39

Noch immer erwiderte Tikki stumm Marinettes Blick.
Irgendwann, als sie sich schon zu fragen begann, ob ihr Kwami überhaupt etwas zu ihrer langen, ausschweifenden Erklärung sagen würde, erschien ganz langsam ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
Es war ein sanftes, ungetrübtes Lächeln, das unverkennbar von Herzen kam.

»Du bist zu einer beeindruckenden, jungen Frau geworden.«, sagte sie.
»Euer Kind kann sich glücklich schätzen, dich als Mutter zu haben.
Und Paris kann sich glücklich schätzen, dass du darüber wachst.«
Tikki schien sich bewusst zu sein, welche Wirkung ihre Worte hatten – dass nun die Anspannung von Marinette abfiel und sich ein angenehmes, warmes Gefühl in ihrem Bauch ausbreitete – und sie schwieg erneut für einige Sekunden, bevor sie weitersprach.

»Schon damals, als Meister Fu dich zur neuen Hüterin ernannt hat, wusste ich, dass du die Richtige dafür sein würdest.
Es hat Zeit gebraucht und du musstest viel durchmachen, aber du hast gelernt, dass die Welt nicht so einfach ist, wie sie scheint; dass das Leben über bloße Fakten und Risikoanalysen hinausgeht.
Du hast dich darauf eingelassen, nicht alles kontrollieren zu können, und hast deinen eigenen Weg gefunden.
Damit ist nun der Moment gekommen, in dem ich dir erzählen kann, was du schon so lang wissen willst.«
Marinette wusste nicht, wovon sie redete und war dementsprechend überrascht, den folgenden Satz zu hören.

»Deine und Adriens Vorgänger ... Dich interessiert doch bestimmt immer noch, was mit ihnen passiert ist.«
Sobald es in Marinettes Kopf angekommen war, was ihr Kwami gerade gesagt hatte, nickte sie hastig.
Zum Glück verspürte Tikki diesmal nicht das Bedürfnis, eine qualvolle Pause zu lassen.

»Ich habe dir nicht schon früher von ihnen erzählt, weil ich dich nicht in eine bestimmte Richtung beeinflussen wollte.
Du solltest lernen, dir selbst zu vertrauen und eigene Entscheidungen zu treffen.
Deine Vorgängerinnen und du – ihr ähnelt euch an vielen Stellen.
Die Hindernisse, die ihr im Laufe der Zeit überwinden müsst, stimmen zu großen Teilen überein, genauso eure Gegner und Partner; sogar eure persönliche Entwicklung.
Aber am Ende hat mich noch jede einzelne Ladybug überrascht.
Oft schienen die Unterschiede nur im Detail zu liegen, trotzdem war kein Weg wie der andere.

Das ist eine der Sachen, die mich an den Menschen immer besonders fasziniert hat. Wie unvorhersehbar und komplex ihr Leben ist!
Scheinbar unbedeutende, kleine Entscheidungen können ihm eine leicht veränderte Richtung geben und Wochen, Monate oder sogar erst Jahre später gravierenden Einfluss auf den letztendlichen Lebensweg haben.

Lange Zeit habe ich versucht, die Muster zu erkennen. Gewissermaßen die »Regeln« des Lebens zu verstehen.
Ich wollte den Trägerinnen meines Miraculous so gut helfen, wie ich konnte; immer den perfekten Ratschlag, die perfekte Lösung für ihre Fragen und Probleme zur Hand haben.«
An dieser Stelle lächelte Tikki in sich hinein und Marinette hatte den Eindruck, dass sie über ihr früheres Ich lächelte; ihr früheres Ich, das sich anscheinend in einigen grundlegenden Dingen von ihrem jetzigen unterschied.

»Wie du ja schon oft am eigenen Leib erfahren hast,«, fuhr Tikki fort, »denke ich mittlerweile anders darüber.
Ich könnte dir jetzt lang und breit erzählen, welche konkreten Erfahrungen mir gezeigt haben, wo meine Aufgabe als Kwami in Wahrheit liegt. Ich könnte dir von den Fehlern erzählen, die ich gemacht habe.
Aber du würdest bestimmt viel lieber etwas vom Leben deiner Vorgängerinnen hören als von meinem.«
Marinette senkte den Blick, denn Tikki hatte recht. Sie konnte es in der Tat kaum erwarten, dass ihre kleine Freundin mit ihren Ausführungen zum interessanten Teil kam.

