hält ihn, bindet ihn.

„Ich bin gespannt, was morgen alles geschehen wird. Heute scheine ich noch glimpflich davon gekommen zu sein."

Das Prasseln scheint langsam abzuebben, dafür pfeift nun der Wind hurtig über die Dachziegel, lässt einige davon verdächtig klappern. Alle dem schenke ich aber kaum weiter Beachten. Bis auf das zärtliche Streicheln meiner Finger über das so zarte Fell von Titus und dem Grübeln über die neue Arbeit lässt mich alles umgebende kalt.
Jungkooks Worte laufen wie auf einem Tonband immer wieder ab, immer und immer wieder. Sobald ich meine Lider senke, mich die Dunkelheit umschließt, erblicke ich diese tiefbraunen Augen, die mir in dieser kurzen Zeit bereits so einiges offenbart haben.

„Du würdest ihm mögen, Titus. Vielleicht nehm' ich dich eines Tages mal mit."

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