»Dass du und Cat Noir nicht das erste Miraculous-Träger-Paar seid, weißt du ja bereits. Aber was ich dir noch nicht gesagt habe, ist, dass eure Vorgänger sich - wie ihr - geliebt haben. Und zwar sie alle.
Bei manchen hat es länger gedauert als bei anderen, aber es gab keine einzige Partnerschaft, die nicht irgendwann zu Liebe geworden ist.«
Obwohl Tikki mit ihren Worten sehr eindeutig gewesen war, hätte Marinette sie beinahe unterbrochen und nachgefragt: »Wirklich alle
Sie hatte sich bereits viele Gedanken zu dem Thema gemacht, trotzdem fiel es ihr schwer, diesen neuen Fakt in das Bild ihrer Vorgänger einzufügen.
Tikki fuhr fort.

»Im Großteil der Fälle war die Liebe von der gleichen Art, wie bei Cat Noir und dir, und viele eurer Vorgänger hatten gemeinsame Kinder.
Einige wenige haben auch als sehr enge Freunde zusammen gelebt.
Aber immer haben sie sich vollständig aufeinander eingelassen. Es gab niemanden, der sein Leben mit jemand anderem geteilt hat, als dem Heldenpartner.«
Erst jetzt gab Tikki Marinette die Möglichkeit, die Worte zu verarbeiten, indem sie für einen Moment verstummte.
Dann legte sie den Kopf auf die Seite und meinte: »Du verstehst, warum ich dir das nicht schon früher sagen konnte, oder?«
Marinette nickte langsam.
Sie konnte sich nicht vorstellen, wie ihr jüngeres Ich auf so eine Enthüllung reagiert hätte, aber mit Sicherheit hätte es ihr Verhalten stark beeinflusst. Vermutlich in eine ungute Richtung.

Selbst jetzt noch – jetzt, wo sie Cat Noir aus ganzem Herzen liebte, seine wahre Identität kannte, ein Kind mit ihm erwartete und nach ihrem Schulabschluss mit ihm zusammenziehen würde – hörte der Gedanke sich seltsam in ihrem Kopf an.
»Es war also schon immer klar, dass Cat Noir der Einzige für mich ist.«

Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr war Marinette überfordert von der ganzen Thematik.
Bisher war da immer das Gefühl gewesen, dass sie ganz allein mit ihren Problemen war; dass ihre Lebensumstände zu außergewöhnlich waren, um von irgendjemandem wirklich verstanden werden zu können.
Nun hatte sie zum ersten Mal gehört, dass ihre Vorgängerinnen nicht nur die Ohrringe mit ihr geteilt hatten, sondern genauso die Liebe zu ihrem Superheldenpartner inklusive aller Probleme, die sich aus dieser Liebe ergaben.
Und diese Verbundenheit mit der Vergangenheit fühlte sich toll an.
Gleichzeitig jedoch warf es auch jede Menge neuer Fragen auf; Fragen über Vorherbestimmung und Schicksal, über die Macht der Miraculous und der Kwamis, über Freiheit und Verantwortung – sogar über das Wesen der Liebe an sich.

Marinette wusste, dass sie heute Nacht keine Antworten auf diese Fragen bekommen würde - dass sie sie womöglich sogar niemals bekommen würde.
Doch sonderbarerweise störte sie sich nicht daran. Es fiel ihr überraschend leicht, die Gedanken hinter sich zu lassen und mit all ihren Sinnen in das nächtliche Zimmer zurückzukehren.
Und sobald sie ihre Umgebung wieder bewusst wahrnahm, wurde ihr der Grund dafür klar: Ihr Blick lag auf Adrien.
Sein Anblick machte sie so ruhig. Er gab ihr dieses Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, das alle anderen Gefühle überstrahlte.

Marinette wandte den Kopf und sah erneut auf ihr Kwami hinab.
Mittlerweile spürte sie deutlicher, dass es mitten in der Nacht war und sie eigentlich schlafen sollte. Kurz huschte der Gedanke an die anstehende Schulwoche durch ihren Kopf, und an ihren Wecker, der sie und Adrien in schon viel zu wenigen Stunden aufwecken würde.
Trotzdem konnte Marinette sich eine allerletzte Frage an Tikki nicht verkneifen.

»Vielleicht kannst du mir irgendwann noch etwas mehr von unseren Vorgängern erzählen.«, meinte sie, »Und von deiner Vorgeschichte würde ich natürlich auch gern noch mehr hören.« Sie lächelte ihr Kwami an – ihre Bewegungen träge und ihre Augen schon halb geschlossen vor Müdigkeit. »Aber bevor du gehst: Verrätst du mir wenigstens noch, ob unsere Vorgänger miteinander glücklich geworden sind?
Hatten sie ein langes gemeinsames Leben?«

Tikki seufzte leise auf. »Kaum gibt man ihr den kleinen Finger, will sie die ganze Hand!«
Jedoch erwiderte sie dabei Marinettes Lächeln.
»Ich spare mir jetzt mal die Erklärung und schiebe es auf die Uhrzeit, dass du geglaubt hast, ich würde dir darauf tatsächlich antworten.«

Wenn Marinette nicht so müde gewesen wäre, hätte sie sich selbst nun verteidigt.
Tikki hatte doch angeboten, von ihren Vorgängern zu erzählen! Und sie hatte gemeint, dass Marinette nun bereit für die Wahrheit war.
Doch sie sparte sich die Mühe und murmelte stattdessen nur ein knappes: »Den Versuch war es wert.«

Tikki fügte noch hinzu: »Wenn du wissen willst, wie dein Leben mit Adrien aussieht, musst du es selbst leben.
An dieser Tatsache hat sich nach heute Nacht nichts geändert und daran wird sich auch niemals etwas ändern – so viel zumindest kann ich dir über die Zukunft verraten.«

Marinette gähnte und rieb sich mit der Hand über die Augen.
»Ich will dich nicht rausschmeißen,«, sagte sie mit schwerer Zunge, »aber ich muss jetzt wirklich schlafen, sonst nicke ich morgen im Chemieunterricht ein.«
»Dann gehe ich jetzt mal lieber.«
Unter ihren halb gesenkten Liedern hervor konnte Marinette das verschmitzte Lächeln auf Tikkis Gesicht erkennen.
»Für einen Unfall im Chemieunterricht will ich nun wirklich nicht verantwortlich sein.
Kann sein, dass ich dich mal in den Unterschenkel zwicke, um auf Nummer sicher zu gehen, dass du nicht einschläfst.«
»Tu das.«

Marinette strich ihrem Kwami liebevoll über den Kopf und genoss es, wie vertraut und warm sich Tikki in ihre Handfläche schmiegte.
»Schlaf gut.«
»Du auch, Marinette.«

Sie wollte sich schon hinlegen, als ihr auffiel, dass Tikki sie noch immer ansah und reglos einen Meter über dem Bett in der Luft schwebte.
Bevor Marinette nachfragen konnte, ergriff ihr Kwami ein letztes Mal das Wort.

»Eine Sache gibt es da noch, die ich dir verraten kann. Etwas, dass euch beiden hoffentlich Mut macht:«
Trotz der Müdigkeit spürte Marinette, wie sich ihre Ohren spitzten, um ja nichts zu verpassen.
»Bei all euren Vorgänger hatte das Zueinanderfinden nicht nur Einfluss auf ihre eigenen Leben. Es hat auch die Welt um sie herum verändert; manchmal sogar ohne klar erkennbaren Zusammenhang.

Ich weiß nicht, wie es bei euch beiden sein wird, und ich will sicher keine Vorhersage für die Zukunft treffen.
Aber eine besiegelte Verbindung zwischen Ladybug und Cat Noir hat bisher immer dazu geführt, dass ein ganz neues Kapitel in der Geschichte aufgeschlagen wurde.
Es wird Veränderungen geben. Unerwartete, große Veränderungen womöglich.
Doch das ist etwas Gutes.
Denk daran, wenn du es bemerkst, ja?«
Marinette kam gar nicht dazu, zu nicken, denn da war Tikki schon davongeschwebt und durch die Wand in die Nacht verschwunden.

»Sie weiß wirklich, wie man einen eindrucksvollen Abgang hinlegt.«, dachte Marinette, während sie zurück unter die Decke kroch und sich neben Adrien auf das Kissen sinken ließ.
Sie lag noch nicht richtig, als Adrien neben ihr sich schon auf die Seite drehte und seinen Arm um sie legte.
Endlich ließ sie zu, dass ihre Augen zufielen.
Adriens Geruch, die Wärme seines Körpers und die Bequemlichkeit des Bettes: Marinette war versucht, ein genüssliches Seufzen auszustoßen, und in ihr erwachte der Wunsch nach einer ganzen Woche in diesem Bett.

Sie lauschte auf Adriens Atem, der sie mit seiner Gleichmäßigkeit sanft in den Schlaf wiegen sollte. Doch seit sie sich zu ihm gelegt hatte, klang seine Atmung anders als zuvor.
In dem Moment, als es ihr bewusst auffiel, hörte sie auch schon seine leise, verschlafene Stimme.
»Alles in Ordnung?«
Marinette musste schmunzeln.
Er hatte ein langes, geflüstertes Gespräch zwischen ihr und Tikki komplett verschlafen und wachte ausgerechnet in der Sekunde auf, in der sie sich wieder zum Schlafen hinlegte.
»Ja, alles gut.«, antwortete sie, »Schlaf weiter.«
Er erwidert nichts und zog sie stattdessen nur ein Stück näher an sich heran.

Kurz darauf, als ihr Kopf eine perfekte Kuhle unter seinem Kinn gefunden hatte und seine Körperwärme längst dabei war, bis tief in ihr Innerstes vorzudringen, bekam Marinette noch einmal seine Stimme zu hören.
»Träum was Schönes.«, murmelte er ihr ins Haar.
Sie reagierte mit einem Laut, der irgendwo zwischen Brummen und Schnurren lag.
In Gedanken jedoch antwortete sie ihm: »Nicht nötig. Kein Traum kann so schön sein, wie neben dir einzuschlafen und wieder aufzuwachen.«

Als hätte er den Gedanken gehört und würde ihn erwidern, fuhr Adrien mit seiner Hand unter ihr Schlafshirt und streichelte über ihren Bauch.
Marinette legte ihre Hand auf seine.
Als ihre Finger sich ineinanderschoben, spürte sie seinen Cat-Noir-Ring.
Und sie lächelte.

So, ihr Lieben.
Das wars.

Naja, zumindest fast.
Dieses Kapitel schließt die Geschichte ab, aber ihr bekommt noch einen Epilog, bei dem ihr einen kleinen Blick in die Zukunft erhaschen könnt.

Trotzdem will ich an dieser Stelle schon mal von ganzem Herzen DANKE sagen!
Danke, dass ihr mich bei diesem Abenteuer begleitet habt (vor allem auch in den letzten Wochen, in denen es nur so langsam voranging).

Ich hoffe, dass euch das Ende zufriedenstellt und ihr jetzt freudig und mit einem guten Gefühl zum nächsten Buch oder nächsten Projekt weitergehen könnt (so, wie ich).

Apropos: Falls ihr nicht verpassen wollt, was ich in Zukunft hier so hochlade, würde ich mich sehr über einen Follow freuen (Was ihr erwarten dürft? Das erfahrt ihr schon bald über mein Nachrichtenbrett. :) )

Zum Schluss hätte ich noch eine Bitte: Wenn ihr diese Geschichte weiterempfehlen würdet, nehmt euch bitte die Minute Zeit dafür (und macht mir damit eine große Freude).
Schon das Hinzufügen des ersten Teils der Fanfiction zu einem Bücherregal auf eurem Profil ist eine Hilfe.
(Falls euch die nötige Motivation fehlt, könnt ihr daran denken, wie ich hier vor meinem digitalen 245.000-Wörter-Werk sitze und mich frage, ob ich die Zeit gut investiert habe :D)
Vielen Dank!

Bis hoffentlich ganz, ganz bald,

Eure LapislazuLilly

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